Gutes
Karel Polácek: Die Bezirksstadt., Reclam, gebunden, mit Lesebändchen, 384 Seiten, 24 €
Eine kleine Stadt in Böhmen, es passiert nicht viel. Es ist kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die Moderne mit Autos, Kinos und Licht ist schon im Anmarsch, aber in der Bezirksstadt ist noch alles wie früher – bis der junge Kaufmannssohn aus der großen Stadt zurück kommt, seinen silbernen Spazierstock beim Flanieren herumwirbelt und bis der Thronfolger in Sarajewo ermordet wird…
Erstmals auf deutsch 1956 erschienen, liegt dieser wunderbare Roman nun in neuer Übersetzung vor: das alte Böhmen, die kleinen Leute, die große Weltgeschichte – all das läßt Polácek mit leichter Hand, aber viel Herz geschrieben vor seinen Lesern wieder auferstehen!
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Wahres
Brunnbauer, Ulf/Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Reclam, gebunden, 511 Seiten, 7 Karten
Man kann Europa nicht ohne Südosteuropa begreifen, zu viele Dramen der Geschichte spielten sich dort ab oder nahmen dort Anfang. Doch was macht diese Länder und Regionen so besonders, worin liegen die Unterschiede, worin die Gemeinsamkeiten? Die zwei Autoren gehen diesen Fragen nach, beginnend mit der Rezeption dieser wechselvollen Regionen im westlichen Europa. Das Hauptaugenmerk legen die Herren auf dem 19. und 20. Jahrhundert und seine Verwicklungen, doch wird die Vorgeschichte, werden die sprachlichen und kulturellen Zusammenhänge genauso kenntnisreich und eingängig beschrieben. Ergänzt um 7 Karten ist dieses Buch ein hervorragendes Einführungswerk, über die EU-Lobgesänge im Nachwort sollte man jedoch gnädig hinwegsehen, und lieber die nächste Reise planen, um diese hochinteressanten, zum Teil noch unverfälschten Regionen und Menschen selbst kennenzulernen!
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Schönes:
Robert Macfarlane: Die verlorenen Wörter. Illustriert von Jackie Morris, Matthes&Seitz, 134 Seiten, 100 Abbildungen, 38 €
Die Idee zu diesem Buch kam dem britischen Autor Robert Macfarlane, als er feststellte, das aus dem Oxford Junior Dictionary, dem maßgeblichen Wörterbuch für Kinder, Naturbegriffe gestrichen wurden, um Platz für »modernere« Wörter zu schaffen, wie Chatroom, oder blog oder reality star… Und so setzte er mit diesem wunderschönen Bilderbuch Begriffen wie Kastanie, Löwenzahn und Reiher ein literarisches Denkmal: In kunstvollen, an Ringelnatz erinnernde Gedichte beschwört er geradezu die verlorenen Wörter, in Szene gesetzt werden diese durch prächtige, detailverliebte Illustrationen – nicht nur für Kinder ein Buch zum Schwelgen, Sich-Verlieren und Wieder-Finden!
Maiordomus
Reclam ist noch immer zu den qualitativ besten deutschen Verlagen zu rechnen, meist prima Textqualität, selbst wenn es dort Professoren gibt, die blödsinnigerweise von "nichtfaschistischer" deutscher Literatur glauben faseln zu müssen. Zum Beispiel einer, welcher neuerdings der AfD die "Sprache von Gangstern" attestierte.
Auch die Geschichte Südosteuropas, die man zwar als quasi Kurzfassung im ersten Band der Autobiographie von Elias Canetti, "Die gerettete Zunge", meisterhaft präsentiert bekommt, müsste uns weit besser bekannt sein.
Zu den angeblich verlorenen Wörtern:
Kastanie, Reiher und Löwenzahn sind als angeblich aussterbende Wörter wohl kaum im Vordergrund, hat sich etwa der Graureiher gut erhalten, selbst noch der Silberreiher als Wintergast, und Kastanie wird sogar als Joghurt angeboten, beim Löwenzahn sind eher alternative Bezeichnungen wie "Säublume" und dergleichen gefährdet. Der Bereich der aussterbenden Worte hat wohl eher mit der zum Teil kritischen Situation der Regionalmundarten zu tun. Relativ dramatisch scheint mir der Sprachschwund im Bereich der katholischen Sakramentalien sowie bei guten alten deutschen Ausdrücken, den Sexualbereich betreffend, die vielleicht gerade dem Volkskundler noch bekannt sind. Wer weiss denn schon noch, dass "Kundsami" oder "Kundsame" ein gutes altes treffendes und vornehmes Wort für sexuelle Gemeinschaft ist, noch analog zur Antwort der Muttergottes an den Engel, wie es denn geschehen könne mit ihrer Schwangerschaft, "da ich keinen Mann erkenne".