Versuchen Sie im neuen Jahr einmal Verständnis für unseren politischen Gegner aufzubringen. Wenn ich „Verständnis“ sage, dann meine ich damit nicht die Art von Verständnis, die ein deutscher Strafgerichtshof heute für Raubüberfall Nummer 7 hat, sondern wirkliches Verstehen.
Keine Sorge, ich verlange von niemandem, daß ihm die Empathie zu den Ohren rauskommt. Was ich mir wünsche, das ist intellektuelle Ehrlichkeit. Wenn Sie Angst haben, dadurch liberal zu werden und auf irgendeinem mittigen Kompromiß herauszukommen, dann kann ich Sie beruhigen. Den Gegner verstehen ist die illiberalste Tätigkeit von allen.
Der Liberale glaubt ja, daß alle Gegensätze entweder auf unterschiedlichen Meinungen oder unterschiedlichen Interessen basieren. Im ersten Falle könne man die Dinge so oder so oder auch gar nicht sehen und geht sich am besten aus dem Weg, damit man sich nicht gegenseitig in der Ausübung seiner Freiheitsrechte störe. Im Falle unterschiedlicher Interessen schließe man einen Kompromiß, womit der Interessengegensatz wohl beigelegt wäre.
Mich hat es immer, im ursprünglichen Sinne dieses Wortes, radikaler gemacht, den Gegner zu verstehen. Sie werden dabei feststellen, daß es nicht um Meinungen oder Interessen im liberalen Sinne geht und auch nicht um Mißverständnisse. Der andere ist nicht blöd und auch nicht wirklich böse: Die Auseinandersetzungen unserer Zeit sind vielmehr Ausdruck echter Probleme.
Lesen Sie einmal ernsthaft den Gegner. Ich meine damit nicht irgendeinen Vordenker, wie Adorno oder Habermas, den man mal liest, um die Philosophie des Gegners auseinanderzudröseln. Aber auch nicht die Tagespropaganda vom Spiegelpreisträger für phantastische Literatur, die einen selbst im besten Falle nur über die Unterschiede darin belehrt, was auf den jeweiligen Seiten als mitleiderregend oder skandalös empfunden wird.
Am besten sind die Texte, in denen Verantwortungsträger der Gegenseite Pläne entwerfen oder Rechenschaft ablegen. Ich las jüngst die de facto Bewerbungsrede für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission des Niederländers Frans „diversity is humanity’s destiny“ Timmermans.
Der Redetext ist, was nicht anders zu erwarten war und kein Vorwurf sein kann, keine wissenschaftliche Studie zum Stand der Union. Aber gerade deswegen gibt er besonders gut wieder, wie ein hochrangiger EU-Funktionär in seinem alltäglichen Denken die Welt sieht.
Voice of Europe hat diese Rede damit zusammengefaßt, daß Timmermans konservativen Regierungen gedroht habe, sowie Europa und Afrika zu einem gemeinsamen Kontinent zu manchen gedenke. Das erste stimmt, ist jedoch angesichts der gegenseitigen Animositäten nicht weiter verwunderlich. Ob Timmermans Hoffnung, Polen und Ungarn würden ihre Regierungen stürzen, in Erfüllung gehen wird, weil sie in der Europäischen Union sich selbst und ihre Werte erkennen, ist eine andere Frage.
Etwas anders sieht es mit dem zweiten Vorwurf aus. Voice of Europe schreibt:
„He argues that “it is fated” that Africa is incorporated into Europe and that the two become one large continent in terms of free movement.“
„It is fated“ steht nirgendwo in Timmermans Text. Ich rate jedem darauf zu verzichten, VoE als Quelle heranzuziehen, man könnte sich genauso lächerlich machen, wie der Spiegel mit einem gewissen Herrn Relotius.
Timmermans sagte:
„Also wessen Schicksal wird von wem bestimmt werden: Europas Schicksal von Afrikanern, Afrikas Schicksal von Europäern. Wir sind in einem Boot. Unsere Schicksale sind verbunden.
Und der einzige Weg, auf dem wir die Migrationsthematik in den Griff bekommen und steuerbar machen können, ohne unsere Werte zu verlieren ist, indem wir Teil der nachhaltigen Entwicklung Afrikas, in jeder Bedeutung dieses Wortes werden.
[…]
Denn die Alternativen sind sehr einfach. Falls wir diese Verantwortung nicht schultern, dann wird sich der Prozeß der Entmenschlichung von Flüchtlingen und Migranten fortsetzen. Und das Interesse an ertrinkenden Menschen im Mittelmeer wird weiter sinken. Und dann werden wir unsere Werte verlieren.“
Im Kopf Frans Timmermans stellt sich dieses Problem also wie folgt: Weil Afrika unterentwickelt ist, strömen die Afrikaner entweder berechtigter- oder zumindest verständlicherweise nach Europa. Wenn Europa diesen Menschenstrom begrenzen will, dann hat es die Pflicht, Afrika bei seiner „nachhaltigen Entwicklung“ beizustehen.
(Der Ausdruck „sustainable development“ stammt aus dem Jargon entwicklungspolitischer UNO-Beschlüsse, vor allem der „2030 Agenda for Sustainable Development“, vom 25. September 2015, die auch in der Vorgeschichte des Migrationspaktes eine wichtige Rolle spielte.)
Die Gefahr bestünde darin, daß bei ausbleibender Entwicklung Afrikas, wenn also Europa seine schicksalhafte Verbindung mit dem schwarzen Kontinent nicht richtig erkenne, der Migrationsdruck bestehen bleibe und dann, so Timmermans, werden die Europäer keine humanitären Gefühle mehr für diese Migranten aufbringen. Damit verlöre Europa seine Werte, die Timmermans zuallererst in der universellen Humanität erblickt: „There is only one race, the human race.“ Er gebraucht diese alte Phrase tatsächlich.
Doch will Timmermans nicht genau dasselbe wie wir? Haben wir nicht jahrelang „Hilfe vor Ort“ gefordert?
Der Abgrund, der uns von Timmermans trennt, ist, daß er bereit ist, Europa auf dem Scheiterhaufen des afrikanischen Zivilisationsversagens zu opfern. Timmermans ist nicht blind gegenüber den Problemen ungebremster Masseneinwanderung. Selbst wenn er die identitäre Frage nicht begreift, dann erkennt er Einwanderung zumindest als Stabilitätsproblem. Aber eine Konsequenz ist er nicht bereit zu ziehen: Afrika in eigener Verantwortung zu belassen und die Grenzen zu schließen. Denn damit wäre die „einzige, die menschliche Rasse“ unübersehbar geteilt.
Nun weiß jeder Migrationsforscher, daß Timmermans Rechnung niemals aufgehen kann. Denn nicht die Ärmsten wandern in den Norden ab, sondern diejenigen, die es sich leisten können. Deshalb ist das Gerede von der nachhaltigen Entwicklung Afrikas so falsch.
Wir können Afrika nicht zu Europa machen. Was wir gerade so können, ist die Zahl der Perspektivlosen, aber Wanderungsfähigen zu erhöhen. Diese schicken dann Rücküberweisungen in ihre Heimatländer und halten damit die dortige Situation mit Ach und Krach über Wasser. Das ist die nachhaltige Entwicklung Afrikas.
Rolf-Peter Sieferle ging so weit zu sagen, daß die Unterscheidung zwischen Bürgerkriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten nur an der Oberfläche aufrecht zu erhalten ist. Denn die perspektivlose Jugend der Dritten Welt hat nur zwei Möglichkeiten: entweder in den Westen abzuwandern, oder in einem Akt der Verzweiflung gegen ihre Regierungen zu rebellieren und damit ihre Länder in den Bürgerkrieg zu stürzen.
Daß auf den Sturz des korrupten Regimes Nr. 35 möglicherweise etwas folgt, das ein bißchen besser ist, aber keine Lösung der grundsätzlichen Probleme Afrikas, hat das halbe Jahrhundert seit der Entkolonialisierung hinreichend bewiesen. Rebellion und Bürgerkrieg haben in Afrika noch nie zu einem Tyrannensturz geführt, in dessen Folge das Land aufblühte. Afrika ist nicht Osteuropa unter dem Eisernen Vorhang. Alles, was geschehen wird, ist, daß der Kreislauf von vorne beginnt und neue Migranten sich auf den Weg nach Europa machen.
Deshalb reicht es nicht, die Art und Weise, etwa der Entwicklungspolitik zu kritisieren, auch wenn dort manche Fehler gemacht werden. Es reicht aber auch nicht, sein Land gerne behalten zu wollen. Wir müssen jene noch wenig hinterfragte Grundhaltung unserer Zeit sprengen, in der der weiße Westen der Letztverantwortliche für Gedeih oder Verderb fremder Erdteile ist und deren Versagen irgendwie geradezurücken hat, weil wir sonst unsere Werte verrieten.
Wir sind gerne Partner, wo immer auf dieser Welt etwas geschaffen wird, das einer Partnerschaft wert ist. Aber wir sind keine Melkkuh, erst recht keine, die geschlachtet werden darf, sobald ihre Milch nicht mehr ausreicht, die immer zahlreicheren Mägen zu füllen.
Sich ernsthaft mit dem politischen Gegner zu befassen lehrt uns, daß dort nicht nur diejenigen sind, die Europa aus Haß oder Verblendung vernichten wollen. Diese Leute gibt es, kein Zweifel, aber sie sitzen weit häufiger in den Redaktionen und auf den Lehrstühlen, als auf den Regierungssesseln. Für letztere sind die meisten dieser Wirrköpfe zu dysfunktional.
Mindestens ebenso verbreitet ist aber der Typus, als der Timmermans sich in seiner Rede vorführt. Durchaus begabte Regierungstechniker mit dem Allerweltsgewissen unserer Zeit. Nicht verantwortungslos, aber widerstrebend zu tun, wovon sie eigentlich wissen, daß es getan werden muß: normale Politiker. Ich meine das nicht verächtlich und hege wenig Groll gegen diese Menschen. Daß sie so gefährlich werden konnten, liegt an unserer Zeit, die so viele alte Gewißheiten durcheinander wirbelt und an der sie mit ihren konventionellen Rezepten scheitern.
An ihnen lernen wir vor allem, was wir mehr sein müssen als sie. Und wie viel dazu gehört.
numerusclausus
Im Relotius-Fiktions-Medium erschien jüngst eine jener eindrücklichen Mitleidsreportagen über Flüchtlinge (natürlich nicht mehr von Relotius).
Die Story: junger, männlicher Flüchtling bester Gesundheit kehrt freiwillig aus Deutschland nach Gambia zurück. Ein deutsches Ehepaar, besucht ihren ehemaligen Schützling (was für ein unpassendes Wort) vor Ort und begleitet ihn einige Tage...
Sie werden Zeuge, wie der arme Afrikaner seine Wiedereingliederungshilfe (600 Euro) mit Nachdruck von einer zuständigen offiziellen Stelle einfordern muss (wie traurig), diese steht ihm schließlich zu und er baut sich damit gerade seine eigene Farm auf (oh wie schön).
Blöd nur, dass das Geld dann für eine angemessene Hochzeit mit der schönen, aber untüchtigen zukünftigen Ehefrau nicht mehr reicht (echt blöd). Vorwurfsvoll, aber nicht böse (Gott sei dank!) lässt er seine Sponsoren (so werden die deutschen Privatleute von Einheimischen tatsächlich genannt) von seinem existenziellen Problem wissen (Oje!).
Die zahlen schließlich 500 Euro aus eigener Tasche und der üppigen Hochzeit steht nichts mehr im Wege (alles wird gut).
Ist das noch Entwicklungshilfe? Kann man das nur als "melken" bezeichnen? Geldtransfer ohne Gegenleistung? Die Gegenleistung bestand darin, aus Deutschland wieder zu verschwinden, bzw. sich abschieben zu lassen und dafür auch noch bezahlt zu werden (wie zynisch).
Der humanistische Ansatz der privaten Geldspende dagegen ist ja süß und durchaus reizvoll, aber einem wildfremdem, weit entfernten Afrikaner eine Existenzgrundlage und das nötige Startkapital schenken? Einfach so?
Warum nicht einem Obdachlosen in Hamburg oder einer vernachlässigten Kita im eigenen Landkreis einen solchen Geldbetrag zukommen lassen? Steigt das eigene Selbstwertgefühl eigentlich proportional mit zunehmender Wohnentfernung des Nutznießers?
Eine Europäisch-afrikanische Union hätte zumindest den Vorteil gehabt, dass der fleißige Afrikaner sich sein bedingungsloses Grundeinkommen direkt vor Ort von der EU auszahlen lassen kann und er weder sich noch andere auf seiner Reise nach Europa oder seiner Odyssee durch Deutschland gefährden kann.
Bliebe noch die Frage, wer das alles womit bezahlen soll.
Die Regierenden in Brüssel? Mit Diamanten?