Ich hatte mich auf zähe zwei Stunden gefaßt gemacht, war doch angesichts von Schmidt-Rahmers bisherigen Arbeiten zu erwarten, daß es sich um eine saftig “dekonstruktivistische” Bearbeitung der Vorlage handeln würde. Dies war in der Tat der Fall, allerdings fiel das Ergebnis zumindest nicht langweilig, mitunter geradezu fesselnd aus.
Abgesehen von ein paar Einsprengseln und Veränderungen, war der Text etwa zu 95% direkt von Jean Raspail übernommen, wobei sich Schmidt-Rahmer und seine Mitarbeiterin Marion Tiedkte reichlich bei meiner Übersetzung bedient haben. Als Übersetzer, der das Buch bis in den kleinsten Winkel kennt, war es reizvoll zu sehen, wie die einzelnen Passagen montiert und arrangiert wurden. Erzählende Abschnitte, die sich auch kaum auf der Bühne darstellen lassen, wurden in den Mund der Figuren gelegt.
In der anschließenden Publikumsdiskussion erwies sich, daß kaum einer der Besucher den Roman gelesen hatte, und selbst aus unserer Besuchertruppe – Kubitschek und Kositza waren ebenfalls anwesend – hatten etliche Schwierigkeiten, der Handlung zu folgen oder die einzelnen Figuren zu unterscheiden. Sechs Hauptdarsteller, vier Männer und zwei Frauen (die zwischendurch reichlich Fleisch zeigten), übernahmen im fließenden Übergang verschiedene Rollen, deren Namen und Funktion nicht immer ganz klar waren. Auch das Programmheft bietet diesbezüglich keinerlei Orientierungshilfe.
Als Zuschauer bin ich hier befangen und kann mir schwer vorstellen, wie die durch den Fleischwolf der Regie gedrehten Versatzstücke des Romanes auf ein Publikum wirken, das ihnen zum ersten Mal begegnet und das Mühe hat, sie einzuordnen. Durch ihre Entkoppelung von einer klar identifizierbaren Handlung und klar identifizierbaren Charakteren geht eine Menge an Bedeutung und dramatischer Zuspitzung verloren. Was bleibt, sind herumfliegende Sätze und Textbrocken, die wohl etliche Besucher geschockt und verstört haben.
Das Bühnenbild zeigte das in Kerzenlicht getauchte Eßzimmer des alten Professors Calguès, der in seinem 1673 erbauten Haus die Landung der “Armada der letzten Chance” per Fernrohr und Radioübertragung verfolgt, und der sich noch einmal, ehe das Abendland untergeht, ein üppiges, gegen hypermoralische Schuldgefühle immunes Abschiedsmahl gönnt. Hinter dem antiken Kamin war eine Leinwand installiert, auf der blutrote Meereswellen rauschten.
Das Zimmer wird in der Folge zu einer Art geschlossenen Anstalt, in der die Schauspieler in Stummfilmschminke den Text Raspails in ein zunehmend regressives Psychodrama und einen makabren Fiebertraum verwandeln. Schmidt-Rahmer hat das Personenensemble des Romans auf einige “rechte” Charaktere (etwa Calguès, Machefer, Dragasès) heruntergedampft, wodurch die Zielscheiben von Raspails Satire weitgehend entfallen: die Journalisten, Politiker, Medienmacher, Entertainer, Kirchenmänner, Linksradikalen, Utopisten, “Gutmenschen” (bien-pensants) und so weiter, die der Autor als heuchlerisch, verblendet, eitel, naiv, wahnhaft oder ressentimentgeladen zeichnet.
Selbst wenn diese Figuren auftauchen, wie etwa “der Zorro des Mikrophons” Albert Durfort oder der Baader- oder Guevara-Verschnitt “Panama-Ranger”, dann in indirekter, gespenstischer Form, als wären sie der Phantasie der bleichen Reaktionäre entsprungen. Der linke, gemischtrassige Journalist Clément Dio, der im Roman eine zentrale und destruktive Rolle spielt, wird nur am Rande erwähnt, als “Lügenpresse!” beschimpft, während sein grausames Schicksal und das seiner euraischen Geliebten Iris Nan-Chan unerwähnt bleibt. Denn bei Raspail sind es die linken Einpeitscher, naiven Gutmenschen (wie der Friseur Poupas, Schöpfer des Slogans “Es gibt keine Hindus mehr, es gibt keine Franzosen mehr, es gibt nur noch den Menschen, und er allein zählt!”) und professionellen Moralprediger, die ironischerweise zu den ersten Opfern der Invasion, der Geister, die sie riefen, zählen.
Andere, wie der namenlose “Präsident der Republik”, der nach außen Merkel spielt und im tiefsten Inneren lieber Salvini wäre, treten in gedimmter Form auf. Fast völlig entfallen sind auch die zentralen religiösen Motive des Buches: Raspail schildert den parabelhaft verdichteten “Untergang des Abendlandes” als eine satanische Parodie der Heilsgeschichte, als Geschichte eines messianischen Massenwahns (auf der Seite der Inder ebenso wie der Franzosen).
Hätte Schmidt-Rahmer die Satire Raspails ernstgenommen und ihre linksgerichteten Zielscheiben ebenso provokativ und grell in Szene gesetzt wie deren Widersacher, hätte er sich wohl rasch den Stempel des “Rechtspopulisten” erworben und aus dem Kulturbetrieb verabschieden müssen. Damit ist auch freilich die ganze Komik aus dem Stoff entfernt worden. Die Bühnenversion von “Heerlager der Heiligen” ist beklemmend, surreal und todernst. Der Roman ist auch all dies, zugleich aber eine tiefschwarze Komödie, bei der einem freilich oft das Lachen im Hals stecken bleibt.
Bei dem Publikumsgespräch stellte mir der Schauspieler Daniel Christensen eine anspruchsvolle Frage: Wie ich denn das Ganze inszeniert hätte, damit es auch komisch ist? Bei den Proben hätte das Ensemble versucht, komische oder komödiantische Aspekte hervorzukitzeln, aber Versuche dieser Art hätten sich als unpassend erwiesen und wären regelmäßig in “ein Bashing des Romans” gemündet (ich nehme an, daß er damit eine “Verarschung” des Romanes meinte). Dabei beteuerte er, daß es keineswegs darum gegangen wäre, das Buch zu veräppeln oder ins Lächerliche zu ziehen, sondern in der Tat auch darum, es zumindest ein Stück weit ernstzunehmen, die Legitimität seiner Fragestellungen und Analysen zu überprüfen und zu durchdenken.
Meine Antwort lautete, daß sich die Macher ja auch jene Teile des Buches herausgepickt haben, die nicht komisch sind. Seine Komik liegt eben vor allem dort, wo das hypermoralische Spektakel in all seiner Hysterie und Infantilität karikiert wird und wo auf den Kitsch der Utopie und Menschheitsverbrüderung das Grauen der Realität folgt. Das herauszustreichen habe ich einmal selbst in einer Lesung versucht. Der Punkt ist, daß man all dies – die schwarzhumorigen Antennen vorausgesetzt – wohl nur dann witzig findet, wenn man Raspails Blick auf die Dinge teilt, seine Satire und Kritik für zutreffend hält.
Es ist also verständlich, wenn etwa Schmidt-Rahmer (so nehme ich einmal an) darüber nicht so doll lachen kann wie unsereiner, denn er gehört exakt zu jener Kulturschaffenden-Kaste, die Raspail in seinem Roman attackiert. Insofern ist seine Inszenierung auch eine Art Rache oder Gegenschlag. Er zählt allerdings zu den schlaueren Vertretern dieser Elite, die kapiert haben, daß sie es hier mit einem Angriff zu tun haben, dessen Argumente sich nicht so leicht vom Tisch wischen lassen. Was tut der Linke, wenn ihm dämmert, daß der Rechte womöglich recht hat? Seine Bearbeitung des “Heerlagers” findet in einem Abwehr- und Immunisierungsmodus statt. Hier soll etwas zerkaut, bewältigt, in eine künstlerische Quarantäne gestellt werden.
Mit anderen Worten ist man hier wieder bei meiner Polarisierungsformel angelangt, die da lautet: “Ich seh etwas, was du nicht siehst”. Und: “Weil du nicht siehst, was für mich ganz offensichtlich ist, bis du vermutlich dumm, verblendet, geisteskrank oder hast böse Absichten”. Und dieses Motiv des Verleugnens und Ausblendens, der gezielten Lüge oder der verzweifelten Illusionsbereitschaft und der unbewußten Apperzeptionsverweigerung, zieht sich wie ein roter Faden durch Raspails Roman, in dem der Autor unmißverständlich Partei ergreift.
Im Publikumsgespräch äußerte sich ein Zuschauer verblüfft, wie sehr ein Roman aus den siebziger Jahren die heutigen Themen und Slogans der “Rechtspopulisten” vorweggenommen habe. Wie das wohl kommt? Was mag inzwischen passiert sein, insbesondere seit 2015? Der “Rechtspopulist” liest dasselbe Buch, und wundert sich, wie trefflich ein Roman aus den siebziger Jahren den humanitären Willkommenskulturkitsch der heutigen Zeit vorweggenommen hat und wie unheimlich die “Flüchtlingskrise” dieser wahrlich prophetischen Erzählung ähnelt. Entsprechend sahen 2015 die einen Goldstücke anrollen und die anderen Tartarenhorden einfallen (um es in beide Richtungen überspitzt zu sagen), und die einen erklärten sich zu den Hellen und Guten und die anderen zu den Dunklen und Bösen. Diese aber sahen in den selbsternannten Hellen und Guten Naivlinge, Kleinkinder, Mitläufer eines Massenwahns, blind für die Kollateralschäden ihres Tuns.
Im Foyer des Theaters hing ein Zeitungsausschnitt mit einem Interview mit Schmidt-Rahmer, das ich leider nicht im Netz finden konnte. Überschrift etwa folgendes Zitat: “Rechtes Denken ist wenig an der Wirklichkeit interessiert”. Das scheint mir wiederum ein Paradebeispiel für das “Lichtmesz-Sommerfeld-Gesetz” der linken Projektion zu sein, denn das ist exakt, was die Rechten über die Linken denken: Daß diese mit der konkreten Wirklichkeit, der Realität schlechthin auf Kriegsfuß stehen, und sich mit ideologischen Mauern, Schleiern und Scheuklappen, mit “Pseudologien” und “fauxels” gegen sie abgeschottet haben.
Folgerichtig – und hier muß ich ein wenig spoilern – mündet die Bühnenproduktion “Das Heerlager der Heiligen” in die Offenbarung, daß es gar keine Flotte gibt, gleich den Barbaren aus dem berühmten Gedicht von Kavafis. War also alles nur ein Fiebertraum von Calguès? Der gebiert nun in einer surrealen Szene einen Haufen (weißer) Plastikpuppen, gefolgt von einer Flut von weiteren (weißen) Plastikpuppen, die in Eimern angeschleppt und von den Schauspielern über die Bühne ergossen werden, als Sinnbild der Menschenflut aus dem Orient.
Schon zuvor gab es kein einziges Schiff, keinen einzigen “Flüchtling” oder Migranten zu sehen. Lediglich zwei stumme Dienerinnen tauchten auf, eine Asiatin und eine Muslima, die wie selbstverständlich den weißen Herren das Essen servierten. Das Meer auf der Leinwand war blutrot, aber leer. Während im Roman das letzte dreckige Dutzend des Abendlandes mit Galgenhumor auf dem verlorenen Posten kämpft und schließlich von der französischen Armee (die plötzlich wieder imstande ist, zu töten) in Grund und Boden gebombt wird, ballern die Figuren des Stücks mit Gewehren blindwütig in alle Himmelsrichtungen, auf unsichtbare und wohl imaginäre Feinde, von denen sie sich umzingelt glauben.
Nicht nur kämpfen sie gegen ihre eigenen Hirngespinste: Sie haben ihren Untergang offenbar auch verdient. Calguès, im Roman ein Sympathieträger, und eines der etlichen Sprachrohre des Autors, erscheint im Stück weniger als heiter-melancholischer “letzter Franzose” denn als steifer, satter Bildungsbürger, dessen Haltung etwa gegenüber den hochtrabenden Reden Durforts eher als Zeichen von selbstgefälliger, verstockter Mitleidlosigkeit und Arroganz denn als ironische Luzidität erscheint.
Das ethische Dilemma, das sich bei Raspail auf die Ernstfall-Frage “Schießen oder Teilen?” zuspitzt und verengt, verliert durch diese Gewichtungen und Auslassungen seine Schärfe. Stattdessen affirmiert das Stück die von Raspail karikierte und hinterfragte Vorstellung, der Westen lebe allein auf Kosten anderer in seinem widerlichen Wohlstand und habe seine Schuldkomplexe und den drohenden Zahltag im Grunde redlich verdient. Zu diesem Zweck hat der Regisseur einen (leicht veränderten) Satz aus Heiner Müllers “Hamletmaschine” in den Text montiert, der leitmotivartig wiederholt wird: “Irgendwo werden Leiber zerbrochen, damit ich leben kann in meiner Scheiße.”
Das ist wohl mehr oder weniger der entscheidende Standpunkt, von dem aus der Regisseur und sein Ensemble auf den Roman blicken: Auch in der anschließenden Publikumsdiskussion mit einigen Schauspielern und dem (um eine faire Diskussion einigermaßen redlich bemühten) Intendanten Olaf Kröck zeigte sich, daß die Ausbeutung der Dritten Welt, die kollektive Schuld (und nicht bloß die “Schuldgefühle”) der Europäer, sowohl von den Darstellern als auch von etlichen Zuschauern, als unhinterfragbares, moralisch verpflichtendes Paradigma hingenommen wurde.
Aber stimmt dies alles auch? Tatsache ist, daß der koloniale Drang der Europäer, nicht allein mit “Ausbeutung” (Zugang zu Ressourcen, Arbeitskräften, Expansion, “Lebensraum”…) zu tun hatte, sondern auch stets andere Gesichter und Aspekte aufwies: Bis heute hegt der Europäer oder Westler den Wunsch und guten Willen, zu missionieren und zivilisieren, zu erziehen und zu “retten”, ob es nun Seelen oder Körper sind, ob nun zum Christentum oder zur “Demokratie” bekehrt werden soll.
Kolonialisten haben Kriege um Land und Rohstoffe geführt, aber auch die Sklaverei und andere Barbareien bekämpft und abgeschafft, Infrastrukturen ausgebaut, wissenschaftlichen Fortschritt ermöglicht, medizinische Versorgung, Krankenhäuser, Technik, Gesetz und Ordnung, Menschenrechte und “Entwicklungshilfe” gebracht. In der Tat sind heute häufig gerade jene nord- und schwarzafrikanischen Länder in einem umso besseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustand, je länger und gründlicher sie kolonisiert waren. Und es mag durchaus so sein, daß es gerade die allzu große und allzu fehlgeleitete Fürsorge der westlichen Menschen war, die die Bevölkerungsexplosion mitverursacht hat, die ihnen nun auf den Kopf fällt.
Und schließlich geht es uns selbst nicht “so gut”, bloß weil “wir” andere Völker “ausbeuten”, sondern weil wir die Fähigkeit haben, eine Zivilisation wie die unsere zu erschaffen, eine Zivilisation, die auf Völker, die das nicht können, eine unwiderstehliche Anziehungskraft hat. Und wir sind keineswegs “Rassisten”, die hinter Mauern unter sich bleiben wollen, sondern vielmehr dem Eifer verfallen, unsere Zivilisation und ihre Errungenschaften der ganzen Welt zu öffnen, in dem Glauben, daß an ihr und unserem Gutsein die ganze Welt genesen könne (und die Kehrseite dieses doch recht größenwahnsinnigen Glaubens ist die Vorstellung, daß “wir” auch an allem Übel der Welt schuld und für es “verantwortlich” seien).
“Wir leben in Saus und Braus, auf der Kosten der Afrikaner, die wir ausbeuten, und haben darum ihnen gegenüber eine Verantwortung”, hörte ich am nächsten Tag von einem sehr gutmenschlichen Priester, der indes in der Massenmigration auch keine Lösung sah. Er hielt es allerdings für unchristlich und “nationalsozialistisch”, sich zu wünschen, daß die Europäer mehr Kinder bekämen und die Afrikaner weniger. Gleichzeitig leugnete er vehement, daß es auf diesem Planeten soetwas wie Überbevölkerung oder Bevölkerungsexplosionen gebe.
Gegenüber solchen Vereinfachungen, die am Ende folgenlos bleiben und vor allem den eigenen Moralismus aufblasen wie einen Signalluftballon, ist der Blick Raspails auf den Kolonialismus und den Neokolonialismus des Imports billiger Arbeitskräfte in den Westen weitaus vielschichtiger und ambivalenter. Niemand, der den Roman wirklich gelesen hat, kann ihm unterstellen, daß er es sich hier leicht gemacht hätte, und unfähig sei, die andere Seite der Medaille zu sehen. Da er kein Moralist ist, weiß er um den Preis, den jede Zivilisation erfordert, und zugleich um ihre Fragilität und die Korrumpierbarkeit gerade der “zivilisierten” Völker.
Vermutlich versteht er, der Weltreisende und Liebhaber der kleinen Völker, besser als jeder universalismusbesoffene Gutmensch, daß der Andere wirklich anders ist. Wo sich von hehren Idealen erfüllte Priester jeglicher Couleur farbenblind stellen und Massen von bedürftigen “Mitmenschen” auf uns zukommen sehen, erblicken nichteuropäische, tribal denkende Menschen womöglich nur selbsterklärte, vom schlechten Gewissen geplagte fette Ausbeuter, die er zur fetten Beute machen kann. Raspail führt den Leser in eine Spannungszone, die wenige ertragen, weshalb sie lieber die Flucht in kosten- und folgenlose Bekenntnisse und Deklamationen ergreifen. Auch das ist ein durchgehendes Thema des Romans.
Nun macht es sich auch Schmidt-Rahmer nicht allzu einfach, und läßt sowohl in der Inszenierung als auch im Programmheft erkennen, daß er Jean Raspail und ähnlich denkenden “Rechten” zubilligt, daß ihre Sicht der Dinge und ihre Analysen zumindest teilweise durchaus berechtigt und zutreffend seien, wenn auch, wie Daniel Christensen betonte, ihre “Schlußfolgerungen” (was auch immer diese sein mögen) ganz und gar “falsch” seien.
Aber was für “Schlußfolgerungen” sind hier gemeint? Raspail schrieb im Vorwort zu dritten Auflage (1985):
Ich bin Romanschriftsteller. Ich habe weder eine Theorie noch ein System noch eine Ideologie vorzuschlagen oder zu verteidigen. Es scheint mir jedoch, daß sich uns nur eine Alternative bietet: den schicksalsergebenen Mut aufzubringen, arm zu sein, oder den entschlossenen Mut wiederzufinden, reich zu sein. In beiden Fällen wird sich die sogenannte christliche Nächstenliebe als ohnmächtig erweisen. Diese kommenden Zeiten werden grausam sein.
Das klingt nicht gerade nach “einfachen Antworten auf komplexe Fragen”, und deutet die ganze Spannweite der Tragödie und des moralischen Dilemmas an, das Raspail in seinem Roman zu schildern versucht. Er ist hier wesentlich weiter und ehrlicher als jene, die denken, es genüge, “uns” einseitig die Schuld zuzuschieben – was wie gesagt selten über dick aufgetragenes “virtue signalling” hinausgeht -, oder jene die glauben, daß die Massen, die nach Europa strömen, vor Brüderlichkeit, Friedfertigkeit und Dankbarkeit nur so aus den Nähten platzen werden, wenn wir ihnen das (vermeintliche) Paradies (noch weiter) öffnen.
Konzessionen dieser Art genügen jedenfalls nicht, um eine ernsthafte Auseinandersetzung zu beginnen. Sie haben wohl sogar eher den Zweck, sie zu beenden. Indem der Regisseur die Flotte verschwinden läßt, die ätzende Kritik Raspails an der Linken und dem hypertrophen Humanitarismus weitgehend ausspart und sich auf eine Demontage und Psychoanalyse der “Reaktionäre” k0nzentriert, folgt er einer üblichen Methode: Eine konkrete Lage wird zu einem “Diskurs” verdünnt, isoliert, bespielt und zerlegt, und dieses Manöver als “Entlarvung” und ähnliches verkauft.
Nach diesem Muster haben auch etliche Rezensenten das Stück und seine Intentionen interpretiert. Etwa hier:
Wie macht man aus einem rassistischen Roman eine anti-rassistische Theateraufführung? Die Aufgabe ist schwer, weil doppelt: die politische Tendenz umkehren und die Erzählung in ein Bühnengeschehen verwandeln. Die Lösung kann nur sein, das eine mit dem anderen zu erreichen. Die ästhetische Form muss den politischen Inhalt verkehren.
Ebenso Deutschlandfunk Kultur:
Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer und Dramaturgin Maron Tiedtke konzentrieren sich auf die Frage, wie rechtsradikale Gedankenwelten entstehen. (…) Der Roman „Das Heerlager der Heiligen“ ist keine realitätsnahe Satire, sondern eine triebgesteuerte Fantasie, politisch unkorrekt und oft geschmacklos. Mit rationalen Argumenten oder Fakten haben diese Leute nichts zu tun. Schmidt-Rahmers Inszenierung zeigt klar und analytisch, warum Diskussionen mit Rechtspopulisten so schwierig sind.
Weniger von klaren Analysen erleuchtet sah sich hingegen der Rezensent vom wa.de:
Man quält sich fast zwei Stunden lang ohne aufklärerischen Mehrwert.
In der Rezension des DLF wird jedenfalls klar ausgesprochen, wie die “Message” des Stücks von den wohl meisten Rezipienten verstanden wird und vielleicht auch verstanden werden soll: “Rechtsradikale Gedankenwelten entstehen” aus pathologischen, subjektiven Quellen, haben jedoch nichts mit realen Problemlagen oder gar dem Verhalten und der Ideologie der Linken zu tun. Die Methode ist einmal mehr das Gaslichtern: Ihr spinnt, da ist nichts, ihr leidet unter Wahnvorstellungen, Neurosen, Phobien und Körperpanzerproblemen. Das ist die Antwort auf jene, die das Buch ganz im Gegenteil als Augenöffner und seine Lektüre geradezu als Erweckungserlebnis preisen.
So fällt auch “Das Heerlager der Heiligen” wie schon “Volksfeind/Volksverräter”, der Kinofilm “Kleine Germanen” oder der durchgeknallte Schnellrodaploitaton-Roman “Zornfried” und andere Produkte in das momentan florierende Genre der linken Phantasieproduktionen über Rechte, die man, wenn boshaft genug wäre, auch trefflich psychoanalysieren und theweleitisieren könnte. Ich sehe in Ihnen vor allem Abwehrbildungen und Projektionen, die aus der eigenen kognitiven Dissonanz entstanden sind. Dann verhielte es sich genau umgekehrt: Raspails “Heerlager” wäre ein realitätsnahe Satire, Schmidt-Rahmers “Heerlager” eine “triebgesteuerte Fantasie” über Raspails “Heerlager”.
So ist auch das Recklinghausener/Frankfurter “Heerlager der Heiligen” eher ein dramatisierter Kommentar zu Raspail, eine Phantasie oder Meta-Phantasie über den Roman und seine Motive, die durchaus ihre starken und einprägsamen Momente hat: Michael Schütz, ein exzellenter Sprecher, erfüllt den Text von Calguès mit Leben und Bedeutung; Daniel Christensen brilliert insbesondere in einer Szene als Kommandant de Poudis, der dem Präsidenten der Republik mit Erschütterung berichtet, was er auf den Booten der Flotte aus nächster Nähe gesehen hat. Der “Panama Ranger” tritt am Ende mit einem antiken Helm als fehlgeleiteter Kriegersproß des Abendlandes auf, als unheimlicher Zwilling des “Faschisten” Dragasès, in rotes Licht getaucht, links und rechts eine revolutionäre Gespielin im Arm, während auf einem Bildschirm Notre Dame de Paris abbrennt.
Von “Klarheit” oder “Analyse” kann insgesamt allerdings keine Rede sein; eher wird hier verdreht und vernebelt und ins Anno Theweleit geflüchtet, damit sich am Ende faule Rezensenten und Theaterbesucher in dem bestätigt fühlen dürfen, was sie ohnehin schon denken und zu wissen glauben. Im Publikumsgespräch verkündeten etliche Besucher geradezu stolz, daß sie das Buch nun auch nicht mehr lesen würden und bräuchten. Damit kann man aufatmen, die Diskussion ist erledigt, der politische “Andere” mal wieder entlarvt und dekonstruiert, und man hat zusätzlich das Alibi, daß man all diese kontroversen Themen doch furchtlos behandelt, und nicht etwa verschwiegen und tabuisiert hätte, wie die Rechten immer behaupten, die sich dauernd “zum Opfer stilisieren” (blubb).
Für einen Raspail-Leser einigermaßen witzig und ironisch war der Verlauf des Publikumsgesprächs. Als sich Kubitschek zu Wort meldete, und die Tatsache ansprach, daß mit der Flüchtlingswelle auch etliche Terroristen und Kriegsverbrecher nach Europa gelangt seien, erhob sich von allen Seiten ein gereiztes Gezische und Geschrei: Was fiele ihm ein, hier rechtsradikale Propaganda zu verbreiten?? Die mentalen Abwehrkörperchen reagierten reflexartig und aggressiv auf diese Grenzüberschreitung.
Auch ich bin nicht weit gekommen, als ich ansetzte, eine etwas komplizierte Frage zu beantworten, nämlich nach der Komik des Stoffes. Als ich hervorhob, daß Raspail seine Geschichte als parodistische Heilsgeschichte, als “religiöse” Geschichte erzähle, unterbrach mich Olaf Kröck, ebenfalls etwas gereizt, und insistierte, es handele sich doch vielmehr um eine “rassistische” Geschichte, sei doch andauernd, oh huch und Schreck, von “Rassen” die Rede, die bekanntlich ebensowenig existieren wie die Flotte im Stück.
Da mußte ich an den anonymen Erzähler denken, der am Ende des Romans bemerkt, daß sich schon zu seinen Lebzeiten die Definition des Wortes “Rasse” erheblich verändert habe:
Was für mich nur eine simple Feststellung war, nämlich daß die verschiedenen Rassen inkompatibel sind, wenn sie im selben Raum leben müssen,
wurde vom Großteil meiner Zeitgenossen als Aufruf zum Rassenhaß und als Verbrechen gegen die Menschenwürde ausgelegt.
Kröck versuchte es also mit “Derailing”, und danach hatte ich kaum mehr Zeit, meinen Argumentationsbogen zu Ende zu führen. Dieses argumentative Haxlstellen sehe ich symptomatisch: Wenn man “uns” Rechte einmal reden läßt, dann tut man meistens nur so, als höre man zu, und wartet die nächstbeste Gelegenheit ab, hineinzugrätschen. Man wird auch schnell nervös, wenn Rechte andere Dinge sagen, als man von ihnen erwartet.
Anschließend setzte eine Art Moralolympiade ein, in der jeder versuchte, eine ergreifendere und betroffenere Arie als der Vorgänger zu singen: wie schrecklich, daß so viele Menschen elendig ersaufen, wie mitschuldig wir wohlstandsverwöhnte Ausbeuter doch an ihrem Schicksal seien, wie lächerlich wenige Menschen doch eine Million sind, wie furchtbar es sei, über Schießbefehle auch nur nachzudenken, was für großartige Menschen man unter Asylanten kennengelernt habe. Es war mit anderen Worten wie eine weitere Szene aus dem Roman. Dazu paßt auch, daß Recklinghausen in einem stark “umgevolkten” Teil Deutschlands liegt, während das Publikum eklatant undivers ausfiel.
Eine freundliche, wohltätig gesinnte Dame fragte mich, was denn meine Lösung für die Flüchtlingskrise sei. “Bißchen konkreter, bitte”, antwortete ich, “was meinen Sie denn genau mit ‘Flüchtlingskrise’?” – “Also für mich gibt es gar keine Flüchtlingskrise!” – “Dann weiß ich leider auch nicht, wofür ich Ihnen eine Lösung anbieten soll.”
Um die Rezensenten des Deutschlandfunks zu zitieren: Mit rationalen Argumenten oder Fakten haben diese Leute nichts zu tun.
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Das Heerlager der Heiligen bei Antaios hier einsehen und bestellen.
Laurenz
@Herrn Lichtmesz ... zugegeben, Ihr Bericht stammt aus einer Welt, die nicht meine ist (ich hatte mal in der Schule "Die Nashörner" (Rhinocéros) von Ionesco in der Theater AG gespielt). Bin eher den Werken von Chester Nimitz & Co. (auch die brauchten Übersetzer), oder Helmut Pemsel zugeneigt, aber, auch zugegeben, Ihr Besuchs-Bericht war nicht langweilig zu lesen.
Vor allem bei "Ihrem" "Aufruf zum Rassenhaß und als Verbrechen gegen die Menschenwürde ausgelegt"en Äußerungen wird es dann doch noch richtig spannend.
Hier könnte man den Eindruck gewinnen, die Rechte (in diesem Falle Sie und Herr Kubitschek) seien zu lieb und nett. Ich kann mich dieser Wahrnehmung jedenfalls nicht entziehen. Jeder, der mal auf einem AfD-Wahlkampfstand gestanden hat, weiß um dieses Dummgelaber eines ethnisch selektierten Betroffenheits-Publikums in Mitteleuropa. Meine Antworten darauf waren bisher pragmatischer, als Ihre dargelegte Debatten-Kultur.
Rassen? Wieso sollten wir den Berggorilla retten, wenn es der Berberaffe in Gibraltar auch tut? Zoos? Artenvielfalt?Abschaffen, rassistischer Mummenschanz. Tierschutz-Umweltschutz sind reine Reminiszenzen an die Nationalsozialisten (Da klingt Hermann Göring wie ein Ur-Grüner, Zitat- "Wer Tiere quält, verletzt das deutsche Volksempfinden." oder
"Wir werden jene in Konzentrationslager einliefern, die denken, sie können Tiere wie leblose Dinge behandeln." - Zitatende). Und wer sich Flüchtlinge ins Land holt, ist doch nur zu faul, seinen persönlichen Sahib-Imperialismus in die Welt zu tragen, weil die indigene Putze zu teuer ist. Nichts anderes als Denk-Kolonialismus inklusive best-menschlicher Mission stellt die Situation, in der wir leben, dar. Und ein kleiner Seitenhieb, die anwesende Linke und deren Zweifel am Schießbefehl an der Mauer zu Gaza, als Anti-Semiten bloß zu stellen, schadet nie.
Und ist es nicht umgekehrt? Wer sind denn die Andreas-Baader-Che-Guevara-Panama-Ranger? Nichts als kleine Möchtegern-Adolfs, deren machtpolitische Männlichkeit zu kurz geraten war. Und als letzter rechter Haken geht immer ....
„Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: Ich bin der Faschismus. Nein, er wird sagen: Ich bin der Antifaschismus.“