Denn hier wird eine Nüchternheit eingefordert, die die Blattlinie und das gemeine ZEIT-Publikum allzumeist vermissen lassen. Der Beitrag verdient aber auch Widerspruch.
Es geht um das Problem der „Seenotrettung“ im Mittelmeer. Dieses ist kein rein juristisches Problem etwa des Seerechts oder der Befugnisse privater NGOs, sondern ein moralisches Problem, und zwar auch und gerade für diejenigen, die Carola Racketes Aktionismus für falsch halten und den mehrmals drum herum gewickelten Heiligenschein für brandgefährlich. Gegen Hypermoral braucht man ethische Argumente und nicht bloß moralische Verurteilung derselben als dumm oder verlogen.
Martin Krohs hat unter der Überschrift Migration als Sprengladung (die im übrigen an der Aussage des Textes vorbeiknallt) die These aufgestellt, daß Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in der Schlepperei- bzw. „Menschenrettungs“-Frage gleichermaßen vertretbar sind, sodaß wechselseitige Bösartigkeitsunterstellungen unterbleiben sollten. Er unterscheidet philosophiehistorisch und systematisch Ethik-Modelle in A und B:
Immer aber beginnt eine Ethik des Typs A vom Ausgangspunkt der Individuen und ihrer Gleichheit (normativer Individualismus), eine Ethik des Typs B hingegen von der Gemeinschaft und ihren Praktiken.
Die von ihm mit angeführte klassische Unterscheidung Max Webers zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik reicht allerdings meines Erachtens hier vollkommen aus. Dem ZEIT-Leser erklärt er schonend, daß Skeptiker der „Seenotrettung“ vom Ethiktyp B (Verantwortungsethik) ja nur befürchteten
dass das Absolutsetzen von Prinzipien, wie sie es bei privaten Seenotrettern und Befürwortern von open borders beobachten, der Bewältigung des hyperkomplexen, hypersensiblen Gesamtproblems Migration letztlich abträglich ist. Sie befürchten, dass erleichterte Ausreise den Herkunftsländern nicht hilft, dass die mit der Zuwanderung einhergehenden Probleme – von den Härten der Abschiebung bis zum Schüren sozialen Unfriedens – den innereuropäischen Zusammenhalt bedrohen.
So weit, so wichtig und richtig. Philosophie ist ein vortreffliches Fällungsmittel. Mit ihr kann man unübersichtliche Gemische trennen, besonders trübe Lösungen lassen sich durch begriffliches Ausfällen klären. Doch mein sprachliches Bild der chemischen Fällung deutet auf etwas hin: diese findet im Labor statt, man muß stets alle Reaktanten griffbereit haben. Sobald man das Labor verläßt, wird es wieder unübersichtlich, trübe und möglicherweise gefährlich, Laborbedingungen vorauszusetzen.
Doch Krohs wäre nicht der, der er ist, wenn er es bei der Fällungsreaktion beließe. Er muß noch ein bissl Sprengstoff beimischen, und um den soll es im folgenden gehen. Nicht, weil ich mich so gern über andere Philosophen mokiere, sondern weil er einen ganz entscheidenden Zusammenhang verschweigt bzw. an dieser Stelle seine Agenda zu finden sein dürfte.
Martin Krohs ist Journalist und Philosoph, Mitbegründer der Rußland-Informationsplattform dekoder, die dortige „alternative“ Medien ins Deutsche übersetzt, mit dem entscheidenden Unterschied zu hiesigen alternativen Medien, daß die dortigen nichtstaatlichen Medien „demokratisch“ im Sinne von pro-amerikanisch und perfekt in den Kampf gegen Putins fake news eingebaut sind. Programmdemokratie in action also.
Gesinnungs- und Verantwortungsethik müssen argumentativ getrennt und geprüft werden und sine ira et studio diskutiert werden unter Ethikern. Das hülfe auch der Politik. Krohs reserviert allerdings die „Republik des Ethischen“ allein für Gesinnungsethiker und verantwortungsethische Skeptiker. Wer nicht hinein darf? Oh, natürlich das Pack, in Krohs’ Diktion: der „ antiethische Unsinn der vulgären Antiethiker“, die „Sexisten, Xenophoben, Reaktionäre, Rassisten, Nationalisten“, die „feixenden, hämischen, hinterlistigen Fremdenhasser“.
Wer Carola Rackete eine „Verbrecherin“ nennt, wie es zahlreiche Italiener in diesen Tagen zornig tun, darf nicht hinein in die Gelehrtenrepublik. Krohs will hier nicht nur sagen, daß das Gegröle eines aufgeheizten Mobs auf der Straße oder im Netz keine philosophische Argumentation darstellt oder daß man auf dem Niveau von Beschimpfungen eben nicht diskutieren kann (wodurch er sich ja zumindest ein Spürchen selbst widerspräche). Es geht ihm – weshalb ich das hier besonders hervorhebe – darum, eine bestimmte inhaltliche Position in der Migrationsfrage prinzipiell aus dem Bereich des Sagbaren auszuschließen, nämlich eine
antidemokratische, antihumane Agenda, in der Flüchtlinge und Migranten sowieso nur Menschen zweiter Klasse sind, deren Schicksal einem egal sein kann – dafür die eigene in-group (das “Volk”) umso wichtiger.
Wer für sein Volk eintritt und zwischen in-group und out-group unterscheidet, ist also ein „vulgärer Antiethiker“. Krohs hat zuvor selber sorgfältig argumentiert, daß ein verantwortungsethischer Skeptiker zwischen Staatsbürgerrechten und Menschenrechten unterscheiden will oder zu bedenken gibt, daß man niemals allen Menschen helfen kann. Polemisch kann man exakt diese Position als „Flüchtlinge und Migranten (sind) sowieso nur Menschen zweiter Klasse (…) , deren Schicksal einem egal sein kann“ diskreditieren. Wo also verläuft die für Krohs alles entscheidende Linie zwischen den legitimen Bewohnern der „Ethischen Republik“ und den Menschen zweiter Klasse, die „aus der ethischen Debatte auszuschließen (sind) – sie würden sie doch nur verderben“?
Krohs ZEIT-Gastbeitrag endet mit der in diesem Kontext unvermeidlichen Frage der Menschenrechte. Er leitet diese bündig nach dem Säkularisationsmodell her (Menschenwürde als verweltlichte Idee der Gottesebenbildlichkeit), wird dann aber zu einem politischen Theologen, an dem Carl Schmitt seine helle Freude hätte:
Die Menschenrechte beim Wort zu nehmen, heißt, einen gewaltigen Auftrag zu übernehmen. Sie zwingen uns geradezu in eine Heilsgeschichte hinein – aber nun, im Unterschied zur Vormoderne, in eine weltliche, die wir selbst gestalten müssen und von der nicht klar ist, ob und wie wir ihr gewachsen sind.
In einem feinen älteren Lexikon der Pastoralanthropologie fand ich im Eintrag „Menschenwürde“ nicht viel mehr Worte als das folgende Dilemma:
Da Menschenwürde einzig durch Menschen gefährdet ist, zeigt sich eine verhängnisvolle Spannung zwischen der Würde des Individuums, dessen Rechte und Pflichten durch den stoischen Grundsatz ‘Jedem das Seine’ beschrieben werden können, und dem allgemeinen Willen einer Gesellschaft, die unter Hinweis auf den von ihr zu schaffenden ’neuen Menschen’ festlegt, wie Menschenwürde zu verstehen sei und welche Rechte und Pflichten sich daraus ergeben. (Hans-Martin Barth in: Praktisches Wörterbuch der Pastoralanthropologie, Herder Verlag, Wien 1975).
Es geht mir nicht um „Jedem das Seine“, die Einfachheit und Ewiggültigkeit des Satzes suum cuique kann man meinethalben auf Wikipedia nachlesen. Es geht um den „Willen einer Gesellschaft, die unter Hinweis auf den von ihr zu schaffenden ’neuen Menschen’ festlegt, wie Menschenwürde zu verstehen sei“. Krohs’ „weltliche Heilsgeschichte“ in die er uns hineinzwingen will, ist die schrittweise Verwirklichung eines „neuen Menschen“.
Er schreibt:
Die Denker der Aufklärung und der Moderne, die die Menschenrechte schrittweise immer weiter ausformuliert haben, haben damit eine Sprengladung verfertigt von viel größerer Gewalt, als ihnen vielleicht selbst klar gewesen sein mag. Würde sie mit einem Mal in ihrer Ganzheit gezündet, so müsste sie alle bestehenden gesellschaftlichen Ordnungen auf unserem Planeten zunichtemachen.
Perfekt formuliert! Allein: das ist doch Grund genug für einen tiefgreifenden Menschenrechte-Skeptizismus, der sich der in ihnen angelegten Zerstörungstendenz entgegenzustemmen versucht. Wenn der ZEIT-Artikel so endet:
Stück für Stück in Brand gesetzt, sind die Menschenrechte aber der wohl wirkungsvollste Treibsatz einer Geschichte, die den Menschen überhaupt erst vollsinnig zum Menschen macht,
dann ist das ein völlig unverhohlenes Argument dafür, daß die Rede von Menschenwürde und Menschenrechten nicht ohne die Agenda vom „neuen Menschen“ auskommt. Das ist keine Verheißung, sondern löst Grauen vor dem Weltenbrand aus, der hier Stück für Stück bewußt entzündet werden soll. Lang schon ist das Labor der “Republik des Ethischen” verlassen worden, das Experiment nimmt realiter seinen Lauf.
Der_Juergen
Caroline Sommerfeld urteilt über Martin Krohs, dessen ZEIT-Artikel ich eben gelesen habe, noch zu mild. Gewiss, der Beitrag scheint auf den ersten Blick objektiver und nuancierter zu sein als das, was man sonst im deutschen Flaggschiff der Neuen Weltordnung zu lesen bekommt, aber diese scheinbare Objektivität und Nuanciertheit ist wohl nur ein Lockvogel für rational denkende Leser.
In diesem Zusammenhang darf man wohl einige elementare Wahrheiten über die illegale Migration (vor allem aus Afrika, aber nicht nur von dort) aussprechen:
- Um es überhaupt auf ein "Flüchtlingsschiff" zu schaffen, muss ein illegaler Migrant eine Summe besitzen, die im Schnitt nicht unter, eher über 10.000 Dollar liegen dürfte. Er gehört also per definitionem nicht zu den "Ärmsten der Armen".
- Wenn der Betreffende diese Summe nicht selbst besass, wurde sie ihm von den Angehörigen seiner Sippe oder den Bewohnern seines Dorfs zur Verfügung gestellt, damit er nach erfolgreicher Einreise nach Europa Geld zurücküberweisen und damit den nächsten Illegalen herholen kann.
- Mit dem Geld, das wir für ein paar Dutzend illegale Migranten in Europa verschleudern, könnte man in Afrika eine Schule oder ein Krankenhaus errichten.
- Die Lösung des Problems sähe wie folgt aus: Europäische Staaten entsenden Schiffe ins Mittelmeer, die vor der nordafrikanischen Küste einen Absperrkordon bilden, jedes Schiff mit "Flüchtlingen" sofort aufbringen und in seinen Ausgangshafen zurückbegleiten. Innerhalb von Wochen würde der Strom versiegen, und es würde kein einziger Afrikaner mehr ertrinken.