SEZESSION: Herr Kleine-Hartlage, sind das gute oder nicht ausreichende Wahlergebnisse für die AfD in Sachsen und in Brandenburg?
KLEINE-HARTLAGE: Das sind gute Ergebnisse, insofern der Kamerad Trend wieder einen Schritt getan hat, aber ein Durchbruch im Sinne der Entmachtung des herrschenden Parteienkartells sind sie selbstverständlich noch nicht.
SEZESSION: Vertieft ein solches Ergebnis den Graben zwischen Ost und West? Sind zwei Dutzend Direktmandate für die AfD im Westen “vermittelbar” – oder verhärtet sich dort das Unverständnis?
KLEINE-HARTLAGE: Ob es einen Graben zwischen Ost und West gibt, sei dahingestellt. Es gibt einen Graben zwischen oben und unten, und ich glaube, auch im Osten gibt es Gesellschaftsschichten, in denen man wohlhabend genug ist, sich ideologische Ignoranz leisten zu können oder zu müssen. Dort sind besagte Mandate vermutlich ebenso „schwer vermittelbar“ wie in entsprechenden Schichten im Westen. Diejenigen Menschen im Westen wiederum, die die Auswirkungen der Politik der Etablierten hautnah zu spüren bekommen, haben vermutlich wenig Schwierigkeiten, jene Wahlergebnisse nachzuvollziehen, die ideologisch gefestigte Journalisten nur unter gequälten Klimmzügen – und dann meist falsch – deuten können.
Die Tatsache, daß die Westdeutschen vierzig Jahre länger erstens ihr Vermögen aufbauen und zweitens ideologisch indoktriniert werden konnten, außerdem drittens nicht auf eine erfolgreiche Revolution zurückblicken können, tut sicherlich ein Übriges. Vertiefen wird sich der Graben zwischen einerseits den Gläubigen der globalistischen Zivilreligion (die sich naturgemäß dort konzentrieren, wo es die höchsten Gratifikationen für die „richtige“ Gesinnung gibt) und andererseits denen, die von diesem Glauben abgefallen sind oder ihn nie geteilt haben.
Vertiefen wird sich der Graben zwischen den tonangebenden sogenannten Eliten und der Opposition. Diese Eliten haben sich in eine Lage manövriert, in der alles, was sie politisch tun, sich zu ihrem Nachteil auswirkt, aber zu Repression und Gewalt greifen, das könnten sie durchaus noch.
SEZESSION: Skizzieren Sie die kommenden vier Wochen – was wird passieren: im Bund, in Sachsen, in Brandenburg?
KLEINE-HARTLAGE: Nichts, was sich grundsätzlich von der bisherigen Politik unterscheiden würde, und das ist das Bemerkenswerte: Wenn Politik in diesem Staat so funktionieren würde, wie es im politikwissenschaftlichen Lehrbuch steht, wäre doch zu erwarten, dass SPD, CDU und Linke spätestens jetzt versuchen würden, der AfD entweder durch ein ähnlich gelagertes Programm den Wind aus den Segeln zu nehmen, oder sie direkt einzubinden und dadurch zu kompromittieren und zu korrumpieren.
Das ist ungefähr das, was die ÖVP machte. Es war Betrug, aber erfolgreich. Stattdessen findet sich die CDU mit ihrem unaufhaltsamen Sinkflug ab, taumelt die SPD der Fünfprozenthürde entgegen, als müsse es so sein, und nimmt die Linkspartei kampflos hin, daß ihre angestammte Position als Stimme des Ostens an die AfD übergeht; durch die Demontage von Sahra Wagenknecht hat die Partei sogar noch nachgeholfen.
Alle drei Parteien haben sich zu Sklaven eines Programms gemacht, das jede von ihnen noch vor dreißig Jahren für verrückt erklärt hätte und hat – nämlich des Programms der Grünen, der einzigen Partei, für die die gegen die AfD gerichtete Quarantänepolitik parteipolitisch zweckrational ist. Die Unfähigkeit, dem Zerfall der eigenen Machtbasis entgegenzuwirken, wäre allein schon ein hinreichender Beweis für den entsetzlichen Mangel an Format in der gesamten politischen Klasse.
Ich wage sogar zu behaupten, daß es nicht einmal zum Rücktritt von Angela Merkel kommen wird, obwohl sie längst eine sprichwörtliche lahme Ente ist und ihr Abgang für ihre Partei nur noch ein Bauernopfer wäre. Das innere Gefüge des regierenden Kartells ist aber derart fragil, sein Personal so kopflos, dass selbst kleinere Veränderungen zum Einsturz der ganzen Struktur führen können. Deshalb klammern sich alle an den Status quo und hoffen auf ein Wunder.
SEZESSION: Was darf nun nicht geschehen, was darf die AfD nun auf keinen Fall tun?
KLEINE-HARTLAGE: Die AfD sollte nicht den Kartellparteien hinterherlaufen und insbesondere deren Ab- und Ausgrenzungsforderungen gegenüber der Rechten mit Verachtung strafen. Daß dies in der Vergangenheit nicht geschehen ist, daß also allzuviele führende AfD-Politiker über die Stöckchen sprangen, die das Establishment ihnen hinhielt, war bereits ein Fehler. Diesen Fehler jetzt noch fortzusetzen, wäre eine Dummheit, die jeden disqualifizieren müßte, der sie begeht – so wie sie schon Bernd Lucke und Frauke Petry disqualifiziert hat.
SEZESSION: Sehen Sie eine Partei neuen Typs oder wird es nicht eher so sein, daß sich mit der Entmachtung des herrschenden Parteikartells ein neues herrschendes Parteikartell bildet, das bis zur Ununterscheidbarkeit zurechtgeschiffen ist?
KLEINE-HARTLAGE: Ich glaube, daß ein zirkulärer Verlauf von Aufstieg, Verfall und Erneuerung für viele Strukturen charakteristisch ist, warum also nicht auch für diese? Ich halte es durchaus für möglich, daß aus dem Zerfall des alten Parteiensystems ein neues hervorgeht, das die Degenerationserscheinungen seines Vorläufers nicht von Anfang an aufweist, sondern erst im Laufe der Zeit entwickelt – bis es möglicherweise seinerseits abgelöst werden muss. Einfacher gesagt: Neue Besen kehren gut!
SEZESSION: Sehen Sie programmatische Lücken oder reicht der bloße Nimbus, die einzige Alternative zu sein, weiterhin aus?
KLEINE-HARTLAGE: Es wird sicherlich zu einer Professionalisierung kommen müssen, wenn die AfD ihrem Anspruch, den Staat zu regieren, gerecht werden will – und zwar unabhängig davon, in welcher politischen Konstellation sie dies tut. Es ist also keine Frage der politischen oder bündnispolitischen Ausrichtung, daß eine umfassende Programmatik eine Notwendigkeit ist.
Man sollte allerdings unterscheiden zwischen dem Programmkern – also den Politikfeldern Einwanderung, Sicherheit, nationale Souveränität – und den Politikfeldern, die nicht unmittelbar mit dem Überleben der Nation zu tun haben. Auf letzteren sollte die AfD sich stets erinnern, daß sie eine Volkspartei sein will und muß. Das heißt, sie sollte sich hüten, als Partei ein so scharfes Profil zu entwickeln, daß weite Teile des Volkes sich abgeschreckt fühlen, etwa durch prinzipiell sozialstaatsfeindliche Positionen.
Einen Pluralismus unterschiedlicher Ansätze innerhalb der Partei dagegen sollte man auf diesen Feldern ganz bewußt pflegen.
Manfred Kleine Hartlage ist Jahrgang 1966, Diplom-Sozialwissenschaftler in der Fachrichtung Politische Wissenschaft und bekannt als scharfzüngiger politischer Analyst.
Bei Antaios erschienen unter anderem der Sammelband Die Besichtigung des Schlachtfelds und sein jüngster kaplaken Ansage, dessen Erstauflage nach kürzester Zeit vergriffen war. Ellen Kositzas Videobesprechung zur leidenschaftlichen Attacke auf das linksliberale Establishment und seine Lebenslügen gibt es hier.
Simplicius Teutsch
„Die Unfähigkeit (von CDU, SPD, Linken), dem Zerfall der eigenen Machtbasis entgegenzuwirken“ (Kleine-Hartlage), ist schon sehr erstaunlich. Und Michael Kretschmer, der auf mich eigentlich sympathisch rüberkommt, folgt in Sachsen jetzt wohl brav der zentralen Parteilinie in den Sinkflug. Selbst in Bayern macht die Söder-CSU Platz für die (momentan idiotisch-zerstrittene) AfD.
Der Osten – ohne Berlin-Babel – wäre mit Gewissheit, das zeigen deutlich die jüngsten Wahlen, ohne großen (wirtschaftlichen) Knall auf ehrlichem demokratischem Wege auch gegen die links-grünen Mainstream-Medien als deutsches Heimatland für eine weltoffene Zukunft zu retten.
Aber der übermächtige Westen ist nahezu vollständig verhaut und versaut. Man schaue doch bloß in die westlichen AfD-Landesverbände. - Was ich daher nicht verstehe, ist, wieso die „Flügel“-Unterstützer gerade den Professor Jörg Meuthen absägen wollen? - Ich gebe zu bedenken: Der Mann ist jedes mal eine Wohltat, wenn er den links-grünen Inquisitoren vor der Kamera Paroli bietet. Ich hoffe, dieses starke Zugpferd für den Westen wird nicht hinterrücks in den eigenen Reihen demontiert.
Das allerwichtigste Positive aber ist, dass die politischen Verhältnisse seit einiger Zeit gehörig ins Rutschen gekommen sind. Und die seismische Aktivität geht vom Osten aus. Wenn auch noch die wirtschaftlichen und schließlich die medialen Verhältnisse ins Rutschen kommen, dann sollte die AfD gut aufgestellt sein.