Auch zu Brandenburg zunächst die harten Fakten zum 1. September 2019:
Die SPD gewann mit 26,2 Prozent Zweitstimmen (Vergleichszahl 2014: 31,9), die AfD folgt mit 23,5 (12,2) vor der CDU mit 15,6 Prozent (23,0). Die auch zwischen Uckermark und Lausitz auf den Boden der Tatsachen zurückgeholten Grünen (mehr dazu hier) landen dem vorläufigen Endergebnis zufolge bei 10,8 Prozentpunkten (6,2), während die Linkspartei auf 10,7 abstürzt (18,6). Die Brandenburger Vereinigten Bürgerbewegungen/Freie Wähler (BVB/FW) gelangten mit 5,0 hauchdünn über die Fünfprozenthürde, während die FDP mit 4,1 Prozent der Stimmen an ihr scheiterte.
In den Wahlkreisen setzte sich bei den Direktkandidaten 25 von 44 mal die SPD durch, vor allem im Westen Brandenburgs, die AfD gewann 15 Kreise vor allem im Osten und Süden des Landes, die CDU zwei, BVB/FW und Grüne je einen.
In Mandaten ausgedrückt verteilen sich die 88 Plätze im Potsdamer Landtag auf 25 Sozialdemokraten (2014: 30), 23 Alternative (11), 15 Christdemokraten (21), 10 Grüne (6) und 10 Linke (17) sowie 5 Mandatsträger von BVB/FW (3).
Ergebnisse anderer Rechtsparteien sind nicht zu vermelden. In Brandenburg trat keine einzige weitere an. Die Freien Wähler stehen dort zudem im inhaltlichen Umfeld der SPD, und gelten nicht, wie in Sachsen oder Bayern, als liberalkonservatives Addendum der Union. Die einzige nennenswerte sonstige Formation ist die Tierschutzpartei, die immerhin 2,6 Prozent der Stimmen erreichen konnte.
Die Wahlbeteiligung lag bei 61,3 Prozent (2014: 47,9), also deutlich unter der sächsischen. Aber wie im Nachbarland war die AfD primärer Demokratiemotor. 115.000 der 2014er Nichtwähler, und das ist für ein einwohnerschwaches Flächenland eine stolze Zahl, optierten blau, die SPD folgt mit lediglich 65.000 erreichten Wahlverweigerern, CDU, Grüne und Co. sind unter ferner liefen zu verbuchen, wobei hervorzuheben wäre, daß der relative Wahlerfolg der Grünen vor allem auch dank »Zugezogener« konkret wurde; 23,3 Prozent aller von 2014–2019 nach Brandenburg zugezogener Menschen wählten Grün, der Löwenanteil von ihnen dürfte aus der Hauptstadt ins Brandenburgische ausgewichen sein, also raus aus dem Schlamassel in den lebenswerten Speckgürtel.
Die AfD gewann unterdessen insgesamt 177.000 Stimmen dazu, den größten Anteil der Neualternativen stellten demzufolge einmal mehr die Nichtwähler. Von Rot-Rot-Grün holte man 25.000 Stimmen, von der CDU 28.000. Während das Maximum an Fliehkräften der Kartellparteien damit fürs erste erreicht worden sein dürfte, bleibt für die AfD ein gewaltiges Potential an Nichtwählern übrig: 38,7 Prozent der Wahlberechtigten, und das sind über 800.000 Menschen, gingen auch diesmal nicht zur Wahl.
Wie in Sachsen ist dies ist das entscheidende Reservoir von mannigfaltig Unzufriedenen, fundamental Enttäuschten und politisch Abgewandten für die AfD, das es ab sofort Tag für Tag, bis zum nächsten Wahlgang und darüber hinaus, zu erreichen gilt. Der Fokus der Bemühungen ist folglich nicht auf den Kern hartgesottener Kartellparteien-Überzeugungs-Wähler zu richten.
In bezug auf die soziale Herkunft der AfD-Wähler wird unterdessen einmal mehr deutlich, daß die Partei eindeutig die führende Vertreterin der prekären Klassen sowie der unteren Mittelschicht ist. Arbeiter beispielsweise haben mit 35 Prozent für die AfD gestimmt (Sachsen: 35) und auch bei Selbständigen wurde man mit 24 Prozent stärkste Kraft (Sachsen: 30); den Landesschnitt der Alternative hingegen senkten deutlich – wie in Sachsen – Rentner und Beamte.
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Die SPD verliert also auch in Brandenburg die Wandlungen unterliegende Arbeiterklasse, aber darf sich, trotz Verlusten, als Wahlsieger fühlen. Sie profitierte eindeutig vom Amtsinhaberbonus des Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, der trotz einiger Skandale als nüchterner, unaufgeregter und landesweit bekannter Politiker gilt und wohl auch daher seinen Wahlkreis knapp gewinnen konnte. Woidke, das zeigten kritische Recherchen, ist dabei kein verantwortungsvoller Landesvater; er fördert direkt extrem linke Strukturen.
Konkret heißt es im (noch) rot-rot geführten Brandenburg, daß über die »Antirassismus-Novelle« jeder Teil des staatlichen »Bündnisses gegen rechts« werden kann, ungeachtet dessen, ob die Partner explizit linksextrem sind oder nicht. Die entsprechende Analyse sollte man selbst gelesen haben; es wird nicht mal mehr der Versuch der Verschleierung der Antifa-Förderung unternommen.
Ohnehin, der Kampf gegen rechts, Woidkes Steckenpferd. Bei der AfD vergaß er sich ein ums andere mal. Deren Spitzenkandidat Andreas Kalbitz griff er in Zusammenspiel mit den Medien des Establishments frontal an. Es ist in diesem Kontext allerdings erstaunlich, wie wirkungslos die orchestrierten Salami-Taktik-Enthüllungen über Kalbitz’ politische Vita verpufften. 2019 ist nicht 2009 oder 2014.
Bei der Europawahl im Mai des Jahres wurde die AfD im übrigen stärkste Kraft mit 19,9 Prozent der Stimmen; diesmal erreichte sie fast 4 Prozentpunkte mehr. Das lag an einem engagierten Wahlkampf in einem traditionell roten bis dunkelroten Bundesland, das mit dem Potsdamer Bionadebürgertum sogar grüne Flecken bekam. 23,5 Prozent für die AfD sind in Brandenburg objektiv schwieriger zu erzielen als 27,5 Prozent in Sachsen; das muß man sich zum besseren Verständnis vergegenwärtigen.
Die Grünen konnten in Potsdam und dem Berliner Speckgürtel zulegen, ansonsten bleiben sie aber, wie in Sachsen, auf dem flachen Land eine Splitterpartei. Ingo Senftleben von der CDU, der profillose märkische Merkel-Vertreter, führte seine Partei zu Verlusten von acht Prozentpunkten; 15 Prozent für die Union sind eine regelrechte Schmach, wenn man bedenkt, daß Senftleben vom Ministerpräsidentenamt raunte.
Er selbst gewann seinen Wahlkreis nur, weil die AfD dort an internen Konflikten scheiterte – fehlende Unterschriften für die Wahl des Kandidaten im Kreisverband sorgten für die Tilgung der Blauen vom Wahlzettel. Senftleben dankte und zog ohne nennenswerten Gegner ein. Die Nachbarwahlkreise gingen derweil (bis auf einen roten) an die AfD.
Und auch die Linkspartei kann in ihrem Regierungsland Brandenburg nicht mehr reüssieren. Selbst mit den Grünen zusammengerechnet bleibt man schwächer als die AfD; und das hat, ähnlich wie bei den Genossen in Sachsen, sowohl demographische als auch inhaltliche Gründe: Viele ältere SED-sozialisierte Sympathisanten versterben, viele mittelalte PDS-sozialisierte Sympathisanten können nichts mit dem Anti-Wagenknecht-Kurs anfangen, viele jüngere potentielle Sympathisanten entscheiden sich dann doch lieber für die vermeintlich hippe grüne Variante einer Linkspartei.
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Die Regierungsbeteiligung wird, vergleichbar mit Sachsen, weniger bundesweit beargwöhnte Diskussionen auslösen. Der Landtag konstituiert sich Ende September, dann sind drei Monate Zeit gegeben, eine tragfähige Koalition aufzustellen. Die SPD kann sich ein Dreierbündnis aussuchen: entweder mit CDU und Grünen (Kenia) oder mit Linken und Grünen (R2G).
R2G hat nur eine Stimme Mehrheit, wäre also latent instabil. Kenia verfügt unterdessen über eine komfortable 6‑Sitze-Mehrheit. Die für Unionsverhältnisse relativ konservative Saskia Ludwig, die in ihrem Wahlkreis krachend scheiterte, rebelliert aber gegen CDU-Landeschef Senftleben und die Wahl zum Fraktionsvorsitzenden wurde wohl auch aus diesem Grund verschoben.
Wenn man davon ausgeht, daß etwa ein Drittel der neuen CDU-Fraktion WerteUnion- bzw. Ludwig-nahe ist, und sich damit kritisch zur Annäherung an Sozialdemokraten und Grüne positioniert, wären das fünf bis sechs Sitze – und die Mehrheit für Kenia sähe sich wieder bedroht. Die AfD wird im neuen Landtag – so oder so – Oppositionsführerin und dürfte beiden Varianten forsch entgegentreten.
Das kann man deshalb so selbstsicher verkünden, weil die Brandenburger AfD – neben Kalbitz und anderen – auch Christoph Berndt in ihren Reihen hat. Der Cottbuser Wahlsieger des südbrandenburgischen Vereins Zukunft Heimat e.V. (samt »Wohnzimmer« der Bürgerbewegungen namens »Mühle«) ist das Musterbeispiel eines »organischen Politikers«. Er hat das produktive und unverzichtbare Zusammenspiel des arbeitsteiligen »Mosaiks« in seiner ganzen Tragweite begriffen und verfügt über ein politiktheoretisches Grundgerüst, das für einen Parlamentarier in heutigen Zeiten selten geworden ist.
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Die AfD wird künftig vom Rückenwind einer wachsenden und einigermaßen entschlossenen Wählerschaft getragen. Benedict Neef führt in der NZZ vom 3. September eine Umfrage an, wonach 99 Prozent der AfD-Wähler in Brandenburg überzeugt sind, daß ihre Partei das ausspricht, was für andere Parteien tabu erscheint. 50 Prozent der Wähler der anderen Parteien teilen diese Ansicht im übrigen; eine respektable Zahl.
Für den Deutschlandkorrespondenten Neef, der die AfD in seiner Berichterstattung seit längerem überdurchschnittlich kritisch kommentiert und in der NZZ vom 5. September gar eine ganze Seite für Kalbitz-Bashing opfert, ist diese Tabubrecherfunktion »Schlüssel zum Erfolg« der AfD. Würde man seitens SPD und CDU, so mutmaßt Neef weiter, den Menschen das Gefühl zurückgeben, daß sie selbst Probleme unverhohlen ansprechen, wäre dies ein Schritt »zu ihrer Bekämpfung«.
Die AfD kann dem gelassen entgegensehen. Einerseits ist nicht davon auszugehen, daß die einstigen Volksparteien ihre bisherige integrale – ideelle wie strukturelle – Blockadepolitik aufgeben werden, und andererseits wäre eine Öffnung ebenjener Politik ein Erfolg für die AfD – man hätte bewiesen, daß man als vermeintliche kleine Partei die »Großen« beeinflussen und vor sich her treiben kann. So oder so: eine Situation, die hoffen läßt.
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NZZ-Chefredakteur Eric Gujer sieht die Dinge derweil klarer, übergeordneter. Am 31. August schrieb er in seinem Leitartikel:
Die Reaktion der Ostdeutschen auf so viel Ignoranz ist antrainiert. Die Diktatur erzwang Schizophrenie im Denken und Reden: Was man öffentlich sagte, stimmte nicht mit den privaten Äusserungen überein. Man schuf sich seinen Schutzraum in der Familie und mit Freunden. Heute gilt Meinungsfreiheit; jeder kann im Rahmen der Gesetze sagen, was er will. Die Bundesrepublik lässt sich nicht mit der DDR vergleichen. Allerdings findet die Meinungsfreiheit unter den Bedingungen eines als übermächtig empfundenen westdeutschen Diskurses statt. Das bringt wieder manchen zum Verstummen.
Weil dieser »westdeutsche Diskurs« ein grüner und hypermoralischer ist, und »westdeutsch« hier eher als Chiffre für beides und nicht lediglich als geographische Standortbeschreibung zu gelten hat, bleibt die AfD das Ventil dieser Verstummten.
Als Partei der Unzufriedenen, Abgewandten, Zum-Schweigen-Gebrachten ist sie daher die primäre Protestpartei des Volkes, und muß nun, in Brandenburg und anderswo, diesen popularen Vertrauensvorschuß in überzeugende und bindende Inhalte transferieren.
Ansonsten droht die Gefahr, daß die Wahrnehmung der AfD durch viele Menschen als grundsätzliche, authentische und mutige Opposition eines Tages so abhandenkommt wie der allmählich verblichene Ostnimbus einer liberalistisch und kosmopolitisch depravierten Linkspartei.
Die AfD hingegen hat anders als die darbende Linke – und wiederum: in Brandenburg und anderswo – das Potential, nicht nur Partei des Ostens, nicht nur Partei einer bestimmten Schicht oder Klasse zu sein, sondern jene oppositionelle Kraft, die tatsächliche und vermeintliche Gegensätze vereint und ausbalanciert: West und Ost, »links« und »rechts«, oben und unten, Stadt und Land – Solidarität und Identität.
Das ist die vorerst abschließend Positivnotiz zum Wahltag des 1. September. Am 27. Oktober wird dann in Thüringen gewählt; der wichtige Wahlkampf – es geht zunächst um 20 Prozent plus x für die AfD und um ein verdientes Ende von Rot-Rot-Grün – hat bereits begonnen.
Niekisch
"bleibt die AfD das Ventil dieser Verstummten."
Perfekt wäre es, brächte die AfD nicht selber hin und wieder und in inzwischen erklecklicher Zahl gute Leute zum Verstummen...