Emil Molt, Inhaber der Stuttgarter Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, richtete sie gemeinsam mit Rudolf Steiner für die Kinder seiner Arbeiter ein.
Hundert Jahre, eine so richtig schön ahrimanische Zahl! Unter dem Motto „Learn to Change the World“ feiert die internationale Waldorfbewegung. Höhepunkt war eine Megaparty im Berliner Tempodrom am 19. September 2019. Eurythmiedarbietungen, eine leuchtende Eine-Welt-Kugel schwebte über den Tänzern. „Die globale Zivilgesellschaft braucht eine Pädagogik, die den Menschen als sich immer entwickelndes Wesen in den Mittelpunkt stellt“, so Henning Kullak-Ublick, Vorstand und Gastgeber des Festtages.
Unter dem Bumerangeffekt verstehe ich, daß dasjenige, von dem man sich mit aller Kraft zu distanzieren versucht, mit größerer Stärke zu einem selbst zurückkehrt. Psychologisch funktioniert er so:
Der Bumerangeffekt ist dann gegeben, wenn bei Beeinflussungsversuchen der Sender der Botschaft in diesem Fall offenbar das Gegenteil von dem erreicht, was er erreichen wollte; eine den Intentionen des Senders einer Botschaft diametral zuwiderlaufende Reaktion seitens des Adressaten.
Was ist in 100 Jahren Waldorfpädagogik geschehen? Wann holt der Bumerangwerfer Schwung, und wann beginnt der Rückflug des Wurfgeschosses? Kann man sich drunter wegducken? Wird’s trotzdem noch ein schönes Fest?
Als Christoph Lindenbergs richtungsweisendes Werk zur Waldorfpädagogik aus dem Jahre 1975 waldorfschulen: angstfrei lernen, selbstbewußt handeln erschien, war die linke Richtung der Waldorfpädagogikumdeutung schon eingeschlagen. Lindenberg fragte sich im Vorwort, wie die Waldorfschule seit ihrer Gründung 1919 öffentlich wahrgenommen wurde, und mußte feststellen: entweder wurde ihr spinnertes Sektierertum oder die Funktion, die „Opfer des Erziehungssystems“, Schulversager, schwierige und zurückgebliebene Kinder aufzufangen, zugeschrieben. Nennenswert politisch waren diese Zuschreibungen nicht. Er zitierte sogar einen Kollegen, der 1972 festgestellt hatte: „Die weltanschauliche Gebundenheit der Waldorfschulkreise und deren Konzentration auf Steiners Lehre sind u.a. Ursache dafür, daß in dieser Schule in ungebrochener Tradition ein Stück Reformpädagogik bis heute lebendig geblieben ist.“ Waldorfschulen sind in der Tat auf faszinierende Weise aus der Zeit gefallen: wo sonst spricht man noch dieselben Sprüche, vollführt dieselben lebensreformerischen Gebärden und Tänze und schreibt dieselbe Schrift wie in den 20er Jahren?
Lindenberg selbst unternahm nun den Versuch, die „radikale Änderung des Grundkonzepts von dem, was Schule überhaupt ist“ aus der steinerschen Pädagogik herauszufiltern. Das ist grundsätzlich sinnvoll, denn wie alle Reformpädagogiken ist auch die Waldorfpädagogik angetreten, die alte Schule umzustoßen durch eine menschengemäße neue Schule. Doch offensichtlich ist der Inhalt des „Menschengemäßen“ gelinde gesagt verschieden akzentuierbar. Steiner erscheint Lindenberg als eine offene Matrix, in die die eigenen Ziele projiziert werden können, und es ist wie ein Wunder, daß all die Projektionen ihm kaum etwas anhaben können und „in ungebrochener Tradition ein Stück Reformpädagogik“ in der Schulpraxis stets überlebt, sogar bis auf den heutigen Tag.
Lindenbergs Akzenturierung oder auch Vereinseitigung schaute so aus: Waldorfschulen pflegten doch seit ihrer Gründung freie demokratische Selbstverwaltung, das Kind sollte nicht „den Stoff lernen“, sondern frei sein. Er betonte die Arbeit im Sinne der „Arbeitsschule“, keine Auslese und kein Sitzenbleiben, Gesamtschule, Selbstreflexion der Lehrer, Gruppenarbeit, Schule als „weitgehend staatsfreier pädagogischer Raum“. Von den ursprünglichen Vorstellungen Steiners von der Fügung in die geliebte Autorität, der heilenden Aufgabe des Lehrers, vom göttlichen Menschen, dem „Führer in mir“, vom Organischen und von der „Volksseele“ im Kinde war nicht die Rede.
1999 erschienen die marxistische Polemik „Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister“ von Peter Bierl und zahlreiche Zeitungsartikel von Jutta Dithfurth et. al. in dessen Dunstkreis, die bei Rudolf Steiner das Vollbild einer „faschistischen“ Pädagogik finden wollten. Die anthroposophische Erziehungswissenschaft wehrte sich entschieden, allen voran Lorenzo Ravagli. Zum ersten Mal fiel der Ausdruck „political correctness“. In einem Erziehungskunst-Aufsatz resümiert der Autor Johannes Kiersch im Jahre 2000:
Zugleich aber werden wir uns damit abfinden müssen, dass gegen fundamentalistische Entartungen der Political Correctness bisher kein Kraut gewachsen ist. Wir werden auch weiterhin aus dieser Ecke mit Angriffen zu rechnen haben, wie alle, denen die Freiheit des Wortes ein unveräußerliches Rechtsgut geworden ist.
Sieben Jahre darauf versuchen die Waldorfpädagogen die Flucht nach vorn. Die von der Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen verabschiedete „Stuttgarter Erklärung gegen Rassismus und Diskriminierung“ wurde am 16.11. 2007 im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin der Öffentlichkeit präsentiert. Sie sollte ein Bollwerk dagegen bilden, daß in immer wiederkehrenden Rassismusvorwürfen gegen die Anthroposophie einzelne Sätze aus dem Werk Rudolf Steiners zitiert werden, die „diskriminierend wirken“. Für mit der Materie einigermaßen Vertraute sind sie jedoch, wie bei jedem großen Autor, aus dem jeweiligen Kontext erläuterbar. Mit der offiziellen Erklärung aller deutschen Waldorfschulen wollte man sich distanzieren von den Vorwürfen und „Klarheit schaffen“. Doch der soziale Druck, der die „Stuttgarter Erklärung“ zu einer Angsterklärung machte, war groß, zumal bei der Präsentation die Betreiber des Indizierungsverfahrens gegen zwei Werke Steiners zugegen waren und die Kameras der Medien einer im „Kampf gegen Rechts“ vereinten Republik darauf gerichtet waren. Der Bumerangwerfer hob den Arm.
Zehn Jahre Pause war den Anthroposophen danach noch vergönnt. Doch diese Angsterklärung nach außen wirkte auch nach innen angsterzeugend, mit dem Resultat zunehmender offener Politisierung. Einer der Väter der „Stuttgarter Erklärung“, der bereits erwähnte Henning Kullak-Ublick, schrieb schließlich in der Erziehungskunst einen politischen Leitartikel, titelnd „2017 wird in Europa gewählt und nicht alle haben Angst davor“, aus dem es sich zu zitieren lohnt, um den Stimmungsumschwung hin zur Politisierung der Waldorfpädagogik zu spüren:
1917, kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, initiierte Rudolf Steiner eine politische Bewegung, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als zentrale Ordnungsprinzipien moderner Gesellschaften erschloss: Das Geistes- und Kulturleben bedarf der Freiheit, der demokratische Rechtsstaat basiert auf dem Gleichheitsgrundsatz und das arbeitsteilige Wirtschaftsleben bedarf der assoziativen Zusammenarbeit, was konsequent gedacht früher oder später zu einem globalen Begriff der Brüderlichkeit führt. Obwohl die politische Bewegung damals scheiterte, beziehen sich drei bedeutende zivilgesellschaftliche Bewegungen der Gegenwart auf exakt diese Prinzipien und stellen zusammen einen radikalen Gegenentwurf zu den brandgefährlichen nationalistischen Strömungen von 2017 dar.
Was kann man nicht alles in der Steinermatrix unterkriegen, wenn man sich gut verkaufen will! Die Waldorfpädagogik richtete sich spätestens zu diesem Zeitpunkt selber aktiv im Kampf gegen Rechts ein, gegen „Rassismus, Nationalismus, Diskriminierung“ und Populismus, und brachte sich im Namen von „Freiheit“, „Demokratie“ und Globalismus auf staatstragende Linie. Steiners Ideen gelten Kullak-Ublick als „radikaler Gegenentwurf“ zum politischen Geschehen der unmittelbaren Gegenwart, gegen Rechtsruck, Wiedererstarken des Nationalismus und populistische Elitenkritik.
Der Bumerang kommt zurück. Distanzierungen bis hin zu regelrechter Steinerexkommunikation nützen dem Werfer nichts, im Gegenteil, er kann sich vor dem Aufprall des eigenen Wurfes nicht schützen. Kullack-Ublicks Auftritt in dem widerwärtig-genüßlich denunziatorisch angelegten ARD-Kontraste-Filmchen zur Hundertjahrfeier spricht Bände: am liebsten wäre er gar kein Anthroposoph mehr. Er duckt sich weg. Doch der Rassismus‑, Okkultismus- und Esoterikvorwurf holzt immer wieder alles kurz und klein.
Oktroyierte und kriecherische Vergangenheitsbewältigung läuft grundsätzlich verquält, verdreht und mit gewaltigen Rückschlageffekten ab – egal, ob man sich die „Historikerkommission“ der FPÖ, die Kantenschere gegen den rechts ausfransenden Narrensaum oder die Neuerfindung der Anthroposophie als „Kundenanthroposophie“, nur echt mit Globalismus-Siegel, anschaut.
Martin Barkhoff hat kürzlich den Unterschied zwischen “Kundenanthroposophie” und “Freundesanthroposophie” beschrieben. Wer aller Welt gefallen will, sich als Produkt verkauft, auf den antifaschistischen, weltoffenen und klimaneutralen peace train aufspringt, verrät sich selbst. Barkhoff verglich die heutigen Mainstreamanthroposophen mit einem „Amway“-Anhänger, mit dem jedes Freundschaftsgespräch zum Verkaufsgespräch mutiert. Waldorf als Wellnessware, die mit One-World-Verkaufsstrategie an den Kunden gebracht wird, rechnet mit Eltern, die keine Anthroposophen mehr sind, sondern „bewußte“ Ökokonsumenten. Und immer wieder saust der Bumerang auf sie zurück, Steiner läßt sich einfach nicht kleinkriegen.
Alan Posener findet, Waldorf sei ganz supidupi drauf heute, unappetitlicher Steiner nach hundert Jahren einigermaßen verdaut:
Die Waldorfschulen basieren auf einer anti-nationalistischen, inklusiven Vorstellung von Menschsein“, lobt der „Welt“-Journalist und frühere Lehrer Alan Posener das Schulmodell. Das sei – zumal in Deutschland – „etwas ganz Großartiges“.
Und ganz zu recht habe man das „AfD-Kind“ ausgeschlossen, Hut ab vor dieser Waldorfschule! Poseners Begründung bringt dann exakt zusammen, was ich als den Bumerangeffekt bezeichne:
… das, wofür die AfD steht, also Deutschtümelei, Elitenfeindschaft, Nationalismus, Europaskepsis und Globalisierungskritik, steht im Widerspruch zum Selbstbild der Waldorfschulen insgesamt – die sich gern von den unappetitlicheren Ideen Steiners distanzieren wollen – und der betreffenden Berliner Schule insbesondere.
Die AfD als Rachegöttin Rudolf Steiners? Eher wohl als Symptom eines hundertjährigen Projektionstheaters, in dem Feinde und Verteidiger nur noch mit Mühe unterscheidbar sind und sich der Widerchrist ins Fäustchen lacht.
Die Kundenanthroposophie wird alle Kraft einsetzen und alle kundenvertreibenden Ideen, Haltungen und Menschen über Bord werfen oder auf dem Scheiterhaufen verbrennen, um den Kunden zumutbar zu bleiben. Sie wird versuchen, durch die geforderten Mittel von Abgrenzung, Ausgrenzung, öffentlichen Bekenntnissen, „individuell“ und in Massen, ihre polit-religiöse Korrektheit zu erweisen. Sie kann nicht anders. Sie wird alle menschlichen Beziehungen in den Dienst der Kundenbeziehung, letztlich des Verkaufens stellen. Wie Amway. Es fahren die geistfeindlichen Mächte auch in den Doppelgänger der Anthroposophie, sodaß er sich als ihr Feind entgegenstellt. Das ist eine wichtige Prüfung. Nun gilt es, die Geister zu unterscheiden. (Martin Barkhoff)
Es wird dabei aufs Anderssein ankommen. In diesen Zeiten ist das Dazugehörenwollen reines Gift. Ich-schwachen Menschen kann man Doppelgänger, leere Waren und Learn-to-change-the-World-Utopien verkaufen, weil sie dazugehören wollen. Ein starkes Ich steht – in all seinen reichen sozialen Beziehungen – als Solitär und will sich nirgendwo mitziehen lassen. Soziale Triebe haben einschläfernde Kraft. Um sein eigenständiges Denken zu bewahren, muß man versuchen, wach zu bleiben. Steiner hat die Waldorfschule als einen Organismus entwickelt – und genauso wie man vom Individuum zur „Menschheit“ auf eine Abstraktionsfarce konditioniert werden soll, wird dies auch mit der Konditionierung der Waldorfschule als solcher versucht. Es steht aber dem Anspruch entgegen, mit dem Steiner die Waldorfpädagogik ins Leben gerufen hat, sie Kollektivzwängen und Kollektivmanipulationen zu unterwerfen. Dies geschieht mit jedweder Einschwörung auf ein Bekenntnis, womit auch immer eine Gruppenseele in Anspruch genommen wird.
Gruppenseelen haben den Menschen in früheren Epochen bei ihrer Entwicklung geholfen, heute sind sie dieser hinderlich und somit ein entwicklungspsychologisches Dekadenzphänomen. Noch ist bis auf weiteres einige Jahrhunderte Ich-Entwicklung dran. “Immer noch ist es die Zeit der Einzelnen”. Publikum noch stundenlang / wartete auf Bumerang …
Gustav Grambauer
Vieleicht krieg` ich ja `ne Extra-Tanzrunde mit der Sahra:
"Hat der alte Hexenmeister
sich doch einmal wegbegeben!
Und nun sollen seine Geister
auch nach Anthro-Goodies Willen leben.
Seine Wort und Werke
merke(l)n wir und den Brauch,
und mit PC-Stärke
tun wir Wunder auch.
Walle! walle
Manche Strecke,
daß, zum Zwecke,
Buntheit sprieße
und mit tollerantem Dralle
in der Oneworld sich erschließe.
Und nun komm, du alter Doktor!
Nimm die schlechten Lumpenhüllen;
bist nur noch der Schuldig-Mohr:
nun erfülle meinen Willen!
Auf zwei Beinen stehe,
oben sei ein Kopf,
eile nun und gehe
mit dem Vielfalts-Farbentopf!
...
Seht, er läuft zum Bahnhof nieder,
Wahrlich! ist schon an dem Gleis,
und mit Blitzesschnelle wieder
bringt er den Willkommenbeweis.
Unzählige Würfe!
Wie die Teddybärchen fliegen!
Wie der Merkelgast ihrer bedürfe:
die Willkommenskultur wird siegen!
...
Und sie laufen! Naß und nässer
Ein Blutmeer an des Dornachhügels Stufen.
Welch entsetzliches Gemesser!
Herr und Meister! hör mich rufen! –
Ach, da kommt der Meister!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.
'In die Ecke,
Henning, Henning!
Seids gewesen.
Denn als Geister
ruft euch, ohne Kundenanthropo-Pfenning,
erst hervor der alte Meister.'"
- G. G.