Das Gesamtdeutsche Institut in seiner Zeit

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 /Januar 2006

sez_nr_12von Detlef Kühn

Nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 wurden in Deutschland zahlreiche Behörden „abgewickelt.“ Die meisten gehörten zum Apparat der gerade untergegangenen DDR. Einige Ausnahmen gab es allerdings auch in der alten Bundesrepublik. Sie hatten durch den ruhmlosen Abgang der DDR ebenfalls ihre Funktion verloren. Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin, eine nachgeordnete Behörde aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzleramts, hatte am 3. Oktober 1990 ihre Ansprechpartner in der DDR eingebüßt. Weitgehend funktionslos war nunmehr auch das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, das bis 1969 Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen hieß. Es wurde im Januar 1991 abgeschafft und organisatorisch vom Bundesministerium des Innern übernommen. Seine einzige nachgeordnete Behörde mit dem komplizierten Namen „Gesamtdeutsches Institut – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben“ ereilte das Schicksal am 31. 12. 1991. Seine rund 250 Mitarbeiter in Bonn und Berlin wurden zum großen Teil von der Bundeszentrale für politische Bildung und vom Bundesarchiv, andere auch vom Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR oder vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und anderen Behörden übernommen.


Schon 1991 und gele­gent­lich auch spä­ter konn­te man ange­sichts von Pro­ble­men mit den Fol­gen der Wie­der­ver­ei­ni­gung hören, es wäre bes­ser gewe­sen, das Gesamt­deut­sche Insti­tut nicht so schnell auf­zu­lö­sen, son­dern den in ihm ver­sam­mel­ten Sach­ver­stand wei­ter zu nut­zen, um das Zusam­men­wach­sen der bei­den so lan­ge von ein­an­der getrennt gewe­se­nen Tei­le Deutsch­lands zu erleich­tern. Daß in kei­ner ande­ren Behör­de der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land so viel Wis­sen über die DDR kon­zen­triert war wie im Gesamt­deut­schen Insti­tut, ist eben­so rich­tig wie selbst­ver­ständ­lich. Fast alle Mit­ar­bei­ter, vom Sach­be­ar­bei­ter bis zum Prä­si­den­ten, hat­ten sich ihr gan­zes beruf­li­ches Leben lang mit den Ver­hält­nis­sen in der SBZ / DDR und den Pro­ble­men und Fol­gen der deutsch­land­po­li­ti­schen Ent­wick­lung nach dem Krie­ge beschäf­tigt. Die­ses Poten­ti­al unge­nutzt zu las­sen, wäre in der Tat ein schwe­rer Feh­ler gewe­sen. Den­noch war ich als lang­jäh­ri­ger Prä­si­dent des Gesamt­deut­schen Insti­tuts damals wie heu­te der Auf­fas­sung, daß es falsch gewe­sen wäre, nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung künst­lich nach wei­te­ren Auf­ga­ben zu suchen. Ich befürch­te­te, mei­ne Behör­de hät­te dann, ohne die Din­ge man­gels Kom­pe­ten­zen kon­kret beein­flus­sen zu kön­nen, nur als Sün­den­bock für alle Feh­ler gedient, die im Eini­gungs­pro­zeß mehr oder weni­ger unver­meid­lich waren.
An Feh­lern hat es in der Tat nicht gefehlt. Vie­le waren auch auf man­geln­den Sach­ver­stand bei den han­deln­den Poli­ti­kern und Beam­ten zurück­zu­füh­ren, die meis­tens sogar glaub­ten, fach­li­che Bera­tung nicht nötig zu haben oder bestimm­te Lösun­gen aus rein poli­ti­schen Grün­den, ohne Rück­sicht auf die Fol­gen, favo­ri­sie­ren zu müs­sen. Im übri­gen sind die gra­vie­rends­ten Fehl­ent­schei­dun­gen bereits 1990 erfolgt, zu einer Zeit, als das Gesamt­deut­sche Insti­tut noch intakt, aber im Wie­der­ver­ei­ni­gungs­pro­zeß mit sei­nem Sach­ver­stand kaum gefragt war. Dar­an ändert auch nichts, daß vie­le Mit­ar­bei­ter nach der Auf­lö­sung des Gesamt­deut­schen Insti­tuts in ihren neu­en Behör­den auf der Basis ihrer Kennt­nis­se und Erfah­run­gen durch­aus sach­ge­recht wir­ken konnten.

Wenn auch das Gesamt­deut­sche Insti­tut als Bun­des­be­hör­de nur 22 Jah­re exis­tier­te, kann es doch nütz­lich sein, sei­ne Arbeit vor dem Hin­ter­grund der dama­li­gen Deutsch­land­po­li­tik und der Ver­än­de­run­gen des Zeit­geis­tes zu bewerten.
Poli­tisch und orga­ni­sa­to­risch ist die Behör­de, die im Som­mer 1969 ihre Arbeit auf­nahm, ein Kind der Gro­ßen Koali­ti­on der 1960er Jah­re. Poli­tisch zustän­dig war der dama­li­ge Bun­des­mi­nis­ter für gesamt­deut­sche Fra­gen, der SPD-Poli­ti­ker Her­bert Weh­ner. Die orga­ni­sa­to­ri­schen Vor­be­rei­tun­gen tra­ten im Lau­fe des Jah­res 1968 in ihre kon­kre­te Pha­se. Die neue Bun­des­be­hör­de muß­te nicht aus dem Boden gestampft wer­den. Es gab zahl­rei­che, pri­vat­recht­lich orga­ni­sier­te Vor­gän­ger­ein­rich­tun­gen, die – aus Bun­des­mit­teln finan­ziert – nun­mehr unter dem Dach einer soge­nann­ten Obe­ren Bun­des­be­hör­de („obers­te“ Bun­des­be­hör­den sind die Minis­te­ri­en) zusam­men­ge­faßt wer­den sollten.
Aus der Sicht Weh­ners hat­te das ver­schie­de­ne Vor­tei­le. Vor­gän­ger­ein­rich­tun­gen wie der Unter­su­chungs­aus­schuß Frei­heit­li­cher Juris­ten (UFJ) in Ber­lin oder der Ver­ein zur För­de­rung der Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands mit sei­nen Unter­or­ga­ni­sa­tio­nen, dar­un­ter das Büro Bon­ner Berich­te, muß­te zwar der Bund finan­zie­ren, sie konn­ten aber trotz die­ser finan­zi­el­len Abhän­gig­keit im Tages­ge­schäft nur schwer poli­tisch ange­lei­tet wer­den. Dem poli­ti­schen Vor­teil, daß das Minis­te­ri­um sich nicht mit jedem Detail der Arbeit sei­ner Vor­feld­or­ga­ni­sa­tio­nen in der Öffent­lich­keit, etwa im Bereich der Pro­pa­gan­da, iden­ti­fi­zie­ren las­sen muß­te, stand der Nach­teil gegen­über, die Per­so­nal­ent­schei­dun­gen dort nur müh­sam steu­ern und Ein­zel­wei­sun­gen unter Umstän­den über­haupt nicht durch­set­zen zu kön­nen. Es war eine tak­ti­sche Fra­ge, wor­auf man mehr Wert leg­te: Auf die Mög­lich­keit, sich jeder­zeit von Maß­nah­men oder Aktio­nen der Vor­feld­or­ga­ni­sa­tio­nen distan­zie­ren zu kön­nen, wenn dort etwas schief lief, oder die Gewähr zu haben, daß der poli­ti­sche Wil­le des Minis­te­ri­ums stets schnell und eins zu eins in Taten umge­setzt wird. Im Geschäfts­be­reich des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für gesamt­deut­sche Fra­gen über­wog bis zur Errich­tung der Mau­er 1961 das ers­te­re Inter­es­se. Danach wur­de es aus Sicht des Minis­te­ri­ums zweck­mä­ßi­ger, den unmit­tel­ba­ren Zugriff zu haben. Die­se Über­le­gung hat­te schon Weh­ners Vor­gän­ger im Amt, der FDP-Vor­sit­zen­de Erich Men­de, ange­stellt. Aber erst Weh­ner war macht­be­wußt genug, die ent­schei­den­den orga­ni­sa­to­ri­schen Wei­chen­stel­lun­gen vor­zu­neh­men und damit nicht zuletzt auch das bis dahin bestehen­de Über­ge­wicht kon­ser­va­ti­ver bezie­hungs­wei­se der CDU / CSU nahe­ste­hen­der Per­so­nen zuguns­ten einer Per­so­nal­po­li­tik zu mil­dern, die mehr die Inter­es­sen der SPD berücksichtigte.
Sicher­lich lag die neue orga­ni­sa­to­ri­sche Struk­tur auch im Inter­es­se vie­ler Mit­ar­bei­ter bis­he­ri­ger Zuwen­dungs­emp­fän­ger, die jetzt in der neu­en Bun­des­an­stalt auf­gin­gen. Wer vom Gesamt­deut­schen Insti­tut über­nom­men wur­de, genoß eine grö­ße­re sozia­le Sicher­heit. Oft ver­dien­te man auch im Gel­tungs­be­reich des Bun­des­an­ge­stell­ten­ta­rifs mehr oder hat­te bes­se­re Beförderungschancen.
Unter der Gro­ßen Koali­ti­on war klar, daß die den Bun­des­kanz­ler stel­len­de Uni­on im Bereich der nach­ge­ord­ne­ten Behör­de des, wie man damals noch kurz sag­te, „gesamt­deut­schen“ Minis­te­ri­ums Her­bert Weh­ners das Feld nicht kampf­los räu­men wür­de. So wur­den alle Füh­rungs­po­si­tio­nen im Gesamt­deut­schen Insti­tut, Prä­si­dent, Vize­prä­si­dent und Abtei­lungs­lei­ter, sowie fast alle Posi­tio­nen im Bereich der Refe­rats­lei­ter sorg­fäl­tig auf Ange­hö­ri­ge von CDU, die auch den ers­ten Prä­si­den­ten Lud­wig Reh­lin­ger stell­te, und SPD, die den Vize­prä­si­den­ten nomi­nier­te, ver­teilt. Dabei blieb es bis Ende 1971.

Reh­lin­ger, ein in der Deutsch­land­po­li­tik erfah­re­ner Beam­ter und Ver­trau­ter des Poli­ti­kers Rai­ner Bar­zel, dem er bereits 1963 – als die­ser Bun­des­mi­nis­ter für gesamt­deut­sche Fra­gen war – gedient hat­te, stand gegen die Neue Ost­po­li­tik der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on, die nach der Bun­des­tags­wahl 1969 ein­ge­lei­tet wur­de. Ende 1971, als sich die Mög­lich­keit abzeich­ne­te, daß die CDU / CSU durch Über­trit­te von Abge­ord­ne­ten der FDP und SPD doch noch zu einer Mehr­heit im Bun­des­tag kom­men könn­te, woll­te er dem Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den der CDU / CSU Bar­zel hel­fen, Bun­des­kanz­ler zu wer­den. Er ließ sich als Prä­si­dent des Gesamt­deut­schen Insti­tuts beur­lau­ben und trat in die Diens­te der Uni­ons­frak­ti­on. Die Uni­on hoff­te, einen der ihren wie­der als Prä­si­den­ten eta­blie­ren zu können.
Dazu war aber die SPD, die nun­mehr mit Egon Fran­ke den Bun­des­mi­nis­ter für inner­deut­sche Bezie­hun­gen stell­te, nicht mehr bereit. Am liebs­ten hät­te sie selbst den Prä­si­den­ten gestellt, was aber der ursprüng­li­chen Ver­ab­re­dung mit der CDU wider­spro­chen hät­te. In die­sem Dilem­ma ergab sich für die nun­meh­ri­ge Regie­rungs­par­tei FDP die Chan­ce, eige­ne Ansprü­che anzu­mel­den, was Bun­des­mi­nis­ter Hans-Diet­rich Gen­scher auch tat. Er favo­ri­sier­te zunächst Wolf­gang Scholl­wer. Als die­ser sich an dem Ver­wal­tungs­pos­ten des­in­ter­es­siert zeig­te, benann­te Gen­scher mich. Ein Vor­stel­lungs­ge­spräch bei Bun­des­mi­nis­ter Fran­ke über­zeug­te die­sen, daß es sich bei mir um einen offen­si­ven Ver­tre­ter der neu­en Ost­po­li­tik han­del­te. So wur­de ich im März 1972 vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Innern, wo ich als Regie­rungs­di­rek­tor tätig war, zum Gesamt­deut­schen Insti­tut mit dem Zie­le der Ver­set­zung abge­ord­net und mit der Wahr­neh­mung der Geschäf­te des Prä­si­den­ten betraut. Einer sofor­ti­gen Ver­set­zung und Beför­de­rung zum Prä­si­den­ten stand die Tat­sa­che ent­ge­gen, daß die Stel­le des Prä­si­den­ten noch von Reh­lin­ger besetzt war. Für ihn muß­te erst eine Leer­stel­le im Haus­halt des Gesamt­deut­schen Insti­tuts geschaf­fen wer­den, was ange­sichts des für 1972 noch feh­len­den Haus­halts­ge­set­zes nicht sofort mög­lich war. Erst nach­dem Bar­zels Ver­such eines kon­struk­ti­ven Miß­trau­ens­vo­tums geschei­tert war und die vor­ge­zo­ge­nen Bun­des­tags­wah­len wie­der eine ein­deu­ti­ge Mehr­heit für die sozi­al­li­be­ra­le Koali­ti­on gebracht hat­ten, konn­te ich zum Jah­res­en­de 1972 auch offi­zi­ell das Amt einnehmen.
Das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für gesamt­deut­sche Fra­gen war im Herbst 1969 bei der Bil­dung der Bun­des­re­gie­rung der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on in Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen umbe­nannt wor­den. Die­ser Namens­wech­sel soll­te der Füh­rung der DDR, mit der man bis­her kei­ner­lei offi­zi­el­le Bezie­hun­gen unter­hielt, signa­li­sie­ren, daß eine Ände­rung der Deutsch­land­po­li­tik beab­sich­tigt sei. Dum­mer­wei­se kam die­se Bot­schaft aber bei der SED-Füh­rung nicht so an wie beab­sich­tigt. Sie woll­te zwar unbe­dingt von der Bun­des­re­pu­blik „aner­kannt“ wer­den und war daher an offi­zi­el­len Bezie­hun­gen inter­es­siert. Die­se Bezie­hun­gen soll­ten aber völ­ker­recht­li­cher Art sein und nicht mehr als bloß „inner­deut­sche“ der Vor­be­rei­tung der Wie­der­ver­ei­ni­gung die­nen. Inso­fern hat­te die SED, ob aus eige­nem Antrieb oder auf Wunsch der Sowjet­uni­on sei dahin­ge­stellt, jetzt, fast zehn Jah­re nach der Errich­tung der Mau­er, einen grund­sätz­li­chen Wan­del gegen­über ihrer Deutsch­land­po­li­tik der fünf­zi­ger Jah­re vor­ge­nom­men. Anfangs woll­te man noch die Wie­der­ver­ei­ni­gung, natür­lich unter kom­mu­nis­ti­schen Vor­zei­chen. Jetzt woll­te man vom Wes­ten vor allem bei den Bemü­hun­gen um Kon­so­li­die­rung der DDR unge­stört blei­ben – bes­ser noch: mate­ri­ell unter­stützt werden.

Fol­ge­rich­tig ging es bei den Ver­hand­lun­gen der Bun­des­re­gie­rung mit der Regie­rung der DDR vor allem um die „natio­na­le Fra­ge“. Aus ver­fas­sungs­recht­li­chen Grün­den und mit Rück­sicht auf vie­le Wäh­ler konn­ten und woll­ten damals alle grö­ße­ren west­deut­schen Par­tei­en auf die Opti­on Wie­der­ver­ei­ni­gung nicht ver­zich­ten. Als der Ver­trag über die Grund­la­gen der Bezie­hun­gen zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik 1971 die Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten in der „natio­na­len Fra­ge“ aus­drück­lich aus­klam­mer­te, ging es nur noch um die Orga­ni­sa­ti­on der vom Wes­ten als „inner­deutsch“ betrach­te­ten Bezie­hun­gen. Das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen wur­de von der DDR-Füh­rung als Ansprech­part­ner rund­weg abge­lehnt. Für die west­deut­sche Stän­di­ge Ver­tre­tung in Ost- Ber­lin bestand man auf dem DDR-Minis­te­ri­um für Aus­wär­ti­ge Ange­le­gen­hei­ten als Ansprech­part­ner. Fol­ge­rich­tig hät­te man es auch gern gese­hen, wenn die eige­ne Stän­di­ge Ver­tre­tung in Bonn mit dem dor­ti­gen Aus­wär­ti­gen Amt hät­te ver­han­deln dür­fen. Da das aller­dings der Bun­des­re­gie­rung zu weit ging, einig­te man sich auf eine orga­ni­sa­to­ri­sche Unter­stel­lung der Stän­di­gen Ver­tre­tung in Ost-Ber­lin unter das Bun­des­kanz­ler­amt in Bonn, das in Zukunft auch als Ansprech­part­ner für die Stän­di­ge Ver­tre­tung der DDR fungierte.
Nach­dem man sich im poli­ti­schen Bonn die Zustän­dig­kei­ten von eige­nen Behör­den qua­si von der DDR hat­te vor­schrei­ben las­sen, spiel­te das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen in dem Teil der Deutsch­land­po­li­tik, für den sein Name stand, nur noch eine Rol­le am Ran­de. Es ent­sand­te zwar Ver­tre­ter in alle Dele­ga­tio­nen und Kom­mis­sio­nen, die mit der DDR ver­han­del­ten, wur­de aber von der DDR bis 1989, wo immer mög­lich, igno­riert. Das galt erst recht für sei­ne nach­ge­ord­ne­te Behör­de, das Gesamt­deut­sche Insti­tut, das bei gele­gent­lich unver­meid­li­chen Begeg­nun­gen von offi­zi­el­len DDR-Ver­tre­tern nur als „das Insti­tut mit dem unaus­sprech­li­chen Namen“ apo­stro­phiert wur­de. Unter die­sen Umstän­den wäre es 1972 eigent­lich kon­se­quent gewe­sen, wenn man in Bonn das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen abge­schafft und das Gesamt­deut­sche Insti­tut dem Bun­des­kanz­ler­amt oder dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um des Innern unter­stellt hätte.
Da es dazu aber aus innen­po­li­ti­schen Rück­sich­ten nicht kam, spiel­te die ver­blei­ben­de Kom­pe­tenz zur Fach­auf­sicht über die nach­ge­ord­ne­te Behör­de im Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen eine beson­ders gro­ße Rol­le. Zum Teil wur­den auch nicht­mi­nis­te­ri­el­le Auf­ga­ben, etwa im Bereich der deutsch­land­po­li­ti­schen Bil­dungs­ar­beit, im Minis­te­ri­um erle­digt, was zu Inkon­se­quen­zen und Rei­bungs­ver­lus­ten führ­te. Vor allem aber gab es im Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen mehr Refe­ra­te, die Fach­auf­sicht über das Gesamt­deut­sche Insti­tut aus­üb­ten, als die­ses selbst Refe­ra­te hat­te. Spöt­ter mein­ten damals, Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen bedeu­te eigent­lich „Bun­des­mi­nis­te­ri­um zur Beob­ach­tung des Gesamt­deut­schen Insti­tuts“. Orga­ni­sa­to­risch war das natür­lich alles Unfug. In der Pra­xis wirk­te es sich aber nicht so ver­hee­rend aus, wie es klingt, weil sich ein­mal mehr eine Weis­heit aus der Bun­des­wehr bewahr­hei­te­te, wonach eine dop­pel­te Unter­stel­lung oft bes­ser ist als eine ein­fa­che Unab­hän­gig­keit. Im Klar­text: Gab es unter­schied­li­che oder gar wider­sprüch­li­che Signa­le aus dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um für inner­deut­sche Bezie­hun­gen, konn­ten wir im Gesamt­deut­schen Insti­tut uns aus­su­chen, wel­chen wir folg­ten. So konn­te ich vor allem in der poli­ti­schen Bil­dung an den Grund­sät­zen fest­hal­ten, die ich für beson­ders wich­tig erach­te­te, etwa am Wie­der­ver­ei­ni­gungs­an­spruch und an der Not­wen­dig­keit einer ope­ra­ti­ven Wie­der­ver­ei­ni­gungs­po­li­tik, alles Grund­sät­ze, die in der zwei­ten Hälf­te der sieb­zi­ger und in den acht­zi­ger Jah­ren immer weni­ger selbst­ver­ständ­lich wurden.

Als ich mei­nen Dienst im Gesamt­deut­schen Insti­tut antrat, war mei­ne deutsch­land­po­li­ti­sche Welt aller­dings noch weit­ge­hend in Ord­nung. In der Zeit der Gro­ßen Koali­ti­on hat­te ich als Assis­tent der FDP-Bun­des­tags­frak­ti­on an dem Ent­wurf eines Gene­ral­ver­trags zwi­schen Bun­des­re­pu­blik und DDR mit­ge­ar­bei­tet, der zwei Jah­re spä­ter als Vor­ent­wurf für den Grund­la­gen­ver­trag dien­te. Die Grund­idee der Neu­en Ost­po­li­tik leuch­te­te mir ein: Man muß­te mit jedem reden, der die Ver­hält­nis­se im geteil­ten Deutsch­land im Guten wie im Bösen beein­flus­sen konn­te. Bis dies zur Lösung der deut­schen Fra­ge – wor­un­ter ich mir nur die Wie­der­ver­ei­ni­gung vor­stel­len konn­te – führ­te, muß­te man alles tun, um das Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl der Deut­schen in Ost und West zu stär­ken und auf die­se Wei­se die Ein­heit der Nati­on zu wah­ren. Den Opti­mis­mus, daß Deutsch­land „unteil­bar“ sei, wie es auf Pla­ka­ten hieß, teil­te ich nicht, aber ich woll­te jeden­falls ein wei­te­res Aus­ein­an­der­le­ben der Deut­schen ver­hin­dern. Des­halb muß­ten mög­lichst vie­le Begeg­nun­gen über die Zonen­gren­ze hin­weg ermög­licht wer­den. Auch ich selbst fuhr so oft es ging in die DDR. Jede Rei­se eines West­deut­schen in die DDR betrach­te­te ich sozu­sa­gen als win­zig klei­nen Schritt auf dem müh­sa­men Weg zur Wie­der­ver­ei­ni­gung. Die grö­ße­ren Schrit­te muß­ten natür­lich, so erwar­te­te ich, im Rah­men einer ope­ra­ti­ven Wie­der­ver­ei­ni­gungs­po­li­tik vor allem gegen­über der Sowjet­uni­on vor­be­rei­tet wer­den. Hier war ich auch im Bereich der Sicher­heits­po­li­tik zu Zuge­ständ­nis­sen bereit. Wenn ich bei Vor­trä­gen, in Semi­na­ren und Publi­ka­tio­nen die­se Über­le­gun­gen vor­trug, fürch­te­te ich vor allem den Ein­wand, ich sei ja wohl ein Neu­tra­list. Mit die­sem Tot­schlag­ar­gu­ment konn­te man schon seit Ade­nau­er jeden, dem die offi­zi­el­le Deutsch­land­po­li­tik der blo­ßen Rechts­be­wah­rung nicht genüg­te, poli­tisch erledigen.
Ent­schei­den­de Hil­fe kam in die­ser Situa­ti­on vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt, das im Urteil zum Grund­la­gen­ver­trag 1973 den wohl­durch­dach­ten Leit­satz 4 ver­öf­fent­lich­te, den ich bei allen öffent­li­chen Äuße­run­gen immer wie einen Schutz­schild vor mich hielt: „Aus dem Wie­der­ver­ei­ni­gungs­ge­bot folgt: Kein Ver­fas­sungs­or­gan der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land darf die Wie­der­her­stel­lung der staat­li­chen Ein­heit als poli­ti­sches Ziel auf­ge­ben, alle Ver­fas­sungs­or­ga­ne sind ver­pflich­tet, in ihrer Poli­tik auf die Errei­chung die­ses Ziels hin­zu­wir­ken – das schließt die For­de­rung ein, den Wie­der­ver­ei­ni­gungs­an­spruch im Inne­ren wach­zu­hal­ten und nach Außen beharr­lich zu ver­tre­ten – und alles zu unter­las­sen, was die Wie­der­ver­ei­ni­gung ver­ei­teln würde.“
Es dau­er­te eini­ge Jah­re, bis ich erkann­te, daß mei­ne Freu­de über die­sen Spruch des höchs­ten deut­schen Gerichts von gro­ßen Tei­len der poli­ti­schen Klas­se der Bun­des­re­pu­blik nicht geteilt wur­de – bis hin­ein in das Bun­des­kanz­ler­amt und das mir vor­ge­setz­te Minis­te­ri­um. Der Leit­satz 4 wur­de weder von der Regie­rung Schmidt noch von der Regie­rung Kohl als ver­bind­li­che Hand­lungs­an­wei­sung betrach­tet oder gar befolgt. Poli­ti­sches Ziel war statt­des­sen zum einen „Ent­span­nung“ (nicht als Mit­tel zum Zweck, son­dern als Selbst­zweck) und ansons­ten „Mil­de­rung der Tei­lungs­fol­gen“. Im übri­gen ertön­te in den acht­zi­ger Jah­ren über­all in Bonn der Ruf „Wir wol­len doch die DDR nicht desta­bi­li­sie­ren“, was auch erheb­li­che finan­zi­el­le Maß­nah­men zur Sta­bi­li­sie­rung der maro­den DDR ermög­lich­te. Das erschien im Inter­es­se des Welt­frie­dens not­wen­dig. Der Sta­tus quo war akzep­ta­bel, nur weil er Rea­li­tät war.

Unter die­sen Umstän­den poli­ti­sche Bil­dung im Sin­ne des Ver­fas­sungs­auf­trags zu betrei­ben und in der ana­ly­ti­schen Arbeit jeder Ten­denz zu wider­ste­hen, die Ver­hält­nis­se in der DDR schö­ner dar­zu­stel­len, als sie waren, war nicht ein­fach. Ich glau­be mit Über­zeu­gung sagen zu dür­fen, daß sich die frei­en und haupt­amt­li­chen Mit­ar­bei­ter des Gesamt­deut­schen Insti­tuts den­noch immer an die­sem Auf­trag ori­en­tiert haben. Sie haben einem feind­li­chen Zeit­geist nach Kräf­ten Wider­stand geleis­tet. In den Augen des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit der DDR mach­te dies das Gesamt­deut­sche Insti­tut zu einer gefürch­te­ten Feind­or­ga­ni­sa­ti­on. Die Namen der „Schön­fär­ber und Hel­fers­hel­fer der SED-Dik­ta­tur im Wes­ten“ fül­len ein dickes Buch von Jens Hacker. Die Namen der­je­ni­gen, die in die­ser Zeit die Wie­der­ver­ei­ni­gung als poli­ti­sches Ziel nicht aus den Augen ver­lo­ren und die Ver­hält­nis­se in der DDR so dar­stell­ten, wie jeder, der woll­te, sie sehen konn­te, benö­ti­gen deut­lich weni­ger Platz. Dafür ist die­ses Buch aber auch noch nicht geschrieben.
Bis heu­te ist mir nicht klar, wie es in rela­tiv kur­zer Zeit zu die­ser ein­schnei­den­den Ver­än­de­rung des Zeit­geis­tes kom­men konn­te. Waren die 1968er dar­an schuld? Waren die Deut­schen vor allem im Wes­ten nach der kräf­te­zeh­ren­den Auf­bau­leis­tung der Nach­kriegs­zeit so ermat­tet, daß sie poli­tisch end­lich nur noch Ruhe woll­ten? Deka­denz? Spät­fol­ge der ree­du­ca­ti­on nach dem Krieg? Viel­leicht von allem etwas. Rück­schau­end fällt auf, daß sich die­se Ermat­tung in der Ver­fol­gung natio­na­ler Inter­es­sen nicht nur an der bis 1989 feh­len­den Wie­der­ver­ei­ni­gungs­po­li­tik erken­nen läßt (die Ver­ei­ni­gung wur­de schließ­lich von den Deut­schen in der DDR erzwun­gen und nicht von den West­deut­schen plan­mä­ßig her­bei­ge­führt). Das früh­zei­ti­ge Sich-Abfin­den mit der demo­gra­phi­schen Kata­stro­phe, sprich: Kin­der­lo­sig­keit ein­schließ­lich Hun­dert­tau­sen­der Abtrei­bun­gen, mit den mul­ti­kul­tu­rel­len Expe­ri­men­ten durch for­cier­te Ein­wan­de­rung, mit dem Auf­ge­hen des deut­schen Staa­tes in einem euro­päi­schen Bun­des­staat, mit der seit Jahr­zehn­ten maß­lo­sen Schul­den­po­li­tik und so wei­ter deu­ten in die glei­che Rich­tung. Bun­des­kanz­ler Hel­mut Kohl hat die von ihm 1983 ange­kün­dig­te „geis­tig-mora­li­sche Wen­de“ in allen Punk­ten genau­so­we­nig ver­folgt wie die Wie­der­ver­ei­ni­gung, als deren „Vater“ er sich heu­te fei­ern läßt. Aber das Volk hat die­se Wen­de auch bis 1998 von ihm nicht eingefordert.
So gibt die Betrach­tung des Schick­sals einer ver­hält­nis­mä­ßig klei­nen Behör­de, die ihre Exis­tenz der Gro­ßen Koali­ti­on vor fast 40 Jah­ren ver­dank­te und vor 15 Jah­ren auf­ge­löst wur­de, weil sie ihre Auf­ga­be erfüllt hat­te, heu­te, wo wir wie­der am Beginn einer wenigs­tens zah­len­mä­ßig gro­ßen Koali­ti­on ste­hen, Anlaß zu immer noch aktu­el­len Überlegungen.

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