Obwohl gegen diese Art der Betrachtung insbesondere von Konservativen immer wieder Einspruch erhoben wurde, ist sie als naturwissenschaftlicher Positivismus bestimmend geblieben. Die methodischen Einwände der Geisteswissenschaften verhallen ungehört. Aber vielleicht deutet sich auf diesem Feld ein Paradigmenwechsel an, der gerade von der eben gescholtenen Naturwissenschaft ausgehen könnte. So liegt mit Gerald Hüthers Buch Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, kart., 139 S., 15.90 €) ein Buch eines Neurophysiologen bereits in fünfter Auflage vor, das vor den reduktionistischen Verirrungen warnt, „immer gerade das, was wir besonders gut zerlegen können, als besonders wichtig für die Funktionsweise des Gehirns“ zu halten. Sein ganzheitlicher Ansatz ist getragen von der, vom Nobelpreisträger Eric Kandel vor einigen Jahren entdeckten, Eigenschaft des Gehirns, auch noch im Erwachsenenalter strukturell formbar zu sein (Plastizität). Das bedeutet, daß sich Erfahrungen ins Nervensystem buchstäblich einschreiben. Hüther fordert daher, nicht mehr zu fragen, wie das Gehirn aufgebaut ist, sondern wie wir es nutzen sollten, um den menschlichen Möglichkeiten gerecht zu werden. Wir sind also, gerade was das Gehirn und damit unsere Persönlichkeit betrifft, für uns selbst verantwortlich. Bis wir in dieses Stadium der „selbständigen Handlungsfreiheit“ eintreten, müssen wir uns eine „Bedürfnisorientierung und Interessenarchitektur“ (Gehlen) erarbeiten. Hierbei spielt die Führung durch die erzieherische Arbeit der Eltern eine wesentliche Rolle. Die Vermeidung der massenhaft zu beobachtenden Haltlosigkeit und Dumpfheit ist in ihre Hände gelegt. Das kann nur gelingen, wenn die Erziehung zu einer Freiheit stattfindet, die um ihre menschlichen Grenzen weiß und gleichzeitig die Offenheit für die Welt, aber auch etwas ihr Transzendentes bewahrt.
Wenn dem so ist, kommt unserer Lebensgeschichte, den Linien und Brüchen unseres Daseins, für unsere Freiheit eine besondere Bedeutung zu. Da Tiere weder wissen, daß sie ein Gehirn haben, noch wie sie es formen können, ist ein Unterschied genannt, den Hans J. Markowitsch und Harald Welzer in ihrem Buch Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung (Stuttgart: Klett-Cotta 2005, geb, 301 S., 29.50 €) sogar als den einzigen Unterschied zwischen Tier und Mensch bezeichnen. Daß Schimpansen und Menschen, die über einen fast identischen genetischen Code verfügen, dennoch völlig verschieden sind, liegt am autobiographischen Gedächtnis, über das Tiere bereits aufgrund ihrer hirnphysiologischen Voraussetzungen nicht verfügen können, was im Band ausführlich dargestellt wird. Nur beim Menschen bilden sich lebenslang neue Neuronen und Verschaltungen, die nicht nur seine Erfahrungen dokumentieren, sondern Orientierungen für zukünftiges und intentionales Handeln bieten.
Der Mensch kann dadurch die Welt planmäßig erschließen, zeitlich und alternativ (frei) Handeln, und er kann, was die kulturelle Tradition der Gattung bestimmt, Gedächtnisinhalte externalisieren. Damit falle, so die Autoren, die Natur des Menschen mit seiner Kulturgeschichte zusammen. Daß das menschliche Gehirn auf Potentialität angelegt sei, ist genetisch bedingt, darauf aufbauend kommt es zu individuellen Ausprägungen, zu einer autobiographisch bedingten Einzigartigkeit. Das autobiographische Gedächtnis sei ein subtiles Zusammenspiel von biologischen, psychologischen, sozialen und kulturellen Prozessen, die alle voneinander abhängig sind. Damit, so die Autoren, sei der Leib-Seele-Dualismus, die Frage, wie ein freies Wesen ein Naturprodukt sein kann, gleichsam erledigt. Nicht mehr Descartes’ Zirbeldrüse vermittelt zwischen Leib und Seele, sondern das Gehirn, genauer das autobiographische Gedächtnis, der Ort der Erfahrung.
Den Parallelismus besiegt zu haben, behauptet auch ein anderes Buch, das ebenfalls als interdisziplinäre Arbeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vermitteln will. François Ansermet und Pierre Magistretti zeigen sich in ihrem Buch Die Individualität des Gehirns. Neurobiologie und Psychoanalyse (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, geb, 284 S., 22.80 €) ebenfalls von der Entdeckung der Plastizität des Gehirns inspiriert: „Die Erfahrung hinterläßt eine Spur.“ Diese Spur bleibe bestehen, könne aber verknüpft und umgestaltet werden. Plastizität macht die Erinnerung flexibel und bringt potentiell Unbestimmbarkeit mit sich. Es soll eine „Brücke“ zwischen der psychischen und synaptischen Spur im Gehirn gebaut werden, eine „Biologie des Unbewußten“ ist das Ziel. Dieses Vorhaben ist nichts Neues. Der Neuro-Psychoanalytiker Marc Solms vereint schon seit Jahren die Gebiete der Hirnforschung und Psychoanalyse, gibt eine Zeitschrift zum Thema heraus und versucht zu zeigen, was sich von Freuds Annahmen halten läßt. Viel bleibt ihm zufolge nicht von der klassischen Psychoanalyse: Triebe bestimmen unser Leben und die frühe Kindheit ist bedeutsam. Die lustigen, spektakulären Sachen sind erledigt: Penisneid, Über-Ich, Todestrieb, Entwicklungsphasen des Kleinkindes und so fort. Die Autoren des vorliegenden Bandes meinen, Freuds Theorie, daß die unbewußte innere Wirklichkeit auch ein körperliches Phänomen sei, mit Hilfe der Plastizität bewiesen zu haben. Damit soll gleichzeitig der Gegensatz zwischen seelischer und organischer „Ätiologie der Geisteskrankheiten“ aufgehoben sein. Um so die Leib-Seele-Einheit, die wir ja ständig an uns selbst wahrnehmen, zu beweisen, genügt es freilich nicht, zwei Reduktionismen, die Hirnphysiologie und die Psychoanalyse, zur Überschneidung zu bringen. Die Frage nach einer „Biologie des Unbewußten“ läßt sich nicht beantworten, weil sie von methodisch nicht geklärten Voraussetzungen Freuds ausgeht.
Die genannten Bemühungen lassen eines erkennen: Nicht jeder interdisziplinäre Ansatz hält, was er verspricht. Insbesondere besteht die Gefahr, daß mehr behauptet wird, als sich beweisen läßt und man damit einen neuen positivistischen Monismus konstruiert. Dagegen die methodische Redlichkeit einzufordern, ist Aufgabe der Geisteswissenschaften. Der an ihre Adresse gerichtete Vorwurf der Nutzlosigkeit, verbunden mit der Aufforderung, sich die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse anzueignen, um mitreden zu können, ist eine Reduktion, die auf ihren Urheber zurückfällt: Ohne Kenntnis der Geistesgeschichte hängt Wissen in der Luft, ohne methodisch geklärte Argumentation ist es nicht vermittelbar und ohne Kenntnis seiner Grenzen erkennen wir uns und die Welt darin nicht wieder. Das aber wäre die Voraussetzung dafür, daß wir den neuen Erkenntnissen und Interpretationen etwas für unser Leben abgewinnen können. Die Frage nach einer authentischen konservativen Lebensführung und damit Erziehung muß in der Hoffnung gestellt werden, eine möglichst konkrete Antwort zu erhalten. Die erwähnten Bücher rufen immerhin die vielleicht wichtigste Eigenschaft des Menschen in Erinnerung: daß er sich „ergreifen“ lassen muß, um sich zu entwickeln. Darüber darf jedoch nicht vergessen werden, daß er sein Leben zu führen hat und von daher ein Wesen ist, das seine Freiheit wollen muß.