Das übernationale Europa

von Dr. Eberhard Straub
PDF der Druckfassung aus Sezession 86/Oktober 2018

Eine Vor­stel­lung von Euro­pa beschränk­te sich frü­her nicht auf einen gemein­sa­men Markt. Euro­pa war ein­mal ein geis­ti­ger Ent­wurf. José Orte­ga y Gas­set präg­te in die­sem Sin­ne die unüber­setz­ba­re For­mel: »Euro­pa es el úni­co con­ti­nen­te que tiene un con­teni­do«, was meint, Euro­pa sei der ein­zi­ge Kon­ti­nent, der von Ideen zusam­men­ge­hal­ten wer­de, also über einen bedeu­tungs­vol­len Inhalt verfüge.

Er war sich gleich nach dem Ers­ten Welt­krieg neben Paul Valé­ry oder Bene­det­to Cro­ce mit Hugo von Hof­manns­thal dar­in einig, daß der Begriff Euro­pa frag­wür­dig gewor­den sei. Der Alt­ös­ter­rei­cher Hof­manns­thal kam über die Zer­stö­rung »der Mon­ar­chie«, also Öster­reich-Ungarns, nicht hin­weg: »Und so haben wir ein Vater­land, und eine Auf­ga­be – und eine Geschich­te – gehabt, und müs­sen wei­ter­le­ben«, wie er 1928 dem Juris­ten und letz­ten kai­ser­li­chen Finanz­mi­nis­ter Josef Red­lich schrieb.

Ihm blieb nur Euro­pa. Er ver­mu­te­te aber, wie sei­ne drei euro­päi­schen Freun­de, daß gro­ße ange­spann­te Bemü­hun­gen nötig wären, um bana­le Redens­ar­ten wie Euro­pa, euro­pä­isch und Euro­pä­er wie­der mit anspruchs­vol­len Inhal­ten zu fül­len, um ihren Rang als her­aus­for­dern­de Ideen über eine schöp­fe­ri­sche Restau­ra­ti­on neu zu sichern.

Die­se schöp­fe­ri­sche Restau­ra­ti­on hat trotz unter­schied­lichs­ter Ver­su­che nie statt­ge­fun­den. Ja, die zeit­ge­nös­si­schen Agen­ten euro­päi­scher Ein­heit sind nahe­zu über­rascht, wenn sie hören, daß eine Idee von Euro­pa wie­der­ge­won­nen wer­den müsse.

Denn sie sind davon über­zeugt, daß Euro­pa als poli­ti­scher Gedan­ke über­haupt erst nach 1945 ent­wi­ckelt wor­den sei. Sie haben ver­ges­sen, daß die drei ener­gi­schen Ver­fech­ter einer künf­ti­gen Euro­päi­schen Gemein­schaft aus der Welt von Ges­tern – vor 1914 – stamm­ten: Kon­rad Ade­nau­er, der Fran­zo­se Robert Schu­man (bis 1918 ein loya­ler deut­scher Elsäs­ser und nach 1946 Minis­ter und zeit­wei­li­ger Minis­ter­prä­si­dent) sowie Alci­de de Gas­pe­ri, ab 1945 ita­lie­ni­scher Minis­ter­prä­si­dent, ehe­dem ein kai­ser­treu­er Tiro­ler aus Tri­ent und Abge­ord­ne­ter im Öster­rei­chi­schen Reichs­rat von 1911 bis 1918. Sie fan­den nur weni­ge Nachfolger.

Ihr wah­rer Erbe war de Gaul­le, Offi­zier im Ers­ten Welt­krieg, ver­traut mit der Lat­in­i­tät, der anti­ken wie der katho­li­schen, aber auch mit der deut­schen Spra­che und Lite­ra­tur. Sofern man Euro­pa nicht auf den Euro redu­ziert und den Euro­pä­er als Euro­pay­er ver­steht – wie vor allem die deut­schen Ange­li­ka­ner – bleibt es eine drin­gen­de Auf­ga­be für Heu­te und Morgen.

Pierre Drieu La Rochel­le, Sol­dat im Gro­ßen Krieg, bestimm­te sie 1927 knapp: »Pour fai­re l’Europe, il faut pen­ser en Euro­pé­en, par­ler en ter­mes euro­pé­ens, c’est-à-dire com­muns« – »um Euro­pa zu schaf­fen, muß man als Euro­pä­er den­ken, sich euro­pä­isch aus­drü­cken in Begrif­fen, an die alle gewohnt sind.«

Dazu brauch­te man die Gene­ra­tio­nen vor der gro­ßen Kata­stro­phe gar nicht beson­ders auf­zu­for­dern: Sie waren so selbst­ver­ständ­lich euro­pä­isch, wie der Baum grün ist. Inter­na­tio­na­ler Gedan­ken­aus­tausch muß­te nicht eigens orga­ni­siert werden.

Der Adel der Her­kunft, des Geis­tes und des stets etwas anrü­chi­gen Gel­des kann­te ein­an­der, hei­ra­te­te kreuz und quer durch Euro­pa, besuch­te sich oder setz­te in zahl­lo­sen Brie­fen ein ima­gi­nä­res Gespräch fort. Die über­na­tio­na­le Römi­sche Kir­che und die Inter­na­tio­na­le der Sozia­lis­ten tra­ten hinzu.

Freund­schaf­ten, ero­ti­sche Pas­sio­nen oder kol­le­gia­le Zusam­men­ar­beit stif­te­ten dau­er­haf­te Bezie­hun­gen. Ver­stän­di­gungs­schwie­rig­kei­ten gab es nicht, weil die Euro­pä­er, vor allem auch ihre Poli­ti­ker, meh­re­re Spra­chen bequem gebrauchten.

Vom öster­rei­chi­schen Staats­kanz­ler Fürst Cle­mens Met­ter­nich hieß es, daß er neun Spra­chen beherrsch­te, um in ihnen zu lügen.  Fürst Bis­marck wech­sel­te eben­so mühe­los vom Deut­schen in acht Spra­chen, unter ihnen auch Latein. Er lieb­te aber vor allem Rus­sisch, weil beson­ders dazu geeig­net, an feins­te Gefüh­le und fast Unaus­sprech­li­ches ele­gant zu rühren.

Die bei­den Staats­män­ner bil­de­ten als Aris­to­kra­ten kei­ne Aus­nah­me. Denn der bür­ger­lich-libe­ra­le Natio­na­lis­mus trenn­te nicht, er mach­te neu­gie­rig auf die ande­ren und weck­te eine Begeis­te­rung für die natio­na­len Son­der­for­men, die sich dem fran­zö­si­schen génie natio­nal, der ita­lia­ni­tà, his­pa­ni­dad oder dem deut­schen Geist wie der rus­si­schen See­le verdankten.

Die Euro­pä­er, schon immer beweg­lich, reis­ten mehr denn je. Sie genos­sen das Ande­re und den Ande­ren. Dies alte Euro­pa war tat­säch­lich in Viel­falt geeint und für jeden ein ver­trau­ter Raum. Jede Ein­heit ver­ei­nigt Beson­der­hei­ten, so wie der Rhein oder die Donau, die gro­ßen Strö­me im west­li­chen und mitt­le­ren Euro­pa, das Was­ser vie­ler Flüs­se auf­neh­men und den­noch als Rhein und Donau ein selb­stän­di­ges Gan­zes bilden.

Wäh­rend die Euro­pä­er auch mit Hil­fe der neu­en phi­lo­lo­gi­schen und his­to­ri­schen Wis­sen­schaf­ten ihre jewei­li­ge Natio­na­li­tät ent­deck­ten und den Nach­barn mit­teil­ten, ging ihnen eine Vor­stel­lung von Euro­pa als geis­ti­gem und prak­ti­schem Lebens­raum nicht verloren.

Sie ver­tief­ten mit aller­lei Lokal­far­ben, mit den Erin­ne­run­gen an ihre jewei­li­gen Eigen­tüm­lich­kei­ten, das per­spek­ti­vi­sche Gemäl­de ihrer beson­de­ren, gemein­sa­men Welt Euro­pa. Das uner­schöpf­li­che Ich stößt von vorn­her­ein auf den nicht min­der uner­gründ­li­chen Anderen.

In die­ser Span­nung sah José Orte­ga y Gas­set die unver­meid­li­che Her­aus­for­de­rung für jeden Ein­zel­nen und für jede Nati­on, ihr radi­ka­les Eigen­tum in Über­ein­stim­mung mit dem eben­so radi­ka­len Eigen­sinn der Ande­ren zu brin­gen, ohne die wech­sel­sei­ti­ge Frei­heit im Leben als Zusam­men­le­ben zu gefährden.

Das gelang bis tief ins 19. Jahr­hun­dert fast mühe­los. Die Euro­pä­er ver­füg­ten näm­lich über ein gemein­sa­mes Bild ihrer Her­kunft und Ent­wick­lung vom klas­si­schen Grie­chen­land und Rom über die Ger­ma­nen zum latei­ni­schen Mit­tel­al­ter, mit den man­nig­fa­chen Renais­san­cen, die den wer­den­den Natio­nen eine in der gemeinsamen Geschich­te ver­an­ker­te Legi­ti­ma­ti­on ver­lei­hen konnten.

Die roma­nisch-ger­ma­ni­sche Völ­ker­fa­mi­lie, von der die His­to­ri­ker frü­her vor­zugs­wei­se han­del­ten, wur­de um die Sla­wen erwei­tert, vor allem um die Rus­sen, und die byzan­ti­ni­schen Grie­chen. Dar­über gewan­nen die Euro­pä­er end­lich einen voll­stän­di­gen Begriff ihrer Son­der­rol­le in Eura­si­en, zu dem sie geo­gra­phisch und geis­tig seit dem Beginn ihrer Geschich­te gehörten.

Im Abend­land, von Euro­pa wur­de noch sel­ten gespro­chen, hat­te sich seit dem Mit­tel­al­ter ein über­na­tio­na­ler Stil ent­wi­ckelt, mit dem ver­traut sein muß­te, wer sein Glück machen woll­te. Natio­na­le Fra­gen stell­ten sich für den Adel nicht, aller­dings Geschmacks­fra­gen, die sehr sitt­li­che, eben ehren­vol­le waren.

Des­halb konn­te der »gute Geschmack« zu einer gesamt­eu­ro­päi­schen Kraft wer­den. Eine all­ge­mei­ne Idee der Schön­heit, des Betra­gens und see­li­scher Anmut über­wand alle Gren­zen. Wer zu gefal­len wuß­te, war über­all daheim. Die ade­li­ge Welt zog die kirch­lich-wis­sen­schaft­li­che und die bür­ger­lich-hand­werk­li­che in ihre Sphäre.

Maler, Archi­tek­ten, Kunst­schmie­de, Tisch­ler, Dich­ter und Musi­ker soll­ten als geschick­te Auf­trags­künst­ler dem ade­li­gen Ethos mit sei­nen Lebens­for­men den not­wen­di­gen ele­gan­ten Aus­druck ver­lei­hen. Die alte aris­to­kra­ti­sche Welt pfleg­te kei­nen inter­na­tio­na­len style.

Sie hat­te ihren eige­nen vor­neh­men Stil, der von der Nati­on unab­hän­gig war und den­noch vie­le regio­na­le Varia­tio­nen erlaub­te, ja ver­lang­te, sofern sie den Herr­schafts­raum des guten Geschmacks erwei­ter­ten und berei­cher­ten. Seit dem Mit­tel­al­ter waren Rit­ter, Künst­ler, Gelehr­te, Theo­lo­gen, Geld- und Fern­händ­ler, aber auch Hand­wer­ker an ein unste­tes Leben gewöhnt.

Mobi­li­tät, von der heu­te so viel die Rede ist, zeich­ne­te seit dem 11. Jahr­hun­dert die Euro­pä­er aus, die sich meist gar nicht so nann­ten. Kein Talent konn­te sich mit dem begnü­gen, was ihm in der unmit­tel­ba­ren Umge­bung bei­gebracht wur­de. Beweg­lich­keit war die Vor­aus­set­zung, um Fähig­kei­ten zu ver­voll­komm­nen und die ent­spre­chen­de Ach­tung zu finden.

Jedes viel­ver­spre­chen­de Talent brach­te zumin­dest eini­ge Jah­re im »Aus­land« zu, ohne dabei den ver­trau­ten Lebens­raum zu ver­las­sen. Denn über­all weh­te die glei­che Luft zwi­schen den Din­gen, der Lebens­atem der glei­chen Kul­tur. Wer den vor­neh­men Stil meis­ter­haft beherrsch­te, war will­kom­men, ein Schwa­be in Por­tu­gal, ein Spa­ni­er in Wien, ein Fran­zo­se in Stutt­gart, ein Ita­lie­ner überall.

Einer der größ­ten Kom­po­nis­ten, Georg Fried­rich Hän­del, der caro sas­so­ne, der lie­bens­wür­di­ge Sach­se für Vene­zia­ner, Flo­ren­ti­ner und Römer, ver­ei­nig­te mühe­los sämt­li­che geschmack­li­chen Rich­tun­gen des musi­ka­lisch-ade­li­gen Euro­pas und mach­te mit ihnen Eng­land, das Land ohne Musik, vertraut.

Ähn­li­che sti­lis­ti­sche Sicher­heit wur­de von jedem Aris­to­kra­ten ver­langt. Des­halb konn­ten die gro­ßen und klei­nen Her­ren ihren König und ihre patria wech­seln, fühl­ten sie sich in ihrer Ehre gekränkt oder nicht genug ästi­miert, um anders­wo bes­ser geschätzt zu wer­den und mehr For­tu­ne zu haben.

Im Ers­ten Welt­krieg, der Urka­ta­stro­phe des 20. Jahr­hun­dert, lös­ten sich schlag­ar­tig sämt­li­che ver­bind­li­chen Über­ein­künf­te über den guten Geschmack, über Kul­tur, Recht und Krieg auf. Er wur­de von den west­li­chen Alli­ier­ten gegen Deut­sche und ihre Ver­bün­de­ten als »gerech­ter« Krieg geführt, wie frü­her ein Reli­gi­ons­krieg, in dem der Geg­ner nicht wie im Duell gleich­be­rech­tigt ist, son­dern als Feind und Kriegs­ver­bre­cher kri­mi­na­li­siert wird.

Damit wur­den die sitt­li­chen Errun­gen­schaf­ten des West­fä­li­schen Frie­dens von 1648 auf­ge­kün­digt, die jede spä­te­ren Strei­te­rei­en über Kriegs­schuld und mög­li­che Ver­ge­hen wäh­rend der Krie­ge unter­sag­ten, um den Frie­den und eine bes­se­re Zukunft als des­sen Fol­ge nicht zu belasten.

Die welt­bür­ger­li­che Eli­te erwies sich als ohn­mäch­tig und sah sich gezwun­gen, im hef­ti­gen Kul­tur­kampf, der kei­ne Neu­tra­li­tät erlaub­te, Par­tei zu ergrei­fen. Die Poli­ti­sie­rung der Bil­dung über­wäl­tig­te die Geis­ter, wie frü­her nur wäh­rend des demo­kra­ti­schen Ter­rors der jako­bi­ni­schen Repu­blik in Frank­reich 1793/94.

Die west­li­chen Men­schen­freun­de ver­hie­ßen im Namen der Frei­heit und auf­ge­klär­ten Huma­ni­tät wie Saras­tro in Die Zau­ber­flö­te: »Wen sol­che Leh­ren nicht erfreu­en, ver­die­net nicht ein Mensch sein«. Die Huma­nis­ten bestimm­ten, wer als Mensch gel­ten durf­te oder als Unmensch ver­ach­tet wer­den mußte.

Sie schlos­sen die reak­tio­nä­ren, katho­li­schen Dun­kel­män­ner in Öster­reich und die mili­ta­ris­ti­schen Preu­ßen aus der gesit­te­ten Mensch­heit aus, weil unver­traut mit der Frei­heit und den Früch­ten west­li­cher Zivi­li­sa­ti­on, die den übri­gen Men­schen so begeh­rens­wert erschienen.

Der radi­ka­le Feind und bös­wil­li­ge Bar­bar, unmensch­lich in sei­ner Grau­sam­keit, bedurf­te der tota­len Umer­zie­hung, um ihn zu ver­west­li­chen und zum wah­ren Men­schen in Gestalt eines wehr­haf­ten Demo­kra­ten zu bil­den. Die Poli­tik wur­de zum Schick­sal mit einem tota­len Zugriff, den sich Napo­lé­on gar nicht vor­stel­len konn­te, als er ihr im Gespräch mit Goe­the 1808 im moder­nen Trau­er­spiel die Rol­le über­tra­gen woll­te, die in der klas­sisch-grie­chi­schen Tra­gö­die selbst­ver­ständ­lich nur den Göt­tern zukam.

Kurz vor sei­nem Tod warn­te Goe­the frei­lich ein­dring­lich davor, mit den neu­es­ten Lite­ra­ten zu sagen, «die Poli­tik sei die Poe­sie, oder sie sei für den Poe­ten ein pas­sen­der Gegen­stand«. Er wider­setz­te sich ener­gisch jenen For­de­run­gen, die nach 1914 an Schrift­stel­ler und Intel­lek­tu­el­le überhaupt gerich­tet wur­den, ihren poli­ti­schen Auf­trag nicht zu ver­säu­men und unmit­tel­bar mit poli­tisch-päd­ago­gi­schen Absich­ten auf das Publi­kum und des­sen Gesin­nun­gen zu wirken.

Die Geis­tes­ge­schich­te des 20. und bis­he­ri­gen 21. Jahr­hun­derts ist eine unun­ter­bro­che­ne Fol­ge von übler Nach­re­de, Kapi­tu­la­tio­nen, Demü­ti­gun­gen und erzwun­ge­nen Kom­pro­mis­sen, die das all­ge­mei­ne Ver­trau­en in den unab­hän­gi­gen Geist und die freie Bil­dung erheb­lich schwä­chen mußten.

Den wenigs­ten gelang es, sich frei von den Nöti­gun­gen tota­li­tä­rer Bewe­gun­gen oder eines aggres­si­ven, huma­nis­ti­schen Demo­kra­tis­mus zu hal­ten, der auch sei­ne Inqui­si­to­ren anstellt und Denun­zi­an­ten belohnt wie einst im klas­si­sche Athen, in dem Sokra­tes von wehr­haf­ten Ver­fas­sungs­pa­trio­ten zum Tode ver­ur­teilt wurde.

Uner­müd­lich beschäf­ti­gen sich seit­her Wäch­ter über die wün­schens­wer­te Gesin­nungs­tüch­tig­keit mit den Irr­tü­mern, den poli­ti­schen Irr­we­gen und dem »Ver­sa­gen« von Künst­lern und Gelehr­ten. Auch der irren­de Geist ist noch Geist; höchs­tens der Irr­tum ist zu ver­wer­fen, aber nicht der irren­de Mensch. An die­ser Über­ein­kunft woll­ten klas­si­sche Huma­nis­ten vor 1914 unbe­dingt festhalten.

Schlimm sind die hoch­ideo­lo­gi­sier­ten Zei­ten, in denen man von einem Dieb nicht ein­mal mehr aner­ken­nend bemer­ken darf, daß er doch wenigs­tens ein schö­nes Bein habe, wie Michel de Mon­tai­gne unter dem Eindruck der reli­gi­ons­po­li­ti­schen Mei­nungs­kämp­fe im fran­zö­si­schen Bürgerkrieg im spä­ten 16. Jahr­hun­dert klagte.

Unter ähn­li­chen Vor­aus­set­zun­gen ist es nicht ver­wun­der­lich, wenn die meis­ten im 20. Jahr­hun­dert dar­über ver­zag­ten, sich zu bemü­hen, einen geis­ti­gen Begriff von Euro­pa zurück zu gewin­nen. Das 20. Jahr­hun­dert hat Hof­mannst­hals Furcht bestä­tigt, daß Euro­pa als geis­ti­ger Begriff auf­ge­hört habe zu existieren.

Von einer Alt­be­gier förm­lich beses­sen, ver­tie­fen sich mit wach­sen­der Lei­den­schaft zahl­lo­se Gewis­sens­er­for­scher von Gibral­tar bis Riga und von Lübeck bis Paler­mo in die Schuld ihrer Groß- und Urgroß­el­tern und ver­si­chern sich ihrer Gemein­sam­kei­ten höchs­tens als Schuldgemeinschaft.

Euro­pa als Schuld­ge­mein­schaft weckt kei­nen Enthu­si­as­mus. Die Ver­gan­gen­hei­ten beläs­ti­gen und belas­ten die wech­seln­den Gegen­war­ten, sie bie­ten kei­nen Halt und Trost. Inso­fern wur­de der alte Kon­ti­nent all­mäh­lich zu einem Gefäß ohne Inhalt.

Es man­gelt nicht an rau­nen­den Stim­men, die bei fest­li­chen Gele­gen­hei­ten Athen, Rom und das Chris­ten­tum als Grund­la­gen unse­rer Kul­tur beschwö­ren. Grie­chisch wird kaum noch gelernt, es ist im Wes­ten so unbe­kannt gewor­den wie es vor sechs­hun­dert Jah­ren gewe­sen ist.

Latein tritt immer mehr in den Hin­ter­grund. Es gibt jetzt die ers­ten Gene­ra­tio­nen seit dem Unter­gang des alten Rom, die völ­lig unbe­rührt von der Lat­in­i­tät geblie­ben sind. So bar­ba­risch ver­hiel­ten sich nicht ein­mal die alten Ger­ma­nen an bei­den Ufern des Rhei­nes im fins­ters­ten Mit­tel­al­ter um 600 nach Chris­tus. Wie christ­lich Euro­pa noch ist, das weiß keiner.

Dar­über möch­ten nicht ein­mal Bischö­fe all­zu gründ­lich nach­den­ken, um nicht etwa in Hoff­nungs­lo­sig­keit, eine schwe­re Tod­sün­de, zu ver­fal­len. Anti­ke und Chris­ten­tum sind die Wur­zeln des Abend­lan­des, wie es redens­art­lich heißt. Die­se Wur­zeln sind ver­dorrt, und es wäre eine lächer­li­che Über­trei­bung zu beteu­ern, daß die meis­ten Euro­pä­er dar­über beküm­mert seien.

Die Anru­fung der allein selig machen­den Auf­klä­rung führt von einer Ver­le­gen­heit zur ande­ren. Wel­che fro­he Bot­schaft soll es denn sein, die von Vol­taire, Rous­se­au, de Sade oder Saint-Jus­te? Es gab vie­le Auf­klä­rer und Licht­brin­ger, die aller­dings – wie üblich bei Sek­ten­grün­dern – meist mit­ein­an­der in hef­ti­gem Streit lagen.

Über­haupt ist die Geschich­te ein Irr­gar­ten, in dem man sich leicht ver­lau­fen kann. Das macht sie längst ver­däch­tig. Was die Euro­pä­er ver­eint, ist ihre Geschichts­ver­dros­sen­heit. Alle füh­len sich von ihren Ver­gan­gen­hei­ten benach­tei­ligt, betro­gen oder auf ande­re Art ver­letzt. Sie sit­zen auf dem Sofa und neh­men übel.

Allein als Kunst­ge­schich­te ästhe­tisch neu­tra­li­siert kann die Geschich­te zum »Erleb­nis« wer­den im Amü­sier­im­pres­sio­nis­mus belie­bi­ger Event­pro­duk­ti­on. Doch unab­hän­gig davon steigt aus der Tie­fe der Jah­re nur Skep­sis und Über­druß empor.

Euro­pa weiß nicht, wo es anfängt, wo es auf­hört, woher es kommt und wohin es geht. Es soll sei­ne Wür­de und sei­nen Sinn dar­aus gewin­nen, zum Wes­ten oder zur west­li­chen, atlan­ti­schen Gemein­schaft zu gehö­ren. Aber kei­ner ver­mag zu begrün­den, was der Wes­ten ist und war­um Euro­pa unbe­dingt west­lich sein müsse.

Es gab bis 1914 immer vier Him­mels­rich­tun­gen mit ihren Vor­tei­len, Nach­tei­len, Ver­hei­ßun­gen und Hoff­nun­gen. Der Wes­ten ist erst im Gro­ßen Krieg nach 1914 als pole­misch-ideo­lo­gi­sche Waf­fe gegen Deutsch­land ein­ge­setzt wor­den. Er ist also ein ziem­lich neu­es Phä­no­men, wie auch sein eins­ti­ger Geg­ner, »der Osten«, der angeb­lich uneu­ro­pä­isch ist.

Dabei sind der Mar­xis­mus und Kom­mu­nis­mus – eine deutsch-rus­si­sche Erfin­dung – etwas sehr Euro­päi­sches. Euro­pa gehört nicht natür­lich und unmit­tel­bar zur atlan­ti­schen Welt, die es frei­lich selbst geschaf­fen hat. Es war und ist wei­ter­hin Teil der Alten Welt, mit der es seit vier­tau­send Jah­ren im unun­ter­bro­che­nen Aus­tausch zusammenlebt.

Ori­ent und Okzi­dent sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den. Nichts soll auf ein­mal den Euro­pä­ern als West­eu­ro­pä­ern so unheim­lich sein wie der Osten oder Ori­ent, der zu ihm gehört wie zum Men­schen des­sen Beglei­ter, näm­lich sein Schat­ten. Weil die Geschich­te als vor­zugs­wei­se pro­ble­ma­tisch und unbe­hag­lich, unge­müt­lich und unbe­quem begrif­fen wird, sol­len die Wirt­schaft, das Geld, Waren­tausch und Kon­sum ein leben­di­ges Euro­pa ermög­li­chen, das sich dar­an freut, ein­an­der auf dem frei­en wei­ten Markt zu begegnen.

»Die Men­schen in Euro­pa«, die den kon­kre­ten Euro­pä­er erset­zen, sol­len nun dem öko­no­mi­schen Den­ken mit sei­ner Sach­lich­keit und Sach­ge­rech­tig­keit andäch­tig ver­trau­en. Dar­in äußert sich angeb­lich jene ideo­lo­gie­freie Kraft, die alle Gegen­sät­ze auf­löst, obwohl gera­de die soge­nann­te wert­freie Wirt­schaft das schreck­li­che Feu­er­werk ermög­lich­te, das die ver­schie­de­nen Kata­stro­phen in zwei Welt­krie­gen illu­mi­nier­te und alle ande­ren Krie­ge seit­dem mit ben­ga­li­schen Licht­spie­len in pho­to­ge­ne Schau­spie­le ver­wan­del­te zu Genuß oder Empö­rung – je nach­dem ob Feind oder Freund – für den Fern­se­her am Feierabend.

In erstaun­li­cher Geschwin­dig­keit ent­wi­ckel­ten sich die EWG und dann die EU, die sich dau­ernd mit Euro­pa ver­wech­seln, zu einem gemein­sa­men Markt. Der wur­de zu einem präch­ti­gen Erleb­nis­park, in dem Ein­kau­fen echt Spaß macht. Die Lebens­ge­wohn­hei­ten, die Ver­brau­cher­wün­sche gli­chen sich an.

Der Markt sorgt als Gefähr­te der Demo­kra­tie für Homo­ge­ni­sie­rung der ein­an­der wider­stre­ben­den Begehr­lich­kei­ten, ohne sie voll­ends zu befrie­di­gen, damit kei­ner wunsch­los glück­lich bleibt. Die Kon­sum­frei­heit sichert die frü­her staats­bür­ger­lich ver­stan­de­nen Freiheiten.

Doch der Staat begreift sich ja zuneh­mend als Dienst­leis­ter für Kun­den, obschon er dau­ernd neue Steu­ern ersinnt. Frei­lich gerie­ten immer mehr »Men­schen in Euro­pa« an den Rand jenes Mark­tes, auf dem es für sie kein Aus­kom­men und kei­ne Zukunft gibt.

Das erschüt­ter­te den zuver­sicht­li­chen Glau­ben der Zukurz­ge­kom­me­nen an die Heils­öko­no­mie des von allen Übeln erlö­sen­den Mark­tes. Die Öko­no­mie erweist sich als gar nicht so sach­lich, ratio­nal und wohl­tä­tig. Was soll die vie­len Ent­täusch­ten und Betro­ge­nen ver­an­las­sen, in Euro­pa eine Ver­hei­ßung, gar eine sitt­li­che Idee zu vermuten?

Außer öko­no­mi­schen Zwe­cken, zu deren Opfern sie wur­den, sind ihnen kei­ne genannt wor­den. Wie sol­len sie Loya­li­tät zu einem Euro­pa wah­ren, das ihnen nicht gewährt, was es ihnen in Aus­sicht stell­te: Wohl­stand für alle? Außer­dem: Euro­pa ist als Markt Teil des Weltmarktes.

Klu­gen Mark­stra­te­gen ist Euro­pa längst zu klein gewor­den. Die Markt­ideo­lo­gie führt weg aus Euro­pa in die wei­te Welt hin­aus. Die neu­en Welt­män­ner ver­mis­sen kei­nen geis­ti­gen Begriff Euro­pas, wenn sie sich bei grie­chi­schem Wein, fran­zö­si­schem Käse, deut­schem Brot und Mai­län­der Sala­mi dar­über freu­en, unbe­schwert auf den Baha­mas zusam­men­zu­kom­men und sich dabei bestä­ti­gen, wie schön es ist, als Euro­pä­er auf der Welt zu sein.

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