Eine Vorstellung von Europa beschränkte sich früher nicht auf einen gemeinsamen Markt. Europa war einmal ein geistiger Entwurf. José Ortega y Gasset prägte in diesem Sinne die unübersetzbare Formel: »Europa es el único continente que tiene un contenido«, was meint, Europa sei der einzige Kontinent, der von Ideen zusammengehalten werde, also über einen bedeutungsvollen Inhalt verfüge.
Er war sich gleich nach dem Ersten Weltkrieg neben Paul Valéry oder Benedetto Croce mit Hugo von Hofmannsthal darin einig, daß der Begriff Europa fragwürdig geworden sei. Der Altösterreicher Hofmannsthal kam über die Zerstörung »der Monarchie«, also Österreich-Ungarns, nicht hinweg: »Und so haben wir ein Vaterland, und eine Aufgabe – und eine Geschichte – gehabt, und müssen weiterleben«, wie er 1928 dem Juristen und letzten kaiserlichen Finanzminister Josef Redlich schrieb.
Ihm blieb nur Europa. Er vermutete aber, wie seine drei europäischen Freunde, daß große angespannte Bemühungen nötig wären, um banale Redensarten wie Europa, europäisch und Europäer wieder mit anspruchsvollen Inhalten zu füllen, um ihren Rang als herausfordernde Ideen über eine schöpferische Restauration neu zu sichern.
Diese schöpferische Restauration hat trotz unterschiedlichster Versuche nie stattgefunden. Ja, die zeitgenössischen Agenten europäischer Einheit sind nahezu überrascht, wenn sie hören, daß eine Idee von Europa wiedergewonnen werden müsse.
Denn sie sind davon überzeugt, daß Europa als politischer Gedanke überhaupt erst nach 1945 entwickelt worden sei. Sie haben vergessen, daß die drei energischen Verfechter einer künftigen Europäischen Gemeinschaft aus der Welt von Gestern – vor 1914 – stammten: Konrad Adenauer, der Franzose Robert Schuman (bis 1918 ein loyaler deutscher Elsässer und nach 1946 Minister und zeitweiliger Ministerpräsident) sowie Alcide de Gasperi, ab 1945 italienischer Ministerpräsident, ehedem ein kaisertreuer Tiroler aus Trient und Abgeordneter im Österreichischen Reichsrat von 1911 bis 1918. Sie fanden nur wenige Nachfolger.
Ihr wahrer Erbe war de Gaulle, Offizier im Ersten Weltkrieg, vertraut mit der Latinität, der antiken wie der katholischen, aber auch mit der deutschen Sprache und Literatur. Sofern man Europa nicht auf den Euro reduziert und den Europäer als Europayer versteht – wie vor allem die deutschen Angelikaner – bleibt es eine dringende Aufgabe für Heute und Morgen.
Pierre Drieu La Rochelle, Soldat im Großen Krieg, bestimmte sie 1927 knapp: »Pour faire l’Europe, il faut penser en Européen, parler en termes européens, c’est-à-dire communs« – »um Europa zu schaffen, muß man als Europäer denken, sich europäisch ausdrücken in Begriffen, an die alle gewohnt sind.«
Dazu brauchte man die Generationen vor der großen Katastrophe gar nicht besonders aufzufordern: Sie waren so selbstverständlich europäisch, wie der Baum grün ist. Internationaler Gedankenaustausch mußte nicht eigens organisiert werden.
Der Adel der Herkunft, des Geistes und des stets etwas anrüchigen Geldes kannte einander, heiratete kreuz und quer durch Europa, besuchte sich oder setzte in zahllosen Briefen ein imaginäres Gespräch fort. Die übernationale Römische Kirche und die Internationale der Sozialisten traten hinzu.
Freundschaften, erotische Passionen oder kollegiale Zusammenarbeit stifteten dauerhafte Beziehungen. Verständigungsschwierigkeiten gab es nicht, weil die Europäer, vor allem auch ihre Politiker, mehrere Sprachen bequem gebrauchten.
Vom österreichischen Staatskanzler Fürst Clemens Metternich hieß es, daß er neun Sprachen beherrschte, um in ihnen zu lügen. Fürst Bismarck wechselte ebenso mühelos vom Deutschen in acht Sprachen, unter ihnen auch Latein. Er liebte aber vor allem Russisch, weil besonders dazu geeignet, an feinste Gefühle und fast Unaussprechliches elegant zu rühren.
Die beiden Staatsmänner bildeten als Aristokraten keine Ausnahme. Denn der bürgerlich-liberale Nationalismus trennte nicht, er machte neugierig auf die anderen und weckte eine Begeisterung für die nationalen Sonderformen, die sich dem französischen génie national, der italianità, hispanidad oder dem deutschen Geist wie der russischen Seele verdankten.
Die Europäer, schon immer beweglich, reisten mehr denn je. Sie genossen das Andere und den Anderen. Dies alte Europa war tatsächlich in Vielfalt geeint und für jeden ein vertrauter Raum. Jede Einheit vereinigt Besonderheiten, so wie der Rhein oder die Donau, die großen Ströme im westlichen und mittleren Europa, das Wasser vieler Flüsse aufnehmen und dennoch als Rhein und Donau ein selbständiges Ganzes bilden.
Während die Europäer auch mit Hilfe der neuen philologischen und historischen Wissenschaften ihre jeweilige Nationalität entdeckten und den Nachbarn mitteilten, ging ihnen eine Vorstellung von Europa als geistigem und praktischem Lebensraum nicht verloren.
Sie vertieften mit allerlei Lokalfarben, mit den Erinnerungen an ihre jeweiligen Eigentümlichkeiten, das perspektivische Gemälde ihrer besonderen, gemeinsamen Welt Europa. Das unerschöpfliche Ich stößt von vornherein auf den nicht minder unergründlichen Anderen.
In dieser Spannung sah José Ortega y Gasset die unvermeidliche Herausforderung für jeden Einzelnen und für jede Nation, ihr radikales Eigentum in Übereinstimmung mit dem ebenso radikalen Eigensinn der Anderen zu bringen, ohne die wechselseitige Freiheit im Leben als Zusammenleben zu gefährden.
Das gelang bis tief ins 19. Jahrhundert fast mühelos. Die Europäer verfügten nämlich über ein gemeinsames Bild ihrer Herkunft und Entwicklung vom klassischen Griechenland und Rom über die Germanen zum lateinischen Mittelalter, mit den mannigfachen Renaissancen, die den werdenden Nationen eine in der gemeinsamen Geschichte verankerte Legitimation verleihen konnten.
Die romanisch-germanische Völkerfamilie, von der die Historiker früher vorzugsweise handelten, wurde um die Slawen erweitert, vor allem um die Russen, und die byzantinischen Griechen. Darüber gewannen die Europäer endlich einen vollständigen Begriff ihrer Sonderrolle in Eurasien, zu dem sie geographisch und geistig seit dem Beginn ihrer Geschichte gehörten.
Im Abendland, von Europa wurde noch selten gesprochen, hatte sich seit dem Mittelalter ein übernationaler Stil entwickelt, mit dem vertraut sein mußte, wer sein Glück machen wollte. Nationale Fragen stellten sich für den Adel nicht, allerdings Geschmacksfragen, die sehr sittliche, eben ehrenvolle waren.
Deshalb konnte der »gute Geschmack« zu einer gesamteuropäischen Kraft werden. Eine allgemeine Idee der Schönheit, des Betragens und seelischer Anmut überwand alle Grenzen. Wer zu gefallen wußte, war überall daheim. Die adelige Welt zog die kirchlich-wissenschaftliche und die bürgerlich-handwerkliche in ihre Sphäre.
Maler, Architekten, Kunstschmiede, Tischler, Dichter und Musiker sollten als geschickte Auftragskünstler dem adeligen Ethos mit seinen Lebensformen den notwendigen eleganten Ausdruck verleihen. Die alte aristokratische Welt pflegte keinen internationalen style.
Sie hatte ihren eigenen vornehmen Stil, der von der Nation unabhängig war und dennoch viele regionale Variationen erlaubte, ja verlangte, sofern sie den Herrschaftsraum des guten Geschmacks erweiterten und bereicherten. Seit dem Mittelalter waren Ritter, Künstler, Gelehrte, Theologen, Geld- und Fernhändler, aber auch Handwerker an ein unstetes Leben gewöhnt.
Mobilität, von der heute so viel die Rede ist, zeichnete seit dem 11. Jahrhundert die Europäer aus, die sich meist gar nicht so nannten. Kein Talent konnte sich mit dem begnügen, was ihm in der unmittelbaren Umgebung beigebracht wurde. Beweglichkeit war die Voraussetzung, um Fähigkeiten zu vervollkommnen und die entsprechende Achtung zu finden.
Jedes vielversprechende Talent brachte zumindest einige Jahre im »Ausland« zu, ohne dabei den vertrauten Lebensraum zu verlassen. Denn überall wehte die gleiche Luft zwischen den Dingen, der Lebensatem der gleichen Kultur. Wer den vornehmen Stil meisterhaft beherrschte, war willkommen, ein Schwabe in Portugal, ein Spanier in Wien, ein Franzose in Stuttgart, ein Italiener überall.
Einer der größten Komponisten, Georg Friedrich Händel, der caro sassone, der liebenswürdige Sachse für Venezianer, Florentiner und Römer, vereinigte mühelos sämtliche geschmacklichen Richtungen des musikalisch-adeligen Europas und machte mit ihnen England, das Land ohne Musik, vertraut.
Ähnliche stilistische Sicherheit wurde von jedem Aristokraten verlangt. Deshalb konnten die großen und kleinen Herren ihren König und ihre patria wechseln, fühlten sie sich in ihrer Ehre gekränkt oder nicht genug ästimiert, um anderswo besser geschätzt zu werden und mehr Fortune zu haben.
Im Ersten Weltkrieg, der Urkatastrophe des 20. Jahrhundert, lösten sich schlagartig sämtliche verbindlichen Übereinkünfte über den guten Geschmack, über Kultur, Recht und Krieg auf. Er wurde von den westlichen Alliierten gegen Deutsche und ihre Verbündeten als »gerechter« Krieg geführt, wie früher ein Religionskrieg, in dem der Gegner nicht wie im Duell gleichberechtigt ist, sondern als Feind und Kriegsverbrecher kriminalisiert wird.
Damit wurden die sittlichen Errungenschaften des Westfälischen Friedens von 1648 aufgekündigt, die jede späteren Streitereien über Kriegsschuld und mögliche Vergehen während der Kriege untersagten, um den Frieden und eine bessere Zukunft als dessen Folge nicht zu belasten.
Die weltbürgerliche Elite erwies sich als ohnmächtig und sah sich gezwungen, im heftigen Kulturkampf, der keine Neutralität erlaubte, Partei zu ergreifen. Die Politisierung der Bildung überwältigte die Geister, wie früher nur während des demokratischen Terrors der jakobinischen Republik in Frankreich 1793/94.
Die westlichen Menschenfreunde verhießen im Namen der Freiheit und aufgeklärten Humanität wie Sarastro in Die Zauberflöte: »Wen solche Lehren nicht erfreuen, verdienet nicht ein Mensch sein«. Die Humanisten bestimmten, wer als Mensch gelten durfte oder als Unmensch verachtet werden mußte.
Sie schlossen die reaktionären, katholischen Dunkelmänner in Österreich und die militaristischen Preußen aus der gesitteten Menschheit aus, weil unvertraut mit der Freiheit und den Früchten westlicher Zivilisation, die den übrigen Menschen so begehrenswert erschienen.
Der radikale Feind und böswillige Barbar, unmenschlich in seiner Grausamkeit, bedurfte der totalen Umerziehung, um ihn zu verwestlichen und zum wahren Menschen in Gestalt eines wehrhaften Demokraten zu bilden. Die Politik wurde zum Schicksal mit einem totalen Zugriff, den sich Napoléon gar nicht vorstellen konnte, als er ihr im Gespräch mit Goethe 1808 im modernen Trauerspiel die Rolle übertragen wollte, die in der klassisch-griechischen Tragödie selbstverständlich nur den Göttern zukam.
Kurz vor seinem Tod warnte Goethe freilich eindringlich davor, mit den neuesten Literaten zu sagen, «die Politik sei die Poesie, oder sie sei für den Poeten ein passender Gegenstand«. Er widersetzte sich energisch jenen Forderungen, die nach 1914 an Schriftsteller und Intellektuelle überhaupt gerichtet wurden, ihren politischen Auftrag nicht zu versäumen und unmittelbar mit politisch-pädagogischen Absichten auf das Publikum und dessen Gesinnungen zu wirken.
Die Geistesgeschichte des 20. und bisherigen 21. Jahrhunderts ist eine ununterbrochene Folge von übler Nachrede, Kapitulationen, Demütigungen und erzwungenen Kompromissen, die das allgemeine Vertrauen in den unabhängigen Geist und die freie Bildung erheblich schwächen mußten.
Den wenigsten gelang es, sich frei von den Nötigungen totalitärer Bewegungen oder eines aggressiven, humanistischen Demokratismus zu halten, der auch seine Inquisitoren anstellt und Denunzianten belohnt wie einst im klassische Athen, in dem Sokrates von wehrhaften Verfassungspatrioten zum Tode verurteilt wurde.
Unermüdlich beschäftigen sich seither Wächter über die wünschenswerte Gesinnungstüchtigkeit mit den Irrtümern, den politischen Irrwegen und dem »Versagen« von Künstlern und Gelehrten. Auch der irrende Geist ist noch Geist; höchstens der Irrtum ist zu verwerfen, aber nicht der irrende Mensch. An dieser Übereinkunft wollten klassische Humanisten vor 1914 unbedingt festhalten.
Schlimm sind die hochideologisierten Zeiten, in denen man von einem Dieb nicht einmal mehr anerkennend bemerken darf, daß er doch wenigstens ein schönes Bein habe, wie Michel de Montaigne unter dem Eindruck der religionspolitischen Meinungskämpfe im französischen Bürgerkrieg im späten 16. Jahrhundert klagte.
Unter ähnlichen Voraussetzungen ist es nicht verwunderlich, wenn die meisten im 20. Jahrhundert darüber verzagten, sich zu bemühen, einen geistigen Begriff von Europa zurück zu gewinnen. Das 20. Jahrhundert hat Hofmannsthals Furcht bestätigt, daß Europa als geistiger Begriff aufgehört habe zu existieren.
Von einer Altbegier förmlich besessen, vertiefen sich mit wachsender Leidenschaft zahllose Gewissenserforscher von Gibraltar bis Riga und von Lübeck bis Palermo in die Schuld ihrer Groß- und Urgroßeltern und versichern sich ihrer Gemeinsamkeiten höchstens als Schuldgemeinschaft.
Europa als Schuldgemeinschaft weckt keinen Enthusiasmus. Die Vergangenheiten belästigen und belasten die wechselnden Gegenwarten, sie bieten keinen Halt und Trost. Insofern wurde der alte Kontinent allmählich zu einem Gefäß ohne Inhalt.
Es mangelt nicht an raunenden Stimmen, die bei festlichen Gelegenheiten Athen, Rom und das Christentum als Grundlagen unserer Kultur beschwören. Griechisch wird kaum noch gelernt, es ist im Westen so unbekannt geworden wie es vor sechshundert Jahren gewesen ist.
Latein tritt immer mehr in den Hintergrund. Es gibt jetzt die ersten Generationen seit dem Untergang des alten Rom, die völlig unberührt von der Latinität geblieben sind. So barbarisch verhielten sich nicht einmal die alten Germanen an beiden Ufern des Rheines im finstersten Mittelalter um 600 nach Christus. Wie christlich Europa noch ist, das weiß keiner.
Darüber möchten nicht einmal Bischöfe allzu gründlich nachdenken, um nicht etwa in Hoffnungslosigkeit, eine schwere Todsünde, zu verfallen. Antike und Christentum sind die Wurzeln des Abendlandes, wie es redensartlich heißt. Diese Wurzeln sind verdorrt, und es wäre eine lächerliche Übertreibung zu beteuern, daß die meisten Europäer darüber bekümmert seien.
Die Anrufung der allein selig machenden Aufklärung führt von einer Verlegenheit zur anderen. Welche frohe Botschaft soll es denn sein, die von Voltaire, Rousseau, de Sade oder Saint-Juste? Es gab viele Aufklärer und Lichtbringer, die allerdings – wie üblich bei Sektengründern – meist miteinander in heftigem Streit lagen.
Überhaupt ist die Geschichte ein Irrgarten, in dem man sich leicht verlaufen kann. Das macht sie längst verdächtig. Was die Europäer vereint, ist ihre Geschichtsverdrossenheit. Alle fühlen sich von ihren Vergangenheiten benachteiligt, betrogen oder auf andere Art verletzt. Sie sitzen auf dem Sofa und nehmen übel.
Allein als Kunstgeschichte ästhetisch neutralisiert kann die Geschichte zum »Erlebnis« werden im Amüsierimpressionismus beliebiger Eventproduktion. Doch unabhängig davon steigt aus der Tiefe der Jahre nur Skepsis und Überdruß empor.
Europa weiß nicht, wo es anfängt, wo es aufhört, woher es kommt und wohin es geht. Es soll seine Würde und seinen Sinn daraus gewinnen, zum Westen oder zur westlichen, atlantischen Gemeinschaft zu gehören. Aber keiner vermag zu begründen, was der Westen ist und warum Europa unbedingt westlich sein müsse.
Es gab bis 1914 immer vier Himmelsrichtungen mit ihren Vorteilen, Nachteilen, Verheißungen und Hoffnungen. Der Westen ist erst im Großen Krieg nach 1914 als polemisch-ideologische Waffe gegen Deutschland eingesetzt worden. Er ist also ein ziemlich neues Phänomen, wie auch sein einstiger Gegner, »der Osten«, der angeblich uneuropäisch ist.
Dabei sind der Marxismus und Kommunismus – eine deutsch-russische Erfindung – etwas sehr Europäisches. Europa gehört nicht natürlich und unmittelbar zur atlantischen Welt, die es freilich selbst geschaffen hat. Es war und ist weiterhin Teil der Alten Welt, mit der es seit viertausend Jahren im ununterbrochenen Austausch zusammenlebt.
Orient und Okzident sind untrennbar miteinander verbunden. Nichts soll auf einmal den Europäern als Westeuropäern so unheimlich sein wie der Osten oder Orient, der zu ihm gehört wie zum Menschen dessen Begleiter, nämlich sein Schatten. Weil die Geschichte als vorzugsweise problematisch und unbehaglich, ungemütlich und unbequem begriffen wird, sollen die Wirtschaft, das Geld, Warentausch und Konsum ein lebendiges Europa ermöglichen, das sich daran freut, einander auf dem freien weiten Markt zu begegnen.
»Die Menschen in Europa«, die den konkreten Europäer ersetzen, sollen nun dem ökonomischen Denken mit seiner Sachlichkeit und Sachgerechtigkeit andächtig vertrauen. Darin äußert sich angeblich jene ideologiefreie Kraft, die alle Gegensätze auflöst, obwohl gerade die sogenannte wertfreie Wirtschaft das schreckliche Feuerwerk ermöglichte, das die verschiedenen Katastrophen in zwei Weltkriegen illuminierte und alle anderen Kriege seitdem mit bengalischen Lichtspielen in photogene Schauspiele verwandelte zu Genuß oder Empörung – je nachdem ob Feind oder Freund – für den Fernseher am Feierabend.
In erstaunlicher Geschwindigkeit entwickelten sich die EWG und dann die EU, die sich dauernd mit Europa verwechseln, zu einem gemeinsamen Markt. Der wurde zu einem prächtigen Erlebnispark, in dem Einkaufen echt Spaß macht. Die Lebensgewohnheiten, die Verbraucherwünsche glichen sich an.
Der Markt sorgt als Gefährte der Demokratie für Homogenisierung der einander widerstrebenden Begehrlichkeiten, ohne sie vollends zu befriedigen, damit keiner wunschlos glücklich bleibt. Die Konsumfreiheit sichert die früher staatsbürgerlich verstandenen Freiheiten.
Doch der Staat begreift sich ja zunehmend als Dienstleister für Kunden, obschon er dauernd neue Steuern ersinnt. Freilich gerieten immer mehr »Menschen in Europa« an den Rand jenes Marktes, auf dem es für sie kein Auskommen und keine Zukunft gibt.
Das erschütterte den zuversichtlichen Glauben der Zukurzgekommenen an die Heilsökonomie des von allen Übeln erlösenden Marktes. Die Ökonomie erweist sich als gar nicht so sachlich, rational und wohltätig. Was soll die vielen Enttäuschten und Betrogenen veranlassen, in Europa eine Verheißung, gar eine sittliche Idee zu vermuten?
Außer ökonomischen Zwecken, zu deren Opfern sie wurden, sind ihnen keine genannt worden. Wie sollen sie Loyalität zu einem Europa wahren, das ihnen nicht gewährt, was es ihnen in Aussicht stellte: Wohlstand für alle? Außerdem: Europa ist als Markt Teil des Weltmarktes.
Klugen Markstrategen ist Europa längst zu klein geworden. Die Marktideologie führt weg aus Europa in die weite Welt hinaus. Die neuen Weltmänner vermissen keinen geistigen Begriff Europas, wenn sie sich bei griechischem Wein, französischem Käse, deutschem Brot und Mailänder Salami darüber freuen, unbeschwert auf den Bahamas zusammenzukommen und sich dabei bestätigen, wie schön es ist, als Europäer auf der Welt zu sein.