PDF der Druckfassung aus Sezession 86/Oktober 2018
SEZESSION: Vor einigen Jahren wurde ein Artikel des Althistorikers Alexander Demandt, der sich mit dem Untergang des Römischen Reiches und der Rolle der Einwanderung befaßte, von der Zeitschrift, die ihn bestellt hatte, abgelehnt. Der Grund: er könne in der aktuellen politischen Situation mißinterpretiert werden. Waren da Spenglerianer am Werke, die um ihr Herrschaftswissen fürchteten, oder sind die Parallelen so offensichtlich, daß der Untergang der EU besiegelt ist?
ENGELS: Hahaha – eine ausgezeichnete Frage. Ich fürchte allerdings, die Gründe waren erheblich prosaischer: Die gegenwärtige »Moralisierung«der Politik, hinter welcher sich nichts anderes als die zunehmende Hegemonie eines bestimmten Segments politisch korrekter Meinungsäußerung verbirgt, hat Demandts Analogie als »wenig hilfreich« empfunden und, das »allgemeine Interesse« vorschützend, auf eine Veröffentlichung des übrigens ja völlig ungefährlichen Textes verzichtet.
Ich selber stehe, wie ich kürzlich auch anläßlich einer Bamberger Podiumsdiskussion mit dem von mir außerordentlich hochgeschätzten Kollegen Demandt versucht habe zu erklären, dem Vergleich zwischen Gegenwart und Spätantike ein wenig skeptisch gegenüber: Was uns in den nächsten zwanzig oder dreißig Jahren zumindest in Westeuropa bevorsteht, ist nicht der materielle Untergang der abendländischen Kultur (der wird noch ein wenig länger auf sich warten lassen), sondern vielmehr ihre Umwandlung in einen autoritären Staat analog zum römischen Principat als letztem Bollwerk vor der völligen inneren Auflösung.
SEZESSION: Sie haben in Ihrem Buch Auf dem Weg ins Imperium (die deutsche Übersetzung erschien 2014) noch andere Indikatoren als die Einwanderung untersucht, um die Parallelen deutlich zu machen, die zwischen später römische Republik und EU bestehen. Bei welchen hat sich bei Ihnen in den letzten Jahren der Eindruck verstärkt, daß wir es hier mit Parallelentwicklungen zu haben?
ENGELS: Nun, das Manuskript zu meinem Buch war bereits 2011 abgeschlossen, nachdem es in seinen Umrissen schon seit 2009 konzipiert war. In diesen nahezu zehn Jahren hat sich in der Tat vieles abgespielt, das mich in dem Eindruck bestärkt hat, leider auf der richtigen Fährte zu sein.
In meinem Buch habe ich nicht nur gezeigt, wie sehr sich Faktoren wie Globalisierung, gesellschaftliche Polarisierung, Verfall der traditionellen Familie, Masseneinwanderung, Niedergang altererbter Religionsformen, sinkende Geburtenrate, asymmetrische Kriege, Technokratie, Wirtschaftsdiktatur, Elitendemokratie und viele andere zu einem toxischen Gebräu vermischt haben, das unsere gegenwärtige Gesellschaft genauso sehr wie die der späten römischen Republik an den Rand der Implosion bringen wird.
Ich habe auch angekündigt, daß diese Entwicklung überall in Europa, analog zur römischen Republik, notgedrungen zum Aufstieg sogenannter »populistischer« Parteien führen müsse, daß mit einer Verhärtung fundamentalistischer Positionen zu rechnen sei, daß die Exekutive und die Legislative auf Konfrontationskurs gehen würden und die EU selber sich zunehmend autoritär in ihrer Verfolgung multikulturalistischer und ultraliberaler Vorstellungen gerieren würde, bis es schließlich zum vorübergehenden Zusammenbruch käme.
Leider hat mir die Geschichte in allen Punkten bisher recht gegeben, und auch der angekündigte Tiefpunkt europäischer Geschichte wird, so fürchte ich, nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen, bis sich dann aus den Scherben unserer immer noch im Nachkriegs-Paradigma verhafteten Gesellschaft ein schon jetzt überall spürbarer autoritärer Staat erheben wird.
SEZESSION: Würden Sie Ihre Auffassungen als pessimistisch bezeichnen?
ENGELS: Im Vergleich zu der Idealgesellschaft, die ich mir für meine Familie und mich erträumen würde, ist diese Aussicht sicherlich sehr pessimistisch. An den Erfahrungen der Weltgeschichte gemessen, würde ich sie leider vielmehr als äußerst realistisch und pragmatisch bezeichnen.
SEZESSION: Wenn wir Spenglers Diktum, daß wir es bei der Antike und dem Abendland um vollkommen selbständige Kulturen handelt, deren Verlauf nur gleichartig gegliedert ist, ernst nehmen, beschäftigen wir uns dann bei der Antike mit etwas Fremden, mit dem wir so gut wie nichts zu tun haben?
ENGELS: Ja, das ist die notwendige Konsequenz aus Spenglers Vorstellung von der Weltgeschichte als Gesamtheit der Geschichte der großen Hochkulturen, die sich innerlich unabhängig voneinander entfalten und parallele Entwicklungen durchlaufen.
Ich würde mich selber als einen der wenigen gegenwärtigen Spenglerianer betrachten, wenn ich seine Theorie auch in wesentlichen Teilen zu modifizieren und vervollständigen suche. In der Tat ist die antike Geschichte uns, genau betrachtet, innerlich überaus fremd und nur durch die jahrhundertelange Gewohnheit ihrer geistigen Rezeption und Adaption durch die abendländische Weltsicht vertraut.
Wer die radikale Körperhaftigkeit der antiken Kunst mit dem Abstraktionsdrang der abendländischen vergleicht, wer das griechische und römische, in ganz konkreten, materiellen Kategorien verhaftete Staatsdenken neben die transzendente Staatstheorie des Westens setzt, wer die Lebensfreudigkeit der Antike mit der rigorosen moralischen Selbstzerfleischung des Abendlands konfrontiert, kann gar nicht anders, als den gewaltigen Abgrund zu empfinden, der uns von der griechisch-römischen Welt trennt, und der letztlich wohl ebenso schwer zu überbrücken ist wie der, welcher uns von der altchinesischen oder ägyptischen Kultur scheidet.
SEZESSION: Ist nicht auch das Christentum ein Phänomen, das beide miteinander verbindet und das Nietzsche meinte, wenn er die Geschichte Europas seit der römischen Kaiserzeit als einen durchgehenden »Sklavenaufstand« bezeichnete?
ENGELS: Selbstverständlich existieren jenseits jener in sich abgeschlossenen Kulturmonaden auch andere geschichtliche Phänomene, die das Interesse des Historikers verdienen. Grundlegende Kulturtechniken wie das Rad, der Ackerbau, die Schrift oder die Sprache können manchmal von Kultur zu Kultur weitergegeben werden, ebenso wie religiöse Vorstellungen.
Allerdings gilt es zu beachten, daß jede Kultur diesen »Erfahrungsschatz« ihrer eigenen Weltsicht entsprechend rezipiert und umwandelt. Die Antike kannte etwa die Dampfmaschine, hat sie aber bis auf einige Spielereien nie praktisch genutzt.
Die Chinesen waren dem Westen in der Entwicklung des Schießpulvers lange voraus, haben sie aber nie so weit perfektioniert wie dieser. Die Araber haben Platon und Aristoteles bis in die feinsten Kleinigkeiten kommentiert und analysiert, aber – für uns Abendländer unverständlicherweise – die demokratische Lebenswelt dieser beiden Philosophen vollständig ausgeblendet.
Spätere Kulturen werden mit Sicherheit mit ähnlichem Erstaunen analoge blinde Flecken auf der kulturellen Netzhaut der gegenwärtigen abendländischen Kultur entdecken.Um auf Nietzsche zurückzukommen: Die sich abzeichnende kulturelle Misere des 19. Jahrhunderts auf »das« Christentum zurückzuführen, war natürlich ebenso naiv und polemisch wie gegenwärtige Versuche, die katastrophalen Zustände des Nahen Ostens auf »den« Islam zurückzuführen.
Bereits das Christentum des ersten Jahrtausends, wie es sich heute noch ansatzweise in der griechisch-orthodoxen Kirche erhalten hat, mit dem Christentum des Abendlands, wie es sich seit den Ottonen entwickelt hat, zu vergleichen, ist eine grobe Naivität.
Und wer das militante christliche Ritterideal der Kreuzzugsgenerationen mit dem Renaissance-Christentum oder dem Christentum des 19. Jahrhunderts vergleicht – von der betrüblichen Schwundstufe der nachkonziliaren Zeit ganz zu schweigen –, kann gar nicht anders, als sich der enormen Divergenzen bewußt zu werden, mit der die jeweiligen Lebensphasen einer Kultur auch den Geist der jeweils bevorzugten Religion beeinflussen.
SEZESSION: Was spricht eigentlich für die Zyklentheorie? Der Lebenslauf ist in jeder Hinsicht davon geprägt und von daher sind zyklische Kosmologien natürlich auch im Blick auf die Geschichte naheliegend. Sie haben aber auch immer etwas Gewaltsames, fast steriles.
ENGELS: In der Tat, Zyklentheorien sind gewaltsam. Aber das ist leider, wie Sie ja zu Recht schon erwähnen, auch der Fall des Lebenslaufs jedes einzelnen Menschen: Die einzige Sicherheit, die Sie haben können, ist die Ihres Todes. Das ist zwar betrüblich und, legt man die heutzutage geläufigen Standards an, denen zufolge jeder Mensch sich sozusagen in alle Ewigkeit hin losgelöst von jedem äußeren Einfluß frei entfalten soll, ideologisch geradezu »verwerflich«.
Aber leider ist das Gesetz des Werdens und des Vergehens allen Seienden die absolute Grundkonstante einer jeden lebendigen Erfahrung, wie schon Platon feststellte – wieso sollte es also mit einer Kultur anders sein?
Übrigens handelt es sich bei der historischen Zyklentheorie ja keineswegs um ein neuartiges, gewissermaßen zur allgemeinen wissenschaftlichen Disposition stehendes intellektuelles Konstrukt, sondern um eine grundlegende, allgemeinmenschliche Geschichtserfahrung, die man vielleicht ebenso wie den Tod zeitweise ignorieren, aber nicht irgendwie »widerlegen« kann: Ob es nun die Zyklentheorie Platons oder Senecas im Rahmen der antiken Geschichtstheorie ist, die Lehre von der symmetrischen Abfolge der chinesischen Dynastien bei Sima Qian, die Überzeugung von der logischen Aufeinanderfolge der großen Weltreiche im Alten Orient, die Generationenlehre Ibn Khalduns im islamischen Denken – und die Liste ließe sich nahezu endlos fortsetzen –: Überall auf der Welt ist die Bedingtheit und Begrenztheit des menschlichen Lebens auch auf diejenige größerer gesellschaftlicher Körper übertragen worden.
Es ist nur ein typisches Symptom für Spätzeiten, dies vorübergehend ignorieren zu wollen, ein wenig wie der Altersstarrsinn todgeweihter Personen, die das nahe Ende nicht wahrhaben wollen, bevor sie sich schließlich grollend in das Schicksal fügen …
SEZESSION: Bei Spengler dient die Beschäftigung der Vorhersage für das Schicksal der eigenen Kultur. Andere sehen in der Antike die Maßstäbe angelegt, die bis in die jüngste Vergangenheit Gültigkeit beansprucht haben und nicht selten als Korrektiv herangezogen wurden, wenn es galt, gegenwärtigen Fehlentwicklungen ein positives Bild entgegenzusetzen. Gilt das nur für die Griechen?
ENGELS: Alle menschlichen Kulturen, so meine eigene Überzeugung in Anlehnung an diejenige Spenglers, sind in radikalster Weise unterschiedlich und dadurch wieder ebenso radikal gleichwertig. Es gibt kein einziges schlüssiges Argument jenseits bloßer Oberflächenphänomene, um eine wie auch immer geartete »Überlegenheit« der einen über die andere Kultur zu postulieren.
Sicher, die Abendländer haben als erste Raketen in den Weltraum geschickt – aber sind diese Raketen wirklich in irgendeiner grundsätzlichen Art und Weise »mehr« oder »besser« als die Tiefe der indischen Philosophie, die Schönheit einer antiken Statue oder die Harmonie eines chinesischen Gartens? Quantifizierung hat keinerlei Sinn, wo es in erster Linie um Qualität und Umsetzung grundsätzlicher menschlicher Erfahrungen in konkretes kulturelles Schaffen geht.
Alles, was wir heute als ernstzunehmende Historiker vermögen, ist es, dem inneren Geist jener Kulturen nachzuspüren und, ungeachtet der gewaltigen Abgründe, die uns von ihnen trennen, aus der Summe möglicher Weltsichten die bestmögliche Annäherung an das Phänomen des Menschlichen allgemein und natürlich auch und besonders des Göttlichen zu entwickeln – ein Unterfangen, das freilich alles andere als zeitgemäß ist, gilt doch echte Geschichtsphilosophie und wissenschaftliche Kulturmorphologie in Zeiten angeblichen »Multikulturalismus« absurderweise als eine Art verpönte Disziplin.
Die besondere Beschäftigung mit der klassischen Antike ist zum einen für uns Europäer die nächstliegende, da das Wissen um jene Kultur im Westen bis vor kurzem allseits so hochgehalten wurde, daß sich die griechisch-römische Zivilisation als Vergleichsmaßstab geradezu automatisch aufdrängt.
Das bedeutet aber freilich zum anderen nicht, daß es sich um die einzige sinnvolle Analogie handelt. So ließe sich wohl behaupten, daß die staatliche Entwicklung der klassischen chinesischen Kultur des ersten Jahrtausends v.Chr. erheblich mehr derjenigen des Abendlands gleicht als die der antiken Polis-Welt.
Und auch die theologischen Debatten der byzantinisch-arabischen Welt dürften denjenigen des christlichen Denkens erheblich näher sein als der antike Polytheismus.
SEZESSION: Wir befinden uns nach Spengler im zweiten Stadium der Zivilisation, das er mit den Stichworten »Cäsarismus. Wachsender Naturalismus der politischen Form. Zerfall der Volksorganismen in amorphe Menschenmassen; deren Resorption in ein Imperium von allmählich wieder primitiv-despotischen Charakter« charakterisiert hat. Das Stadium reicht in der Antike von 100 v. bis 100 n.Chr. und betrifft im Abendland die Jahre 2000 bis 2200, mithin einen Zeitraum, der noch fast vollständig vor uns liegt. Wie ließe sich der Cäsarismus heute umschreiben?
ENGELS: Der »Cäsarismus«, wie wir ihn bei Clodius, Pompeius und natürlich Caesar kennen, ist ja nur die gewissermaßen »populistische« Vorstufe zur endgültigen Festigung eines autoritären Systems, das neben plebiszitärer Bestätigung auch und vor allem auf militärischer Macht und der Schaffung einer neuen Verwaltungselite beruht, wie wir sie in Rom seit der Festigung der Herrschaft des Augustus kennen.
So weit sind wir heute noch nicht; denn parallelisieren wir den linken wie rechten Totalitarismus jeweils mit den Gracchen und mit Sulla, würden wir gegenwärtig »nur« in der Anfangsphase des Cäsarismus leben. Das paßt eigentlich ganz gut auf die Gegenwart mit ihren aus den Trümmern des Sozialismus aufstehenden rechts- wie linkspopulistischen Parteien, so daß ein Staatsmann wie Trump etwa mit einem populistischen Demagogen wie Clodius und ein überparteilicher »Mann der Stunde« wie Macron ganz gut mit einem Politiker wie Pompeius vergleichbar wären.
Dementsprechend würden die nächsten zwei bis drei Jahrzehnte die Ausartung des politischen Kampfes zwischen »Systemparteien« und »Populisten« sehen, wie in Rom angeheizt durch brennende soziale Fragen wie Arbeitslosigkeit, Migration oder sozialer Polarisierung, bevor es dann zu einer grundlegenden autoritären Reform analog derjenigen des Augustus käme, in deren Folge die EU, oder was von ihr übrigbliebe, sich in ein politisches System verwandeln würde, das dem der heutigen russischen Föderation oder der chinesischen Volksrepublik durchaus ähneln könnte, um sich dann in den nächsten 100 Jahren zunehmend in Richtung jenes »primitiv-despotischen Charakters« weiterzuentwickeln, den Spengler in Analogie zur Umwandlung des Principats in das Adoptivkaisertum und dann das Soldatenkaisertum beschrieben hat.
SEZESSION: Spengler schrieb 1921: »Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.« Das hat er mit Blick auf die nächsten 200 bis 300 Jahre geschrieben, so daß wir ihn vielleicht nicht festnageln wollen. Allerdings ist die Zwischenkriegsphase so deutlich von einigen Cäsaren geprägt gewesen, daß die Atempause, die sich der Cäsarismus nach 1945 zumindest im Westen noch einmal gegönnt hat, erklärungsbedürftig ist. Haben wir den Bürgerkrieg schon hinter uns?
ENGELS: Ich fürchte leider nicht. Auch in Rom sehen wir ja zwischen dem Tod Sullas 78 v.Chr., den man wohl als »konservativen Revolutionär« im Stil Mussolinis und Francos bezeichnen könnte, und dem erneuten Aufflammen der Bürgerkriege 49 v.Chr., eine längere Atempause.
Bedenkt man zudem, daß das Zeitalter des Kalten Krieges in vielerlei Hinsicht zahlreiche der sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg abzeichnenden Probleme gewissermaßen künstlich »eingefroren« und durch den immensen wirtschaftlichen Nachholbedarf der Nachkriegszeit entschärft hat, schrumpft der tatsächliche zeitliche Abstand zu 1945 um so mehr, und es ist nicht ohne Grund, daß die Gegenwart jener der Weimarer Republik so auffällig ähnelt.
Das »dicke Ende« wird daher in Europa erst noch kommen, genauso wie die Römer, die nach dem Tode Sullas erhofft hatten, endlich von den seit Jahrzehnten schwärenden Bürgerkriegen befreit zu sein, nach gerade einmal einer Generation sich auf eine zweite, 20jährige Zeit schlimmster Unruhen gefaßt machen mußten.
Inwieweit freilich aus diesen kommenden Umbrüchen tatsächlich ein »deutscher« Cäsar hervorgehen wird, wie Spengler in der typisch nationalkonservativen Gesinnung der späten deutschen Kaiserzeit erhoffte, bleibt abzuwarten. Daß viele Europäer schon heute den Eindruck habe, die gegenwärtige Kanzlerin zwänge dem Rest des Kontinents ihren Willen auf, und überzeugt sind, ihr Bruch des Dublin-Abkommens und ihr Alleingang in der Flüchtlingsfrage seien wesentlich mitverantwortlich für die gegenwärtige Krisenzeit Europas und paradoxerweise nicht nur den Brexit, sondern auch den Aufstieg des Populismus, spräche jedenfalls sehr dafür, die Klagen um die gegenwärtige Machtposition der deutschen Führungsschicht als heimlicher Hegemon des Kontinents durchaus ernst zu nehmen.
SEZESSION: Spengler sah einen »Endkampf zwischen Wirtschaft und Politik«: »Man ist der Geldwirtschaft müde bis zum Ekel. Man hofft auf eine Erlösung irgendwoher, auf einen echten Ton von Ehre und Ritterlichkeit, von innerem Adel, von Entsagung und Pflicht.« Das ist ein Phänomen, das einem immer wieder begegnet, ob bei der Reformbewegung um 1900 oder auch heute in – allerdings sehr kleinen Teilen – der Jugend. Die Suche gilt einem absoluten Wert, dem man sich unterordnen möchte. Sehen Sie solche Bewegungen, und welche Bedeutung haben sie für die Zukunft Europas?
ENGELS: Sie haben leider völlig damit recht, daß ein solches Phänomen zur Zeit nur einen kleinen Teil der Jugend berührt. Trotzdem bin ich, wenn man so will, »optimistisch«. Die gegenwärtige Faszination nicht nur für Autoren wie Jordan Peterson, sondern auch für den Archaismus Tolkiens, den Primitivismus von Game of Thrones, den Apokalyptizismus der verschiedensten Zombie- und Fall-Out-Serien – all das zeigt nur die tiefe Sehnsucht nach der Rückkehr einer »guten alten Zeit« mit festen, soliden Werten wie Ehre, Treue, Stolz oder Familie, auch und gerade um den Preis einer völligen Zerstörung technologisch fortgeschrittener Zivilisation.
Während ich diesen stetig wachsenden Idealismus, die Suche nach einem Absolutum inmitten einer relativistischen und atomisierten Wegwerfgesellschaft persönlich völlig begrüße, kann ich leider nicht umhin, diese Tendenz aus der Perspektive ihres unweigerlichen Resultats zu analysieren.
Und da finden wir natürlich die unmittelbare Materialisierung dieser Suche nach einem »Absoluten« in der Unterwerfung unter ein autoritäres politisches System, das sicherlich in vielem in wünschenswerter Weise an die alterprobten Werte unserer großen abendländischen Vergangenheit anknüpfen wird, wenn man die Analogien zum römischen Principat und seiner Wertschätzung des alten mos maiorum als Vergleichsmaßstab nimmt, gleichzeitig sich aber auch zwangsstaatlicher Maßnahmen bedienen wird, um den Rückfall in die Bürgerkriege zu verhindern.
Nicht ohne Grund habe ich mein Buch mit einem Zitat aus Titus Livius abgeschlossen, welcher als konservativer, also zutiefst republikanischer Römer und gleichzeitig Zeitgenosse der augusteischen »konservativen Revolution« betrauerte, daß es um seinen Zeitgenossen schon so bestellt wäre, daß sie weder die Leiden ihrer Epoche noch ihre Heilmittel zu ertragen wüßten – will heißen, daß der Verfall der alten Republik durch die späte Senatsoligarchie nur um weniges schlimmer war als die vermeintliche, rein äußerliche Restitution der guten Sitten der Altvorderen durch den neuen Alleinherrscher …
SEZESSION: Die Europäische Union ist im Unterschied zur römischen Republik ein Imperium, das von Nationalstaaten getragen wird, die über eine eigene gewachsene Identität verfügen. Selbst wenn sich diese Identität in Auflösung befindet und die Eliten sich eine übernationale Identität zugelegt haben, bleibt doch das Faktum bestehen, daß der Widerstand gegen das europäische Imperium hier ganz offenbar eine Basis hat, die nur durch die gegenwärtige Prosperität abgemildert wird. Welche Zukunft haben die Nationalstaaten im Imperium?
ENGELS: Nun ja, auch das Reich der römischen Republik war alles andere als monolithisch und wurde eben nicht, wie dies volkstümlich angenommen wird, getragen durch die bedingungslose Unterordnung einer willenlosen Untertanenmasse, sondern vielmehr durch eine gewaltige Zahl weitgehend autonomer und oft sogar freiwillig an das Reich angeschlossener Stadtstaaten, Fürstentümer und Königreiche, deren innere Unabhängigkeit und jeweilige politische und kulturelle Präferenz regelmäßig dann deutlich wurde, wenn Rom von inneren Konflikten geplagt wurde und die verschiedenen Reichsbestandteile sich unterschiedlichen römischen Faktionen anschlossen oder sogar die völlige Unabhängigkeit anstrebten.
Die Analogien sind also auch hier überdeutlich. Zudem: Stammt der »Widerstand« gegen die EU tatsächlich von den Nationalstaaten? Oder nicht vielmehr nationenübergreifend von konservativen »populistischen« Parteien, die sich überall in Europa in ihrem Programm ideologisch zunehmend einander annähern, so daß anzunehmen ist, daß es im Falle allgemeiner konservativer Wahlsiege in Europa sicherlich keineswegs zu einer wie auch immer gearteten »Auflösung« der EU kommen würde, sondern vielmehr nur zu deren »feindlichen Übernahme«?
Dies ist um so wahrscheinlicher, als seitens der »Systemparteien« ja mit einem völlig relativistischen, gänzlich leeren Europabegriff operiert wird, hinter dem letztlich nur der Wunsch nach Machterhalt und ‑vergrößerung einer international agierenden Finanz- und Politikelite steht, während die »Populisten« ganz im Gegenteil weitgehend gerade nicht mehr vom aggressiven, expansionistischen und exklusiven Nationsbegriff des 19. Jahrhunderts ausgehen, dessen Verirrungen wohl kaum jemand zurückwünscht, sondern vielmehr von dem des christlichen Abendlandes, dessen ganz besonderen, spezifischen Mehrwert zur Welt- und Menschheitsgeschichte es gegen äußere Bedrohungen (China) wie innere Gefahren (Islamismus) zu verteidigen gilt – nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Superiorität, sondern vielmehr eines simplen Rechtes auf Überleben und eigengesetzliche Weiterentwicklung.
Unter konservativen Vorzeichen ließe sich also durchaus an eine Entschärfung des (scheinbaren) Konflikts zwischen EU und Nationalstaat im Sinne einer Versöhnung abendländischer Schicksalsgemeinschaft und regional gewachsener Identität denken, ganz analog zur Ausformung der Leitkultur des augusteischen Principats, welche eine Fusion zwischen griechischer und römischer Kultur einerseits und einer wechselseitigen Durchdringung einer übergeordneten romanitas und verschiedenster lokaler Identitäten andererseits angestrebt und erfolgreich verwirklicht hat.
Freilich ging auch dies nicht ohne viele Opfer von beiden Seiten vonstatten, da sich sowohl die römische Kultur »internationalisierte« als auch die lokalen Traditionen romanisierten; immerhin wäre eine solche Aussicht für Europa wohl immer noch besser als der Rück- und Zerfall in einzelne Nationalstaaten und deren Auseinanderdivision, Vasallisierung und Aufhetzung durch umliegende Imperien wie China, Rußland oder die USA …
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