Die Kluft. Über das Eskalationspotential der deutschen Linken

PDF der Druckfassung aus Sezession 87/Dezember 2018

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Wenn in der deutsch­spra­chi­gen Lin­ken über Migra­ti­on, Flücht­lin­ge und Zuwan­de­rung gestrit­ten wird, ste­hen sich zwei Blö­cke nahe­zu unver­söhn­lich gegen­über: Auf der einen Sei­te die men­schen­rechts­uni­ver­sa­lis­tisch argu­men­tie­ren­de, hyper­mo­ra­lisch auf­tre­ten­de »Open Bor­der«- Mehr­heits­frak­ti­on (man den­ke an Kat­ja Kip­ping in der Par­tei­po­li­tik, an krei­schen­de Links­tee­nies beim Flücht­lings­gu­cken an Bahn­hö­fen oder an anti­fa­schis­ti­sche Pam­phle­te) – sie ist bei­na­he aus­nahms­los der Mei­nung, zur AfD über­ge­gan­ge­ne Wäh­ler sol­len als »Ras­sis­ten« da blei­ben, wo sie hin­über­ge­wech­selt sind.

Auf der ande­ren Sei­te die um einen wirk­lich­keits­na­hen Blick bemüh­te, ent­lang von Sach­fra­gen ope­rie­ren­de, rea­lis­ti­sche, »altlinks«-materialistisch argu­men­tie­ren­de Grup­pe (man den­ke an Sahra Wagen­knecht in der Par­tei­po­li­tik oder an Wolf­gang Stre­eck in der Publi­zis­tik), für wel­che die AfD-Erfolgs­ge­schich­te auch oder gar vor allem lin­ken migra­ti­ons­po­li­ti­schen Unzu­läng­lich­kei­ten geschul­det sei – sie wird für ihre ver­meint­li­che »Rechts­ab­wei­chung« von Anti­fa-Akteu­ren und lin­ken Jugend­grup­pen immer wie­der ange­grif­fen, auch tätlich.

So dicho­to­misch ist die Situa­ti­on links der Mit­te tat­säch­lich. Die Kluft zwi­schen bei­den Frak­tio­nen, die intern gewiß wie­der zu unter­glie­dern wären, ist seit dem Beginn der Migra­ti­ons­kri­se 2015 ste­tig gewach­sen und scheint ange­sichts der ver­här­te­ten Fron­ten all­mäh­lich unüberwindbar.

In der Fra­ge von Migra­ti­on und Zuwan­de­rung ver­dich­ten sich die ver­schie­de­nen Kon­flikt­li­ni­en der hete­ro­ge­nen Lin­ken. Rai­ner Bal­ce­ro­wi­ak, ein Jour­na­list im ideo­lo­gi­schen Umfeld Wagen­knechts, bringt dies auf die For­mel »Gemein­schafts­den­ken gegen uni­ver­sa­le Ver­ein­ze­lung«, in poli­ti­scher Dik­ti­on: »Kom­mu­ni­ta­ris­mus vs. Kos­mo­po­li­tis­mus«; es gehe »um alter­na­ti­ve Lebens­ent­wür­fe urba­ner Citoy­ens vs. das Bedürf­nis nach Hei­mat, Gebor­gen­heit und sozia­ler Sicherheit«.

Die­se Ent­wür­fe, die in der Lin­ken in ver­schie­de­nen Abstu­fun­gen ver­tre­ten wer­den, sind auf­grund ihrer unter­schied­li­chen zugrun­de­lie­gen­den Para­dig­men und Gesell­schafts­ent­wür­fe schlech­ter­dings nicht har­mo­ni­sier­bar; die Kluft ist grö­ßer als jeder der­zeit fest­stell­ba­re Gra­ben inner­halb der Rechten.

Hans-Jür­gen Urban, Vor­den­ker einer arbeits­tei­li­gen Lin­ken, mahnt dem­entspre­chend, daß die noch nicht ein­mal kon­sti­tu­ier­te »Mosa­i­k­lin­ke« bereits dro­he, an der Migra­ti­ons­fra­ge »zu zer­schel­len«. In der Öffent­lich­keit, auch in der rech­ten, wur­de die­se vor­han­de­ne sub­stan­ti­el­le Spal­tung oft unterschätzt.

Das lag zum einen an der media­len Über­re­prä­sen­ta­ti­on, ja an der gefühl­ten Omni­prä­senz der Open-Bor­der-Frak­ti­on, was ver­mu­ten ließ, ande­re Stand­punk­te zur Mas­sen­mi­gra­ti­on, kri­ti­sche zumal, wären in der Lin­ken nicht exis­tent. Zum ande­ren lag dies an der Defen­siv­hal­tung respek­ti­ve Pro-for­ma-Selbst­gei­ße­lung einer rea­lis­ti­sche­ren Lin­ken, die im »Dis­kurs«, der untrüg­lich kei­ner war, oft­mals zu schwei­gen schien, um den Furor der Hyper­mo­ra­lis­ten nicht noch stär­ker auf sich zu ziehen.

Das ändert sich nun, und die Aus­ein­an­der­set­zung nimmt nicht zuletzt seit der Inau­gu­ra­ti­on der »Auf­ste­hen«- Grup­pie­rung um Sahra Wagen­knecht, Bernd Ste­ge­mann und eini­ge ande­re sowie auf­grund der damit ver­bun­de­nen Aus­ein­an­der­set­zun­gen an Fahrt auf.

Weil trotz eige­ner essen­ti­el­ler Lücken (vgl. mei­nen Bei­trag »Die Lücke, das Volk, die Lin­ke« in Sezes­si­on 85) gewis­se Annä­he­run­gen die­ser um Natio­nal­staats­rea­lis­mus bemüh­ten »popu­lis­ti­schen« Lin­ken an kon­ser­va­ti­ve bis neu­rech­te Stand­punk­te wahr­zu­neh­men sind, lohnt sich ein nähe­rer Blick ins­be­son­de­re auf die inner­lin­ken Geg­ner der »Grenzen-auf-für-alle«-Apologeten.

Es könn­te näm­lich zu einer direk­ten Kon­kur­renz­si­tua­ti­on für jene Tei­le der Rech­ten kom­men, die dabei sind, als »links« wahr­ge­nom­me­ne The­men zu kapern. Denn obschon die Rhe­to­rik des Zuwan­de­rungs­fa­na­tis­mus in der viel­fäl­ti­gen lin­ken Publi­zis­tik Deutsch­lands über Jah­re hin­weg unan­tast­bar schien, so kann man nun, vor allem auf­grund des maß­geb­li­chen Drucks, unter den die Lin­ke von rechts gera­ten ist, unge­wohn­te Über­le­gun­gen vernehmen.

Die Direk­to­rin des Wirt­schafts- und Sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen Insti­tuts der (gewerk­schafts­na­hen) Hans-Böck­ler-Stif­tung, Anke Has­sel, mahnt bei­spiels­wei­se, »der häu­fig kri­ti­sier­te Satz ›Sozi­al geht nur natio­nal‹« sei »in ers­ter Linie eine empi­ri­sche Tatsache«.

Für die Leser der dezi­diert migra­ti­ons­freund­li­chen Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik sind das ver­stö­ren­de Töne. Has­sel ahn­te wohl die fol­gen­den Reak­tio­nen, wenn sie ihre The­se, wonach es einer (lin­ken) Revi­si­on der Migra­ti­ons­po­li­tik in Rich­tung einer Regu­la­ti­on der Zuwan­de­rung bedür­fe, mit dem Appell schließt, man müs­se doch end­lich »Foren der Dis­kus­si­on und des Aus­gleichs« schaf­fen, damit The­men wie Migra­ti­on offen debat­tiert wer­den könn­ten – die­ser Auf­ruf erin­nert frap­pie­rend an die Vor­schlä­ge Mar­tin Sellners.

Has­sels Ver­dikt impli­ziert die (für rech­te Leser unspek­ta­ku­lä­re) Erkennt­nis, daß lin­ke Medi­en kei­ne sol­chen Foren ermög­lich­ten. Dort domi­niert bis­her eine gefühls­mä­ßig und mora­li­sie­rend auf­ge­la­de­ne »libe­ra­le Hyper­kul­tur« (Andre­as Reck­witz), die von kul­tu­rell links­li­be­ra­len Mar­kern durch­drun­gen ist und migra­ti­ons­po­li­tisch kei­ne ande­re Losung als jene der bedin­gungs­lo­sen Auf­nah­me von Migran­ten jeder Art akzeptiert.

»Bis­her« – denn in betont klei­nen Schrit­ten voll­zieht sich eine par­ti­el­le theo­re­ti­sche Öff­nung in Rich­tung ande­rer Ansich­ten. Par­al­lel zu Has­sels Bei­trag in den lin­ken Blät­tern erschien denn auch im Zen­tral­or­gan der SPD-nahen Fried­rich-Ebert-Stif­tung Neue Gesellschaft/Frankfurter Hef­te ein ver­gleich­ba­res Plä­doy­er zum Umdenken.

Juli­an Nida-Rüme­lin ver­maß das Gelän­de der Migra­ti­on neu: Ein­wan­de­rung, so der Münch­ner Pro­fes­sor für Phi­lo­so­phie und Poli­ti­sche Theo­rie, müs­se »sozi­al- und kul­tur­ver­träg­lich in den Auf­nah­me­ge­sell­schaf­ten sein«. Der Lei­ter der SPD-Grund­wer­te­kom­mis­si­on von 2009 bis 2013 bemerkt im Hin­blick auf unse­re süd­li­chen Nach­barn, daß es »durch­aus legi­tim« sei, »wenn ein gro­ßer Teil der ita­lie­ni­schen Gesell­schaft es ablehnt, dass jun­ge Män­ner aus den Mit­tel­schich­ten des sub­sa­ha­ri­schen Afri­kas die Bahn­hö­fe und Stra­ßen der süd­ita­lie­ni­schen Städ­te zu Zig­tau­sen­den bevölkern«.

In die­sem Kon­text ver­weist Nida-Rüme­lin auch auf die Bevöl­ke­rungs­explo­si­on in Afri­ka: Der Kon­ti­nent wird 2050 wohl 2,5 Mil­li­ar­den Bewoh­ner haben. Nida-Rüme­lins Ana­ly­se wird dadurch beson­ders bri­sant, daß der Autor aus die­sen und wei­te­ren Aspek­ten schluß­fol­gert, die deut­sche Sozi­al­de­mo­kra­tie wer­de sich inhalt­lich öff­nen müs­sen, und zwar »in der Sozi­al­po­li­tik nach links, in der Migra­ti­ons­po­li­tik nach rechts«, gegen »Glo­ba­lis­mus à la TTIP und WTO«.

Abge­se­hen davon, daß ein Ter­mi­nus wie »Glo­ba­lis­mus« auf­grund all­fäl­li­ger rech­ter Glo­ba­li­sie­rungs­kri­tik – etwa von Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge – vie­len links sozia­li­sier­ten Lesern schon als »anrü­chig« erschei­nen könn­te, ist es bemer­kens­wert, daß hier ein unter Ger­hard Schrö­der als Kul­tur­staats­mi­nis­ter reüs­sie­ren­der Sozi­al­de­mo­krat offen einen Rechts­schwenk in Zuwan­de­rungs­fra­gen for­dert – im sel­ben Maße wie Anke Has­sel, wenn sie eine ziem­lich deut­lich rechts kon­no­tier­te Losung wie »Sozi­al geht nur natio­nal« rehabilitiert.

In eine ganz ähn­li­che Rich­tung geht auch Nils Heis­ter­ha­gen. Der ehe­ma­li­ge Grund­satz­re­fe­rent einer sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Land­tags­frak­ti­on hat eine dezi­diert lin­ke Kri­tik des kos­mo­po­li­tisch-links­li­be­ra­len Ungeists des eige­nen Milieus in einem Pro­gramm­buch ver­dich­tet. Die libe­ra­le Illu­si­on (hier bestel­len) ist ein Appell, den »libe­ra­len Mora­lis­mus« samt inhä­ren­ter Poli­ti­cal Cor­rect­ness zu überwinden.

Deut­li­cher und radi­ka­ler als Has­sel und Nida-Rüme­lin kri­ti­siert Heis­ter­ha­gen das Trei­ben der rot­grü­nen »post­mo­der­nen Iden­ti­täts­po­li­ti­ker«, die nicht nur jedes Maß ver­lo­ren hät­ten, son­dern auch als »emo­tio­nal Getrie­be­ne« wir­ken, die ihren
Mora­lis­mus nicht ein­mal mehr für ratio­nal begrün­dungs­pflich­tig erach­ten, son­dern apo­dik­tisch als das Gute voraussetzen.

In die­ser Logik, so kann man Heis­ter­ha­gens Ansät­ze in sei­nem jüngs­ten Buch und in diver­sen Zeit­schrif­ten­bei­trä­gen deu­ten, wer­den Hedo­nis­mus und Kon­su­mis­mus mit men­schen­recht­lich argu­men­tie­ren­dem Uni­ver­sa­lis­mus zur neu­en, »kul­tur­lin­ken«, post­mo­der­nen Heils­leh­re synthetisiert.

Ganz ver­nut­zend, ist die­ser Geist nur der Gegen­wart zuge­wandt, in der sich das von Bin­dun­gen befrei­te Indi­vi­du­um selbst bejub­le und sich für die Zukunft und sei­ne viel­fäl­ti­gen poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen blind zei­ge. Statt einer sub­stan­ti­el­len Kri­tik an sol­chen emi­nent libe­ra­len Ent­wick­lun­gen, fol­ge links jedoch die Apo­lo­gie der »Diver­si­ty-Poli­tik«, die nach Heis­ter­ha­gen eben nicht links, son­dern libe­ral, nicht grund­sätz­lich, son­dern post­mo­dern belie­big anzu­se­hen ist.

Aus die­sem Lebens­ge­fühl der »post­mo­der­nen Lin­ken« erwach­se eine genui­ne Arro­ganz gegen­über all jenen, die die­se »Lebens­welt« nicht ken­nen, nicht selbst erfah­ren, sprich: es bil­det sich Über­heb­lich­keit samt Über­le­gen­heits­ge­fühl die­ser urba­nen, kos­mo­po­li­ti­schen neu­en Lin­ken gegen­über der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit heraus.

Heis­ter­ha­gen ana­ly­siert letzt­lich das, was Nor­bert Bor­mann in War­um rechts? eini­ge Jah­re vor ihm dar­leg­te: Der Fix­punkt heu­ti­ger lin­ker Poli­tik, spe­zi­ell der ton­an­ge­ben­den Open-Bor­der-Frak­ti­on, ist die offe­ne Gesell­schaft, nicht die sozia­le oder soli­da­ri­sche; die pri­mä­re Stoß­rich­tung der Kri­tik ver­läuft gesell­schafts­po­li­tisch, nicht all­ge­mein poli­tisch und ökonomisch.

Man hat die »gro­ßen Fra­gen« preis­ge­ge­ben, um im »post­mo­der­nen Wohl­fühl­links­li­be­ra­lis­mus« auf­zu­ge­hen. Lin­ke Poli­tik arti­ku­liert sich allen­falls noch als »Nehmt bit­te mehr Flücht­lin­ge auf«, wie Heis­ter­ha­gen spe­zi­ell in bezug auf die Jung­so­zia­lis­ten (Jusos) der SPD moniert, die die­je­ni­gen sei­en, »die am lau­tes­ten für offe­ne Gren­zen und gegen jede Flücht­lings­be­gren­zungs­po­li­tik sprechen«.

Die Kluft zwi­schen grund­sätz­li­chen Lin­ken, zu denen Heis­ter­ha­gen zu rech­nen ist, und jener Life­style-Lin­ken, deren Feld weit umfas­sen­der ist als die Juso-Struk­tu­ren, besteht nicht nur habi­tu­ell, son­dern fun­da­men­tal. Heis­ter­ha­gen weiß, was die post­mo­der­ne Lin­ke ihm und sei­nes­glei­chen für Bären­diens­te erweist; er fürch­tet nicht zuletzt auf­grund die­ser Män­gel ein wei­te­res Erstar­ken einer poli­ti­schen Rech­ten mit sozia­ler Ausrichtung.

Denn dem Befund vie­ler sei­ner Weg­ge­fähr­ten, die AfD sei in wei­ten Tei­len »neo­li­be­ral« oder, weni­ger pejo­ra­tiv, »wirt­schafts­li­be­ral«, und man müs­se daher als rot-rot-grü­nes Lager kei­ne sozi­al­po­li­ti­sche Kon­kur­renz durch die Alter­na­ti­ve fürch­ten, man­gelt es – aus­ge­rech­net – an inter­na­tio­na­lem Weitblick.

Denn Heis­ter­ha­gen ver­weist mit Recht dar­auf, daß fast alle erfolg­rei­chen Pro­jek­te rech­ter Popu­lis­ten in Euro­pa als markt­li­be­ra­le Platt­for­men began­nen. Doch erleb­ten sie frü­her oder spä­ter (mit Aus­nah­me Geert Wil­ders’) eine expli­zit sozia­le und eta­tis­ti­sche Wende.

Bereits jetzt ist dar­über hin­aus die AfD in den »popu­lä­ren Klas­sen«, also bei den »Prekären«und in der unte­ren Mit­tel­schicht, die stärks­te Kraft, und das trotz der (noch) recht markt­li­be­ra­len Pro­gram­ma­tik. Was, so läßt sich mit Heis­ter­ha­gen arg­wöh­nisch (er fürch­tet die »Kon­ter­re­vo­lu­ti­on von ganz rechts«), aus unse­rem Blick­win­kel jedoch hoff­nungs­froh fra­gen, pas­siert dann erst, wenn die Alter­na­ti­ve und ihr Umfeld sich 2019ff. auch noch eine authen­tisch sozi­al­ori­en­tier­te Aus­rich­tung ver­pas­sen würden?

Eine ver­ei­nig­te Lin­ke, die, wie eben ein Nils Heis­ter­ha­gen, von »natio­na­len Ver­tei­di­gungs­li­ni­en gegen den neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus« spricht und kom­mu­ni­ta­ris­ti­sche, also gemein­schafts­be­für­wor­ten­de Signa­le aus­sen­det, wäre für die­se Wäh­ler­kli­en­tel, spe­zi­ell im »Labor Ost­deutsch­land« (Albrecht von Lucke), eine Alter­na­ti­ve; eine urban-kos­mo­po­li­ti­sche Open-Bor­der-Lin­ke, wie sie heu­te zu Heis­ter­ha­gens Leid hege­mo­ni­al ist, kann es hingegen nicht sein – sie ist in jeder Hin­sicht infan­til, mit einem hys­te­ri­schen »Ohne-Gren­zis­mus« (Régis Debray) an der Spitze.

In Frank­reich, der poli­ti­schen Ver­suchs­an­stalt West­eu­ro­pas, ist man einen his­to­ri­schen Ent­wick­lungs­schritt vor­aus und hat die­se neu­ar­ti­gen Kin­der­krank­hei­ten des Links­ra­di­ka­lis­mus über­wun­den oder zumin­dest ein­ge­hegt. Jean-Luc Mélen­chon, expli­zi­tes Vor­bild der AufstehenGruppe um Wagen­knecht und Ste­ge­mann und Kopf der links­po­pu­la­ren Bewe­gung »Unbeug­sa­mes Frank­reich«, hat die Wand­lung vom No-Bor­der-Fetisch zu einer mit­hin »rech­ten« Migra­ti­ons­po­li­tik bereits annon­ciert: Im Sep­tem­ber 2018 wei­ger­te er sich mit ande­ren Spit­zen­po­li­ti­kern sei­ner For­ma­ti­on, einen Appell für die offen­si­ve »See­not­ret­tung« von Migran­ten im Mit­tel­meer zu unterzeichnen.

Mélen­chon argu­men­tier­te, er sei schlicht nicht für die Frei­zü­gig­keit aller Men­schen, man müs­se viel­mehr die Flucht­ur­sa­chen bekämp­fen, damit die Men­schen zuhau­se, in ihrer Hei­mat, blei­ben könn­ten. Mélen­chon hät­te die­se popu­lis­ti­sche, kor­rek­te Fest­stel­lung auch aus­führ­li­cher mit den For­schungs­er­geb­nis­sen des Oxfor­der Pro­fes­sors für Poli­ti­sche Theo­rie David Mil­ler begrün­den können.

Mil­ler ver­sucht, die Lin­ke vom uni­ver­sa­lis­ti­schen Kos­mo­po­li­tis­mus der offe­nen Gren­zen zu lösen; nur drei Pro­zent der Men­schen welt­weit sei­en schließ­lich Migran­ten. In sei­nem Plä­doy­er für eine Neu­aus­rich­tung lin­ker Theo­rie zur Migra­ti­ons­fra­ge ver­knüpft Mil­ler ver­schie­de­ne Ansät­ze und erin­nert dabei immer wie­der an die Ana­ly­sen Rolf Peter Sie­fer­les, dar­ge­legt etwa in Das Migra­ti­ons­pro­blem (hier bestellen).

Mil­ler for­dert das Recht eines jeden Lan­des auf Abwei­sung und Aus­wei­sung Frem­der, wo es dem Staat (und eben nicht mora­lisch argu­men­tie­ren­den Drit­ten) not­wen­dig erscheint, und zugleich ver­langt er als Sozi­al­de­mo­krat Chan­cen­gleich­heit für jene Zuwan­de­rer, die dau­er­haft im Land ver­blei­ben dürfen.

Damit wäre Klar­heit im Zei­chen eines wir­kungs­vol­len Rea­lis­mus her­ge­stellt. Rea­lis­tisch und ohne jeden erho­be­nen Zei­ge­fin­ger erweist sich Mil­ler auch in bezug auf die Fremd­heits­er­fah­run­gen durch die auto­chtho­ne, auf­neh­men­de Gesell­schaft: Schließ­lich ver­trau­en Men­schen eher jenen, die sie ken­nen, als jenen, die sie als »anders« wahr­neh­men: Mil­ler nennt dies die »lands­män­ni­sche Parteilichkeit«.

Die­ses gegen­sei­ti­ge Ver­trau­en sei unab­ding­bar für den Zusam­men­halt einer Gesell­schaft wie für die Legi­ti­mi­tät eines jeden Staa­tes, zumal eines Wohl­fahrt­staa­tes (Wagen­knecht pos­tu­liert es ganz ähn­lich in Reich­tum ohne Gier); denn Soli­da­ri­tät kann nur dort wirk­mäch­tig sein, wo Iden­ti­tät geteilt, wo emo­tio­na­le Ver­bun­den­heit her­ge­stellt wird.

Mil­ler for­mu­liert dar­auf auf­bau­end die The­se, wonach die Bür­ger eines Staa­tes dort am ehes­ten bereit sei­en, sozia­le Gerech­tig­keit anzu­stre­ben, wo »die natio­na­le Iden­ti­tät am stärks­ten aus­ge­prägt ist«. Auch des­halb for­dert Mil­ler für jede Nati­on ein »Recht auf Gebiets­ho­heit«, das »Recht auf die Kon­trol­le und den Gebrauch der Res­sour­cen« sowie das »Recht auf Kon­trol­le der Waren- und Personenbewegungen«.

Die­se drei Rech­te des Staa­tes sind unab­ding­bar, und doch wer­den sie links der Kluft nicht ansatzweise affir­miert, eben­so­we­nig wie Mil­lers Hin­weis dar­auf, daß die Men­schen je ein Anrecht dar­auf besä­ßen, »zu ent­schei­den, inwie­weit sie ihr natio­na­les kul­tu­rel­les Erbe schüt­zen und kul­tu­rel­le Viel­falt inner­halb ihrer Gren­zen zulas­sen wollen«.

Eine ähn­li­che Stoß­rich­tung hat die Kri­tik der Migra­ti­on des lin­ken Wie­ner Ver­le­gers Han­nes Hof­bau­er. Er stellt in sei­ner Stu­die zuvor­derst fest, daß die Norm der Seß­haf­te sei, nicht der Migrant. Die Ver­klä­rung der Migra­ti­on als Ide­al sei schlech­ter­dings »pure Ideo­lo­gie der glo­ba­lis­tisch-libe­ra­len Moder­ne«, die zu allem Übel mit den bekann­ten Fol­gen einer Dere­gu­lie­rung des Arbeits­mark­tes einhergehe.

Der Migra­ti­ons­druck aus mate­ri­el­len Grün­den wer­de vom Kapi­tal geschürt, sozia­le und regio­na­le Dif­fe­ren­zen wür­den aus­ge­nutzt, um Wan­de­rungs­be­we­gun­gen zu for­cie­ren und Migran­ten als mobi­les Kapi­tal zu verschieben.

Hof­bau­er ver­knüpft die natio­na­le Fra­ge der Migra­ti­on unmit­tel­bar mit sozia­len Fra­gen: Wie der neu­rech­te Borr­mann und der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Heis­ter­ha­gen nimmt er wahr, daß die ton­an­ge­ben­de Lin­ke das »Kampf­ge­biet« wech­sel­te: Nicht mehr Ver­tei­lungs­fra­gen ste­hen seit­dem im Zen­trum der Agi­ta­ti­on, son­dern das Enga­ge­ment für sexu­el­le und kul­tu­rel­le Iden­ti­tä­ten (man muß hier frei­lich den »Kampf gegen Rechts« ergän­zen). Die herr­schen­de Klas­se kön­ne damit her­vor­ra­gend leben; die Mul­ti­kul­ti-Lin­ke leis­te (unge­wollt) »den men­schen­recht­lich argu­men­tier­ten Flan­ken­schutz für glo­ba­le Ausbeutungsstrukturen«.

Der Migrant erscheint in die­sem Spiel der Markt­kräf­te und der dem inter­na­tio­na­len Kapi­tal folg­sa­men west­eu­ro­päi­schen Staa­ten eben­so als Opfer der Pro­fit­wirt­schaft wie der Ein­hei­mi­sche, der mit dem Migran­ten fort­an min­des­tens um Wohn­raum und Anstel­lungs­ver­hält­nis­se zu kon­kur­rie­ren hat. Gewin­ner sind im glo­ba­len kapi­ta­lis­ti­schen Wett­be­werb natur­ge­mäß ande­re Struk­tu­ren und Inter­es­sens­grup­pen, ins­be­son­de­re die gro­ßen Konzerne.

Es sind dies einer­seits Stand­punk­te, die Alain de Benoist und ande­re Den­ker der Neu­en Rech­ten bereits vor eini­gen Jah­ren ein­nah­men und ande­rer­seits sind es Auf­fas­sun­gen, die in dem in mul­ti­kul­tu­rel­len Fra­gen dog­ma­tisch fest­ge­leg­ten lin­ken Milieu der Bun­des­re­pu­blik nicht hege­mo­ni­al wer­den kön­nen – zum Nach­teil der rea­lis­ti­schen, stra­te­gisch den­ken­den Lin­ken, die mal sub­ku­tan, mal offen­siv von geis­ti­ger Selbst­er­dros­se­lung bedroht ist, aber zum Vor­teil der poli­ti­schen Rech­ten und ihrer Wahl­par­tei AfD.

Deutsch­land ver­fügt damit über eine im euro­päi­schen Feld ein­ma­lig pri­mi­ti­ve Lin­ke, in wel­cher sich der »men­schen­recht­li­che Uni­ver­sa­lis­mus« (Hans-Jür­gen Urban) sta­bil erweist und hyper­mo­ra­lisch zemen­tiert zu sein scheint. Ein­zel­nen Ver­su­chen des Auf­ste­hens wider die­sen Bal­last gelingt es nicht, die »links-kom­mu­ni­ta­ris­ti­sche Reprä­sen­ta­ti­ons­lü­cke« (Andre­as Nöl­ke) zu schlie­ßen; die Reso­nanz­räu­me blei­ben einst­wei­len auf Peri­odi­ka und Blogs beschränkt.

Ins­be­son­de­re bei jün­ge­ren Lin­ken stößt man hin­ge­gen – im bes­ten Fal­le – auf tau­be Ohren oder zieht sich – im nahe­lie­gen­den Fal­le – den Zorn anti­fa­schis­ti­scher Dok­tri­nä­re zu. Enga­gier­ten, »kom­mu­ni­ta­ris­ti­schen« – d.h. hier: gemein­schafts­be­für­wor­ten­den – Intel­lek­tu­el­len wie Heis­ter­ha­gen und Kon­sor­ten fehlt bei­spiels­hal­ber jed­we­de jun­ge akti­vis­ti­sche Basis; lin­ken, »kos­mo­po­li­ti­schen« Akti­vis­ten fehlt der­weil jed­we­de intel­lek­tu­el­le Sub­stanz, sprich: ein polit­theo­re­ti­scher »Über­bau« jen­seits links­li­be­ra­ler Wohl­fühl­flos­keln und post­mo­der­ner Ich-Politik.

Eine tie­fe Kluft trennt bei­de Haupt­la­ger der lin­ken Par­al­lel­welt, und eine inte­grie­ren­de Dyna­mik oder auch Per­son ist zum jet­zi­gen Zeit­punkt auf­grund der Unver­söhn­lich­keit der Anschau­un­gen nicht denk­bar. Die Rech­te soll­te einen sol­chen, in sei­ner Bedeu­tung nicht zu unter­schät­zen­den Start­vor­teil nut­zen und an einer wei­te­ren Ver­tie­fung migra­ti­ons- und sozi­al­po­li­ti­scher Kon­zep­te arbeiten.

Die Lin­ke wird unter­des­sen an der aus­sichts­lo­sen Über­brü­ckung ihrer sub­stan­ti­el­len Kluft irrepa­ra­blen Scha­den neh­men. Es ist vor­stell­bar, daß jene, die heu­te ver­su­chen, Rea­lis­mus und Gemein­schafts­den­ken aufs neue in die Lin­ke ein­zu­brin­gen, aus die­sem hybri­den Kon­strukt ver­sto­ßen werden.

Bei anti­fa­schis­ti­schen Wan­na­be-Exe­ku­to­ren wetzt man in die­sem Sin­ne bereits die publi­zis­ti­schen Mes­ser: Der Grand­sei­gneur des Max-Planck-Insti­tuts für Gesell­schafts­for­schung, Wolf­gang Stre­eck, kri­ti­sier­te nicht nur die »ver­welt­bür­ger­lich­te Lin­ke«, son­dern äußer­te zuletzt bei einer »Auf­ste­hen«- Ver­an­stal­tung, eine Gesell­schaft ohne Gren­ze sei kei­ne Gesell­schaft und man kön­ne zudem eine Gren­ze nur öff­nen, wenn man sie habe.

Er wur­de dar­auf­hin von Her­mann L. Grem­li­za (kon­kret) spöt­tisch in die Nähe des aus­län­der­feind­li­chen Ter­ro­ris­mus gebracht: »Wenn ein Aus­län­der­heim nicht brennt, kann man’s nicht löschen.«

Wer sol­che Genos­sen hat, wird ange­sichts die­ser Ver­falls­form der gegen­wär­ti­gen Mehr­heits­lin­ken nicht mehr unbe­küm­mert und vor­wärts­drän­gend am Pro­jekt des Auf­ste­hens arbei­ten kön­nen. Die Mosa­ik-Rech­te ver­trü­ge indes die Stär­kung ihres sozia­len Flü­gels in Theo­rie und Pra­xis. Ob Mil­ler, Hof­bau­er oder auch Heis­ter­ha­gen – sie fän­den dort ohne­hin erkennt­nis­fro­he­re Leser und hoff­nungs­fro­he Strukturen.


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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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