Volk – ein deutscher Begriff

von Dr. Dr. Thor von Waldstein
PDF der Druckfassung aus Sezession 88/ Februar 2019

Nach den bereits im Mit­tel­al­ter erho­be­nen Ansprü­chen des Vol­kes auf Mün­dig­keit dau­ert es bis zur Mit­te des 18. Jahr­hun­derts, bis sich in Deutsch­land aus der blei­er­nen Zeit nach dem Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg langsam das her­an­zu­bil­den beginnt, was spä­ter als Natio­nal­be­wußt­sein bezeich­net wer­den wird.

Noch 1768 hat­te Les­sing sei­nen Lands­leu­ten, mit einem Sei­ten­blick auf die vor­re­vo­lu­tio­nä­ren Ent­wick­lun­gen in Frank­reich, ins Stamm­buch geschrie­ben: »Wir Deut­sche sind noch kei­ne Nati­on«. Gleich­wohl begann sich der Begriff des Vol­kes all­mäh­lich zu politisieren.

Zu einem Äqui­va­lent des­sen, was man in Frank­reich als nati­on und in Groß­bri­tan­ni­en als nati­on ver­stand, wur­de Volk in Deutsch­land zuerst im Lau­fe des 19. Jahr­hun­derts, aber gegen Ende des 18. Jahr­hun­derts ent­wi­ckel­te sich »Volk« zu einem aktio­nis­ti­schen Zukunfts­be­griff, mit dem die Deut­schen vor allem zwei­er­lei verbanden:

  • das über den eige­nen Tel­ler­rand der Fami­lie, Sip­pe und Region
    hin­aus­wei­sen­de Bewußt­sein, das gemein­sa­me Schick­sal eines Vol­kes zu teilen,
  • und den aus die­sem Bewußt­sein sich her­an­bil­den­den Wil­len, über sich selbst zu bestimmen.

Fried­rich Schil­ler beschwor die Deut­schen, sich im Wege einer Natio­nal­erzie­hung als Kul­tur­na­ti­on her­an­zu­bil­den und einen gemein­schaft­li­chen Geist zu begrün­den. Schon 1782 defi­nier­te er das, was er spä­ter in sei­nen Dra­men so wirk­mäch­tig in Sze­ne zu set­zen wußte:

Natio­nal­geist eines Vol­kes nen­ne ich die Ähn­lich­keit und Über­ein­stim­mung sei­ner Mei­nun­gen und Nei­gun­gen bei Gegen­stän­den, wor­über eine ande­re Nati­on anders meint und emp­fin­det. […] wenn wir es erleb­ten, eine Natio­nal­büh­ne zu haben, so wür­den wir auch eine Nation.

Und an die­ser Nati­on­wer­dung hat­te Schil­ler kei­ne Zweifel:

Jedes Volk hat sei­nen Tag in der Geschich­te, doch der Tag der Deut­schen ist die Ern­te der gan­zen Zeit.

Die koper­ni­ka­ni­sche Wen­de bei der Ent­wick­lung des Volks­be­grif­fes voll­zieht schließ­lich Johann Gott­fried Her­der. Er lös­te den Begriff aus sei­ner frü­he­ren Bedeu­tung, bei der man das Volk vor allem mit Unter­schicht, wil­len­lo­ser Gefolg­schaft oder nicht selbst­be­stim­men­der Bevöl­ke­rung in Ver­bin­dung gebracht hatte.

Her­der ist der eigent­li­che welt­an­schau­li­che Ent­de­cker der sozio­lo­gi­schen Grö­ße Volk, die er zu einer gemein­schaft­li­chen, mit Spra­che, See­le und Cha­rak­ter begab­ten Indi­vi­dua­li­tät auf­wer­tet. Sein Lebens­werk wid­me­te er der Tita­nen­auf­ga­be, die Deut­schen von ihrer chro­ni­schen geis­ti­gen Zer­ris­sen­heit und poli­ti­schen Zwie­tracht zu befreien.

Aus der Selbst­be­sin­nung auf den eige­nen Wert, auf das rei­che geschicht­li­che und geis­ti­ge Erbe der Deut­schen, soll­te die poli­ti­sche Kraft her­an­wach­sen, mit der das deut­sche Volk die Stür­me der kom­men­den Zeit bestehen wür­de. Geprägt von der Mon­tes­quieu­schen Phi­lo­so­phie beschwört Her­der die Not­wen­dig­keit eines esprit géné­ral, eines gemein­schaft­li­chen Geis­tes, durch den das Volk und sein Cha­rak­ter geprägt werde.

Her­ders Volks­be­griff ist also nicht zuletzt spi­ri­tu­ell begrün­det, wes­we­gen es nicht ver­wun­dern kann, daß er der Spra­che eines Vol­kes beson­de­re Bedeu­tung bei­mißt. Die Spra­che ver­kör­pe­re den Cha­rak­ter einer Nati­on, sie sei das Orga­non sei­ner See­len­kräf­te und das wesent­li­che Mit­tel sei­ner Bildung:

Wer in der­sel­ben Spra­che erzo­gen ward, wer sein Herz in sie schüt­ten, sei­ne See­le in ihr aus­drü­cken lernt, der gehört zum Volk die­ser Spra­che […] Mit­telst der Spra­che wird eine Nati­on erzo­gen und gebil­det; mit­telst der Spra­che wird sie ord­nungs- und ehr­lie­bend, folg­sam, gesit­tet, umgäng­lich, berühmt, flei­ßig und mäch­tig. Wer die Spra­che sei­ner Nati­on ver­ach­tet […] wird ihres Geis­tes […] gefähr­lichs­ter Mörder.

Der trau­ri­gen Ein­zel­mensch­phi­lo­so­phie eines Jere­my Bent­ham, wonach das obers­te Staats­ziel in der Schaf­fung einer »grea­test hap­pi­ness of the grea­test num­ber« bestehe, wirft Her­der den groß­ar­ti­gen Satz entgegen:

Jede Nati­on hat ihren Mit­tel­punkt der Glück­se­lig­keit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt.

Für Her­der sind alle Natio­nen nur Zwei­ge am Stamm der Mensch­heit, jede Nati­on ver­kör­pe­re nur eine »Facet­te in einer numi­no­sen, geord­ne­ten Man­nig­fal­tig­keit«. Euro­pa sei ein »gro­ße® Gar­ten, in dem Völ­ker, wie Gewäch­se erwuchsen«:

Die Natur hat Völ­ker durch Spra­che, Sit­ten, Gebräu­che, oft durch Ber­ge, Mee­re, Strö­me und Wüs­ten getrennt […] Die Ver­schie­den­heit […] soll­te ein Rie­gel gegen die anma­ßen­de Ver­ket­tung der Völ­ker, ein Damm gegen frem­de Über­schwem­mun­gen wer­den: denn dem Haus­hal­ter der Welt war dar­an gele­gen, daß […] jedes Volk und Geschlecht sein Geprä­ge, sei­nen Cha­rak­ter erhielt. Völ­ker sol­len neben­ein­an­der, nicht durch- und über­ein­an­der­drü­ckend wohnen.

Her­der ist daher nicht nur eine Schlüs­sel­fi­gur der deut­schen Geis­tes­ge­schich­te, er ist dar­über­hin­aus der Vater des Eth­no­plu­ra­lis­mus, der phi­lo­so­phi­sche Schöp­fer der »Welt der tau­send Völ­ker« als dia­me­tra­ler Gegen­be­griff zur one world:

Unmög­lich kann der Mensch als wie Mee­res­schleim mit allem zusam­men­flie­ßen, unmög­lich alles im glei­chen Gra­de lie­ben. – Er scha­det damit dem Guten so sehr als dem Bösen und ver­liert zuletzt ganz sein Urteil und sei­nen Standpunkt.

Inson­der­heit die ost­eu­ro­päi­schen Völ­ker, bei deren Nati­on­wer­dung die Spra­che eine beson­de­re Rol­le spiel­te, ver­dan­ken Johann Gott­fried Her­der viel, nicht zuletzt das ein­drucks­vol­le Renou­veau der Idee der Nati­on nach der his­to­ri­schen Wen­de 1989/91. Die stets fri­schen Blu­men an sei­nem Denk­mal in Riga sym­bo­li­sie­ren, daß sein geis­ti­ges Erbe in Ost­eu­ro­pa nicht ver­ges­sen ist.

Waren auf die­se Wei­se die phi­lo­so­phi­schen Grund­la­gen der Volk- und Nati­on­wer­dung geschaf­fen, soll­ten im Fol­gen­den die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on 1789 und die his­to­ri­schen Abläu­fe in Euro­pa bis zum Wie­ner Kon­greß 1815 ent­schei­dend für die wei­te­re Ent­wick­lung des­sen wer­den, was wir nach die­ser geschicht­li­chen Epo­che unter einem Volk zu ver­ste­hen haben.

In Deutsch­land lös­te die Zäsur von 1806, die Nie­der­la­ge Preu­ßens gegen Napo­le­on in Jena, und der Unter­gang des Alten Rei­ches, eine Ideen­be­schleu­ni­gung der beson­de­ren Art aus: Der Name, der zur Kenn­zeich­nung die­ses Phä­no­mens an ers­ter Stel­le genannt wer­den muß, lau­tet Johann Gott­lieb Fichte.

Ganz von der Geis­tes­welt des Gen­fer Phi­lo­so­phen Jean-Jac­ques Rous­se­au geprägt, lös­te sich Fich­te unter dem Ein­druck der napo­leo­ni­schen Krie­ge von sei­nem indi­vi­dua­lis­ti­schen, allein in den Anti­po­den Ich und Nicht-Ich gefan­ge­nen Tun­nel­blick eines wur­zel­lo­sen Weltbürgertums.

Auf­bau­end auf dem von Her­der ent­wi­ckel­ten Zusam­men­hang zwi­schen Nati­on und Spra­che hielt er im Win­ter 1807/08 in dem von den Fran­zo­sen besetz­ten Ber­lin sei­ne berühm­ten »Reden an die deut­sche Nati­on«. Dar­in ver­weist er dar­auf, daß jeder Mensch einem Vol­ke ent­stam­me, ihm ver­dan­ke der Ein­zel­ne die Ent­wick­lung »zu dem, was er jetzt ist«.

Der Natio­nal­cha­rak­ter eines Vol­kes, sein inne­res Leben, sein Geist und sei­ne Spra­che lie­ßen sich nicht allein ratio­na­lis­tisch erfas­sen, son­dern setz­ten einen ver­nunft­un­ab­hän­gi­gen Wesens­grund voraus.

Dabei ver­fällt Fich­te bis­wei­len wie­der sei­nem alten Rousseau’schen Denk­stil, wenn er jetzt – qua­si auf der phi­lo­so­phi­schen Über­hol­spur – Mensch­heit mit Deutsch­heit ver­wech­selt und sei­nem eige­nen Volk eine Über­le­gen­heit über ande­re Völ­ker zuspre­chen will, die auf der Grund­la­ge des Her­der­schen Eth­no­plu­ra­lis­mus für das Selbst­be­wußt­sein und die Selbst­be­haup­tung eines Vol­kes über­haupt nicht erfor­der­lich ist.

Denn das Selbst­wert­ge­fühl, die Selbst­ach­tung eines Vol­kes beruht auf der rück­halt­lo­sen Beja­hung des Eige­nen, die Kri­tik­fä­hig­keit gegen­über dem Weg der eige­nen Nati­on nicht aus­schließt. Und die­se Beja­hung des Eige­nen lei­tet ihre Kraft gera­de nicht aus einem res­sen­ti­ment­ge­la­de­nen Blick auf das Frem­de ab.

Die­se nicht zu über­se­hen­den Web­feh­ler im Den­ken Fich­tes führ­ten dazu, daß Hegel ihn spä­ter als phi­lo­so­phi­schen Jako­bi­ner bezeich­nen soll­te. Ber­nard Will­ms woll­te in sei­ner ful­mi­nan­ten Fich­te-Dis­ser­ta­ti­on gar eine »imma­nent ter­ro­ris­ti­sche Struk­tur des Fich­te­schen Den­kens« ent­deckt haben.

Die­se her­be Kri­tik ändert frei­lich nichts dar­an, daß die Reden an die deut­sche Nati­on zu einem Schlüs­sel­text der deut­schen Erhe­bung gegen Napo­le­on wur­den. Kur­ze Zeit spä­ter präg­te Nova­lis die For­mel von der »Nati­on als Makro­an­thro­pos und poten­zier­tes Indi­vi­du­um« und der staats­recht­li­che Kopf der deut­schen Roman­tik, Adam Mül­ler, defi­nier­te ein Volk als

die erha­be­ne Gemein­schaft einer lan­gen Rei­he von ver­gan­ge­nen, jetzt leben­den und noch kom­men­den Geschlech­tern, die alle in einem gro­ßen, inni­gen Ver­ban­de zu Leben und Tod zusam­men­hän­gen, von denen jedes ein­zel­ne, und in jedem ein­zel­nen Geschlech­te wie­der jedes ein­zel­ne Indi­vi­du­um, den gemein­sa­men Bund ver­bürgt und mit sei­ner gesam­ten Exis­tenz wie­der von ihm ver­bürgt wird; wel­che schö­ne und unsterb­li­che Gemein­schaft sich den Augen und Sin­nen dar­stellt in gemein­schaft­li­cher Spra­che, in gemein­schaft­li­chen Sit­ten und Geset­zen, in tau­send segens­rei­chen Instituten […]

Trotz der Restau­ra­ti­ons­zeit nach dem Wie­ner Kon­greß und den Karls­ba­der Zen­sur­be­schlüs­sen von 1819ff. sind die Geis­ter, die durch die Epo­che von 1789 bis 1815 geweckt wur­den, nicht mehr in die Fla­sche des anci­en régime zurückzubringen.

Das Volk, das sich zunächst nur als etwas Natür­li­ches, Gewach­se­nes emp­fun­den hat­te, mau­sert sich unter dem seit der Auf­klä­rung herr­schen­den Pri­mat des Wil­lens zu einer Nati­on als etwas bewußt Gebil­de­tes. Das Volk ist, die Nati­on wird.

Joseph Gör­res betont 1819 die Wich­tig­keit der Gene­ra­tio­nen­fol­ge in einem Volk, bei der es maß­geb­lich dar­auf ankom­me, »daß der Väter Geist noch ruhe auf den Enkeln, und nicht etwa ein neu­es Volk, Bas­tar­de der benach­bar­ten Völ­ker­schaf­ten, ein­ge­wan­dert und […] einen ande­ren Tem­pel aufgebaut«.

Und Wil­helm von Hum­boldt faßt 1827 den vol­un­t­a­ris­ti­schen Aspekt noch ein­mal wie folgt zusammen:

Eine Nati­on wird erst wahr­haft zu einer, wann der Gedan­ke es zu wol­len in ihr reift, das Gefühl sie beseelt, eine sol­che und sol­che zu sein.

Schon bei Hegel zer­flie­ßen die Begrif­fe Volk und Nati­on ins Unun­ter­scheid­ba­re. Hegel exe­ku­tiert die Roman­tik und deren pflan­zen­haf­te Ideen­welt, denkt die Tota­li­tät des Poli­ti­schen kon­se­quent zu Ende und ist des­we­gen der phi­lo­so­phi­sche Ahn­herr des­sen, was man seit­her als deut­schen Staat bezeichnet.

Bei ihm ist der Staat nicht nur Mit­tel und Geist des Vol­kes, son­dern der Staat figu­riert als die Wirk­lich­keit des Vol­kes selbst:

Das Volk, das den Staat ganz durch­drun­gen hat und ihn in die­sem Sin­ne ›beherrscht‹, wird zugleich vom Prin­zip der Staat­lich­keit durch­drun­gen und in die­sem Sin­ne abhän­gig vom Staat […] Wie ein neu­er Levia­than droht der Hegel­sche Staat die ursprüng­lich volk­haf­ten Kräf­te, aus denen er sich ent­fal­tet hat, zu über­de­cken und zu erdrücken.

(Ernst Rudolf Huber)

Die ver­mit­teln­den Gewal­ten in einem Volk, die Stän­de, Genos­sen­schaf­ten, Gemein­den, Fami­li­en, usw. wer­den mehr und mehr ent­mach­tet, um – ana­log dem fran­zö­si­schen Mus­ter mit dem Was­ser­kopf Paris – die Zen­tral­ge­walt eines Staa­tes zu begrün­den, der mehr und mehr zur Trieb­fe­der des sozia­len Appa­rats, zum ein­zi­gen und not­wen­di­gen Agens des öffent­li­chen Lebens wird.

Immer mehr Bür­ger gelan­gen zu der fata­len Ansicht, kei­ne eini­ger­ma­ßen wich­ti­ge Ange­le­gen­heit kön­ne zu einem guten Ende geführt wer­den, ohne daß sich der Staat in die­se Ange­le­gen­heit ein­mi­sche. Der heu­ti­ge omni­prä­sen­te Staat, der schon im Kreiß­saal Steu­er­num­mern an die Neu­ge­bo­re­nen ver­gibt, der die Bestat­tung der Ver­stor­be­nen bis ins Detail regelt und der zwi­schen die­sen bei­den Zeit­punk­ten kaum eine Lebens­si­tua­ti­on des Indi­vi­du­ums aus­läßt, ohne zuvor sei­ne Inter­ven­ti­ons- respek­ti­ve Umver­tei­lungs­wut aus­ge­tobt zu haben, ist also ein unmit­tel­ba­res Pro­dukt der Geis­tes­welt von Georg Wil­helm Fried­rich Hegel, dem Apos­tel der säku­la­ri­sier­ten Staatsvergottung.

Kon­se­quen­ter­wei­se lehnt Hegel daher auch den Gedan­ken der Volks­sou­ve­rä­ni­tät ab. In sei­nem rechts­phi­lo­so­phi­schen Gedan­ken­ge­bäu­de ist Sou­ve­rän nicht das Volk, son­dern der Staat als die angeb­li­che »Wirk­lich­keit der sitt­li­chen Idee.« Es ist das Ver­dienst von Leo­pold von Ran­ke, die­ser Hegel­schen Über­be­to­nung des Staa­tes, bei der alle inter­me­diä­ren Instan­zen – von dem ein­zel­nen bis zum Volk – ihrer ursprüng­li­chen Rech­te und Macht­fül­le beraubt wer­den, Wider­stand gebo­ten zu haben.

In sei­nen genia­len Jugend­schrif­ten aus den 1830er Jah­ren bün­delt Ran­ke die Ideen­welt der ver­gan­ge­nen vier Jahr­zehn­te und erin­nert – gegen Hegel – dar­an, daß die Völ­ker und Natio­nen vor dem Staat da waren und irgend­ei­nes eta­tis­ti­schen Begrün­dungs­nar­ra­tivs nicht bedürfen:

Die Natio­nen haben eine Ten­denz, Staat zu sein; doch wüß­te ich kei­ne ein­zi­ge, die es wirk­lich wäre. […] Der Staat ist sei­ner Natur nach bei wei­tem enger geschlos­sen als die Nati­on; er ist eine Modi­fi­ca­ti­on wie des mensch­li­chen so auch des natio­na­len Seins.

Und auch die Anma­ßun­gen eines hyper­tro­phen Huma­nis­mus, der die Rech­te des ein­zel­nen gegen die Rech­te der Nati­on in Stel­lung brin­gen will, wer­den durch Ran­ke in einem klas­si­schen Satz zurückgewiesen:

Die Idee der Mensch­heit, Gott gab ihr Aus­druck in den ver­schie­de­nen Völkern.

Bis­wei­len scheint es, als habe Ran­ke die ort­lo­se Gesin­nung des Indus­trie­noma­den des 21. Jahr­hun­derts vor­aus­ge­ahnt, bei der der schö­ne Satz »Ubi patria, ibi bene« – »Wo mein Vater­land ist, geht es mir gut« ein­fach in sein Gegen­teil ver­kehrt wur­de: »Ubi bene, ibi patria« – »Wo es mir gut geht, (da) ist mein Vaterland.«

1836 for­mu­liert Ranke:

Unser Vater­land ist mit uns, in uns. Deutsch­land lebt in uns, wir stel­len es dar, mögen wir wol­len oder nicht, in jedem Lan­de, dahin wir uns ver­fü­gen, unter jeder Zone. Wir beru­hen dar­auf von Anfang an und kön­nen uns nicht eman­ci­pi­ren. Die­ses gehei­me Etwas, das den Gerings­ten erfüllt, wie den Vor­nehms­ten, – die­se geis­ti­ge Luft, die wir aus- und ein­ath­men, – geht aller Ver­fas­sung vor­her, belebt und erfüllt alle ihre Formen.

Wie die Fol­ge­ent­wick­lung bis 1848/49 zei­gen soll­te, fehl­te es dem Volk zwar wei­ter an kon­kre­ter Sou­ve­rä­ni­tät zur Macht, als wer­den­de poli­ti­sche Grö­ße war es aber nicht mehr über­seh­bar. In der – spä­ter geschei­ter­ten – Frank­fur­ter Reichs­ver­fas­sung vom 28. März 1849 wur­den »Grund­rech­te des deut­schen Vol­kes« ver­brieft und selbst der Kai­ser soll­te bei sei­nem Eid auf die Ver­fas­sung schwö­ren, daß er die »Rech­te des deut­schen Vol­kes« schir­men werde.

»Volk« war also spä­tes­tens nach 1848 kei­ne Objekt­be­zeich­nung, son­dern ein akti­ver Kampf­be­griff, der mit der Anmel­dung von Macht­an­sprü­chen ver­bun­den war. Freu­dig rief Fer­di­nand von Frei­li­grath 1858 den Deut­schen zu:

Noch ges­tern, Brü­der, wart ihr nur ein Hau­fen; ein Volk, o Brü­der, seid ihr heut.

Es blieb Fer­di­nand Lass­alle, dem »poli­ti­schen Kopf der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie« (Her­mann Hel­ler), vor­be­hal­ten, die­ses geis­ti­ge Kli­ma zu nut­zen, um ein »Recht des Volks­geis­tes auf sei­ne eige­ne geschicht­li­che Ent­wick­lung und Selbst­ver­wirk­li­chung« zu for­dern. In bewuß­ter Abkehr von der mono­öko­no­mis­tisch-inter­na­tio­na­lis­ti­schen Geschichts­deu­tung von Marx und Engels ver­klam­mer­te er die Begrif­fe Nati­on und Demo­kra­tie und mach­te klar, daß die ange­streb­ten Rech­te der Arbei­ter nur in einem unab­hän­gi­gen Natio­nal­staat zu ver­wirk­li­chen seien.

»Der Begriff der Demo­kra­tie«, schrieb er 1859, bedeute

nichts ande­res […] als: Auto­no­mie, Selbst­ge­setz­ge­bung des Vol­kes nach innen. Woher aber soll­te die­ses Recht […] kom­men, wie soll­te es nur gedacht wer­den kön­nen, wenn ihm nicht zuvor das Recht auf Auto­no­mie nach außen, auf freie, vom Aus­land unab­hän­gi­ge Selbst­ge­stal­tung eines Volks­le­bens vor­aus­gin­ge! Das Prin­zip der frei­en unab­hän­gi­gen Natio­na­li­tä­ten ist also die Basis und Quel­le, die Mut­ter und Wur­zel des Begriffs der Demo­kra­tie überhaupt.

Das war dezi­diert gegen die Posi­ti­on des deut­schen Bür­ger­tums gemünzt, das im Vor­märz und auch noch nach 1848 ver­sucht hat­te, den Sta­tus als Nati­on für sich zu mono­po­li­sie­ren und die brei­ten Unter­schich­ten von der Teil­ha­be auszuschließen.

Die­se Posi­ti­on eines volks­ge­bun­de­nen Sozia­lis­mus im wei­te­ren aus­zu­bau­en und zu ver­tie­fen, blieb ihm indes ver­wehrt. Lass­alle, der Hegel der deut­schen Arbei­ter­be­we­gung, starb 1864 im Alter von nur 39 Jah­ren. Der heu­te ganz zu Unrecht weit­ge­hend ver­ges­se­ne Her­mann Hel­ler knüpf­te an die­se Lassalle’schen Posi­tio­nen an und streb­te danach, den Gegen­satz zwi­schen Sozia­lis­mus und Nati­on auf­zu­lö­sen, und die bür­ger­li­che Wei­ma­rer Gesell­schaft in eine »natio­na­le Volks­ge­mein­schaft« bzw. eine »natio­na­le sozia­lis­ti­sche Kul­tur­ge­mein­schaft« umzugestalten.

Vor­aus­set­zung jeder Staats­bil­dung sei »die Betä­ti­gung eines gemein­sa­men Wil­lens­ge­hal­tes, der fähig ist, die ewig ant­ago­nis­ti­sche gesell­schaft­li­che Viel­heit zur staat­li­chen Ein­heit zu inte­grie­ren.« Hel­ler erach­tet sozia­le Homo­ge­ni­tät zur Wah­rung der poli­ti­schen Ein­heit eines Vol­kes als unverzichtbar.

Die stärks­ten und dau­ernds­ten mensch­li­chen Ver­ge­mein­schaf­tun­gen beruh­ten nicht auf orga­ni­sa­to­ri­scher, zweck­be­wuß­ter Inter­es­sen­ver­bin­dung, son­dern hät­ten einen orga­ni­schen natur­haf­ten Kern. Die wich­tigs­ten natur­haf­ten Bin­dun­gen, wel­che die Men­schen ohne ihr Zutun zusam­men­füh­ren und von ande­ren abson­dern, sei­en »die Abstam­mung und die Landschaft.

Bei­de bil­den auch natür­li­che Grund­la­gen der Nati­on.« Ent­fal­le die­se Bin­dungs­kraft, die­ser Wil­le zur natio­na­len Ver­ge­mein­schaf­tung, kön­ne sich das Volk im Staat nicht mehr wie­der­erken­nen und sich mit des­sen Reprä­sen­tan­ten nicht mehr iden­ti­fi­zie­ren; dann wer­de die bis dahin par­lie­ren­de zur »dik­tie­ren­den Partei«:

In die­sem Augen­blick ist die Ein­heit gespal­ten, sind Bür­ger­krieg, Dik­ta­tur, Fremd­herr­schaft als Mög­lich­kei­ten gesetzt.

Jen­seits abwe­gi­ger »sen­ti­men­ta­ler Abs­trak­tio­nen« sieht Hel­ler den Hegel­schen Natio­nal­staat als wesent­li­che Vor­aus­set­zung für jeg­li­che Umset­zung sozia­lis­ti­scher Poli­tik­in­hal­te. Gelän­ge es nicht, die »libe­ra­le Staats­angst […], die noch so vie­len Sozia­lis­ten in den Kno­chen sitzt«, zu über­win­den, und die »ideo­lo­gi­sche Platt­form einer glei­chen und ein­heit­li­chen Men­schen­ge­sell­schaft« hin­ter sich zu las­sen, blei­be der Sozia­lis­mus in der Ideen­welt sei­nes Haupt­geg­ners, des Kapi­ta­lis­mus, befan­gen und berau­be sich schon von daher selbst jeg­li­cher poli­ti­scher Anzie­hungs­kraft auf die Arbeiterschaft.

Die­se für die Nati­on zu gewin­nen, sei das Alpha und Ome­ga einer erfolg­rei­chen lin­ken Politik:

Uns (deut­schen Sozia­lis­ten) ist die Nati­on kein Durch­gangs­punkt zu einem kul­tur­lo­sen Men­schen­brei, son­dern die schick­sals­ge­bun­de­ne Lebens­form, in der wir an den über­na­tio­na­len Zwe­cken der Mensch­heit allein mit­ar­bei­ten kön­nen und wollen.

Auch Hel­ler, dem »Vater der Poli­ti­schen Wis­sen­schaft in Deutsch­land« (Hans Momm­sen), blieb es ver­wehrt, sein geis­ti­ges Werk zu voll­enden. Als Jude und SPD-Mit­glied erlag er im Madri­der Exil im Novem­ber 1933 im Alter von nur 42 Jah­ren den Fol­gen eines Herz­lei­dens, das er sich als Front­sol­dat des Ers­ten Welt­krie­ges zuge­zo­gen hatte.

In Hel­lers Hei­mat urteil­ten die Gerich­te ab 1933 erst­mals unter der For­mel »Im Namen des deut­schen Vol­kes«. Im Kai­ser­reich und in Wei­mar waren die­se noch »Im Namen des Rei­ches« ergan­gen. Dane­ben gal­ten unter Hit­ler, obgleich durch eine Viel­zahl von Ver­ord­nun­gen und Geset­zen über­lappt und ent­kernt, kurio­ser­wei­se die Ver­fas­sung des ver­haß­ten Vor­gän­ger­staa­tes, die Wei­ma­rer Reichs­ver­fas­sung, und die danach ver­brief­ten Grund­rech­te des Vol­kes for­mell weiter.

Wie die nach­fol­gen­den Jah­re zei­gen soll­ten, wur­de der Volks­be­griff indes nach und nach ras­se­bio­lo­gisch aus­ge­höhlt, wobei die ver­meint­li­che Über­le­gen­heit der Ras­sen­theo­rie kenn­zeich­nen­der­wei­se gera­de in argu­men­ta­ti­ver Abgren­zung zu »roman­tisch« gepräg­ten Volks­vor­stel­lun­gen des 19. Jahr­hun­derts erwie­sen wer­den sollte.

Vor dem Hin­ter­grund der Pro­gram­ma­tik der NSDAP war die­ser Abschied vom eth­ni­schen Volks­be­griff nur konsequent:

Staats­bür­ger kann nur sein, wer Volks­ge­nos­se ist. Volks­ge­nos­se kann nur sein, wer deut­schen Blu­tes ist …

(Punkt 4)

Bür­ger jüdi­schen Glau­bens, die oft auf eine gene­ra­tio­nen­lan­ge Zuge­hö­rig­keit zum deut­schen Volk ver­wei­sen und an derer deut­schen Iden­ti­tät kei­ne ver­nünf­ti­gen Zwei­fel bestehen konn­ten, waren danach über Nacht aus dem deut­schen Volk ausgebürgert.

Das Reichs- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz von 1913, dem der eth­ni­sche Volks­be­griff zugrun­de lag, wur­de durch das Gesetz zur Ände­rung des Reichs- und Staats­an­ge­hö­rig­keits­ge­setz vom 15. Mai 1935 (RGBl 1935 I, S. 593) in Teil­be­rei­chen außer Kraft gesetzt und im übri­gen durch eine klas­si­sche Blan­kett­norm ersetzt, die der Will­kür Tür und Tor öffnete:

Über die Ver­lei­hung der deut­schen Staats­an­ge­hö­rig­keit ent­schei­den die Ein­bür­ge­rungs­be­hör­den nach pflich­ge­mä­ßen Ermes­sen. Ein Anspruch auf Ein­bür­ge­rung besteht nicht.

Die NS-Phra­seo­lo­gie bespiel­te zwar zwölf Jah­re lang unab­läs­sig die Kla­via­tur neu kre­ierter Volks­be­grif­fe, von »Ein Volk, ein Reich, ein Füh­rer« bis zu »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«, vom Volks­emp­fän­ger bis zum Volks­wa­gen, vom Völ­ki­schen Beob­ach­ter bis zur Volks­auf­klä­rung und vom Volks­ge­richts­hof bis zum Volkssturm.

Wenn es aber dar­auf ankam, etwa wenn man Beam­ter oder Sol­dat blei­ben oder wer­den woll­te, wenn man hei­ra­ten woll­te, wenn man eine Gast­stät­ten­kon­zes­si­on bean­trag­te, usw., dann muß­te der »Volks­ge­nos­se« zur rich­ti­gen Ras­se gehö­ren und konn­te sei­nen Iden­ti­täts­nach­weis als deut­scher Staats­bür­ger aus Wei­ma­rer Tagen gleich in der Tasche ste­cken lassen.

Der Volks­be­griff wur­de im Natio­nal­so­zia­lis­mus frei­lich nicht nur durch den Begriff der Ras­se, son­dern auch durch den Begriff der Mas­se unter­wan­dert. Adolf Hit­ler hat­te Gust­ave le Bons Psy­cho­lo­gie der Mas­sen sorg­fäl­tig stu­diert; sei­ne unge­heu­ren Erfol­ge als poli­ti­scher Red­ner vor und nach 1933 ver­lei­te­ten ihn zu der Annah­me, das Volk sei allein Knet­mas­se in den Hän­den sei­ner Führung.

Schwan­ke die­se Füh­rung oder tre­te sonst ein unvor­her­ge­se­he­ner Fall ein, ver­hal­te sich das Volk wie eine ver­rückt­ge­wor­de­ne Hüh­ner­schar. In einer Geheim­re­de vom 10. Novem­ber 1938 vor einem klei­nen Kreis von Par­tei­grö­ßen bezeich­ne­te Hit­ler die Deut­schen expli­zit als »Hüh­ner­volk« und mach­te mit die­sem zoo­lo­gi­schen Voka­bu­lar deut­lich, daß er das Volk nicht als akti­ven Trä­ger staat­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät, son­dern vor allem als sozi­al­psy­cho­lo­gisch-pas­si­ve Ver­schie­be­grö­ße betrachtete.

Im Lich­te die­ser dop­pel­ten Miß­ach­tung des Vol­kes durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus kann man es nur als tra­gisch bezeich­nen, daß die deut­sche Lin­ke nach 1945 nicht wil­lens und/oder fähig war, an die vor­zi­tier­te Lass­alle-Hel­ler­sche Sym­bio­se aus Sozia­lis­mus und Nati­on anzuknüpfen.

Sozia­lis­mus, hat­te Her­mann Hel­ler defi­niert, bedeu­te »nicht das Ende, son­dern die Voll­endung der natio­na­len Gemein­schaft«; aber über die­se für die Deut­schen so wich­ti­gen Gedan­ken­an­sät­ze schien die his­to­ri­sche Ent­wick­lung hinweggegangen.

Umsonst ermahn­te der SPD-Vor­sit­zen­de Kurt Schu­ma­cher sei­ne Genos­sen, die­se bei­den, seit Mit­te des 19. Jahr­hun­derts wirk­mäch­tigs­ten Poli­tik­fel­der – gera­de im Lich­te des desas­trö­sen Schei­terns der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gie – wie­der zusammenzudenken.

Sei­ne Par­tei woll­te aber auf Gedeih und Ver­derb an der Macht im fremd­be­stimm­ten West­deutsch­land teil­ha­ben und ergab sich daher nach Schu­ma­chers Tod im Jah­re 1952 mehr und mehr einem inter­na­tio­na­lis­ti­schen Sozia­lis­mus. Zu allem Über­fluß wur­de das SPD-Pro­gramm nach dem Godes­ber­ger Par­tei­tag von 1959 mit libe­ral­indi­vi­dua­lis­ti­schen, dezi­diert nati­on­feind­li­chen Ele­men­ten vermengt.

Wer sich die­se inhalt­li­chen Irr­we­ge ver­ge­gen­wär­tigt, ver­steht auch, woher die heu­ti­ge aus­ge­präg­te Feind­schaft der deut­schen Lin­ken zum eige­nen Volk stammt (vgl. dazu zuletzt den im Dezem­ber 2018 im Bun­des­tag durch die Frak­ti­on Die Lin­ke vor­ge­leg­ten Gesetz­ent­wurf, wonach sämt­li­che, allein den Deut­schen vor­be­hal­te­nen Grund­rech­te des Grund­ge­set­zes, u. a. Versammlungs‑, Ver­ei­ni­gungs- und Berufs­frei­heit sowie Recht auf Frei­zü­gig­keit [Artt. 8, 9, 12 und 11 GG], in »Grund­rech­te für alle« ein­pla­niert wer­den sollen).


Her­mann Hel­ler Sozia­lis­mus und Nati­on kön­nen Sie hier, bei Antai­os, erwerben.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)