Zweierlei Deutschland, zweierlei AfD?

PDF der Druckfassung aus Sezession 90/Juni 2019

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Ent­lang der alten Gren­ze zwi­schen BRD und DDR bricht ein neu­er poli­ti­scher Kon­flikt auf, des­sen Fol­gen noch nicht abseh­bar sind. Thors­ten Hinz beschreibt den Anlauf in einem – kaum beach­te­ten und doch rich­tungs­wei­sen­den – The­sen­bei­trag als ein suk­zes­si­ves Ver­lo­ren­ge­hen des »Ursprungs­ver­trau­ens, das die Ost­deut­schen in die Kom­pe­tenz des Wes­tens besa­ßen«, mit den aus­lö­sen­den Weg­mar­ken Finanz- und Eurokrise.

Mitt­ler­wei­le habe die Zuwan­de­rungs­kri­se von 2015 ff. den Ver­trau­ens­ver­lust wei­ter for­ciert; ein »deutsch-deut­scher Kon­flikt« ent­zün­de sich an der Fra­ge, »ob man sei­ne Hei­mat dau­er­haft mit einer nicht beherrsch­ba­ren Anzahl von Ein­wan­de­rern aus dem afri­ka­ni­schen und ara­bi­schen Raum tei­len und die Risi­ken und Neben­wir­kun­gen auf sich neh­men will«.

Man kann mit Hinz strei­ten, ob hier ein apo­dik­tisch-dicho­to­mi­sches Ost-West-Gleich­nis ange­mes­sen ist, denn schließ­lich gibt es auch im Wes­ten ein »Osten« und im Osten ein »Wes­ten«; Ins­ge­samt aber ist Hinz’ men­ta­li­täts­po­li­ti­sche Ana­ly­se zutref­fend, wonach sich im Wes­ten über Jahr­zehn­te Denk­wei­sen und Kräf­te­ver­hält­nis­se aus­for­men konn­ten, die einen ergeb­nis­of­fe­nen Umgang mit Migra­ti­on (ja, nein, wel­che?) kaum mehr mög­lich erschei­nen lassen.

Im Osten der Repu­blik – wie auch in den Visegrád-Staa­ten – ist das noch anders, und hier wird die Wei­ge­rung deut­lich, die Fol­gen einer genu­in west­li­chen Ein­wan­de­rungs­po­li­tik mit­zu­tra­gen. Ost­deutsch­land, deu­tet Hinz pro­vo­ka­tiv wie fol­ge­rich­tig an, wer­de einst die Fra­ge beant­wor­ten müs­sen, ob es wei­ter an die deut­sche Ein­heit glau­be (und damit eben­so von »Tri­ba­li­sie­rung« und »Bar­ba­ri­sie­rung« betrof­fen wer­de wie die alte BRD als Teil des kip­pen­den West­eu­ro­pas) oder ob es eine »euro­päi­sche Ost­ver­schie­bung« stüt­ze, als Teil einer vom Osten aus­ge­hen­den »kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on«, die in der fer­nen Zukunft dann rück­bli­ckend als eine »Not­brem­sung« zu bewer­ten wäre.

Eine ost­deut­sche Sezes­si­on à la Thors­ten Hinz – soweit sind wir noch nicht. Allein in Baden-Würt­tem­berg und Bay­ern gibt es (ein Ergeb­nis von rund zwölf Pro­zent ange­nom­men) etwa zwei Mil­lio­nen AfD-Wäh­ler, und dies ent­spricht fast der Zahl aller alter­na­ti­ver Wäh­ler in den »neu­en Bun­des­län­dern« ohne Ost-Ber­lin (rund 20 Pro­zent angenommen).

Gleich­wohl den­ken Ost und West auch »rechts« oft anein­an­der vor­bei. Im Osten ver­gißt der ein oder ande­re Patri­ot, daß gewis­se Per­sön­lich­kei­ten, die in einem mit­tel­deut­schen Frei­staat reüs­sie­ren, im bür­ger­lich-zag­haf­ten Wes­ten kaum als alter­na­ti­ve Gali­ons­fi­gu­ren ver­mit­tel­bar sind. Im Wes­ten (und das ist über­ge­ord­net betrach­tet ver­hee­ren­der) ver­ges­sen rele­van­te AfD-Akteu­re, daß sich die Par­tei seit Bernd Luckes Abgang struk­tu­rell wie welt­an­schau­lich ver­än­dert hat und über eine neue Wäh­ler­schaft verfügt.

Erschloß man bis cir­ca 2015 die quan­ti­ta­tiv limi­tier­te Kli­en­tel einer natio­nal-neo­li­be­ra­len Pro­fes­so­ren­par­tei (für den Bun­des­tag zu wenig, für den Sta­tus einer Split­ter­par­tei zu viel), voll­zog sich 2016 und 2017 ein Wan­del: Zur Bun­des­tags­wahl punk­te­te man über­durch­schnitt­lich bei »Arbei­tern« und »Erwerbs­lo­sen« (je 21 Pro­zent), unter­durch­schnitt­lich, ein­stel­lig, bei hoch­qua­li­fi­zier­ten Akademikern.

Ver­schie­de­ne Insti­tu­te unter­schied­li­cher poli­ti­scher Nei­gung ana­ly­sier­ten über­ein­stim­mend, daß Hand­wer­ker, Fach­ar­bei­ter und Klein­un­ter­neh­mer bun­des­weit das Wahl­ge­rüst der AfD stell­ten, kurz: der »klei­ne Mann«. »Die AfD ist« damit »bezo­gen auf Ein­kom­men, Bil­dungs­stand und Alter eine Par­tei der ›Mit­te‹«, so der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Sebas­ti­an Fried­rich, einer der weni­gen geg­ne­ri­schen Beob­ach­ter mit Sachverstand.

Wenn Fried­rich recht hat, muß man sich als Sym­pa­thi­sant fra­gen, wie­so die AfD kei­ne Poli­tik­an­ge­bo­te für die Mit­te for­mu­liert und wes­halb die neo­li­be­ra­le Pro­gram­ma­tik aus der Lucke-Zeit bis heu­te unan­ge­tas­tet bleibt. Liest man Ver­laut­ba­run­gen west­deut­scher Poli­ti­ker der AfD zu aktu­el­len Pro­blem­fel­dern der Sozi­al- und Miet­po­li­tik, fühlt man sich an eine in Wort­wahl und Aus­drucks­wei­se zuge­spitzt auf­tre­ten­de FDP erinnert.

Der Jar­gon der Ver­ach­tung sei­tens libe­ra­ler West-AfD­ler wie Bea­trix von Storch zulas­ten der Pre­kä­ren (Zeit- und Leih­ar­bei­ter, befris­tet Ange­stell­te, Selb­stän­di­ge usw.), die – wohl­ge­merkt: auch im Wes­ten – das alter­na­ti­ve Wahl­re­ser­voir abbil­den, stößt ins­be­son­de­re im Osten auf Unverständnis.

Es ist eine fal­sche, rohe Bür­ger­lich­keit, die in Gestalt eines säku­la­ri­sier­ten Vul­gär­cal­vi­nis­mus daher­kommt: Pre­ka­ri­tät erscheint hier aus­nahms­los als das Pro­dukt indi­vi­du­el­len Ver­sa­gens, sozio­öko­no­mi­sche Ein­ord­nun­gen fin­den nicht statt.

Eine Par­tei für den »klei­nen Mann« könn­te das anders hand­ha­ben, wenn sie sich an Grün­der­vä­tern der »sozi­al­ge­steu­er­ten Markt­wirt­schaft« wie Alfred Mül­ler-Arm­ack, Wal­ter Eucken oder an preu­ßi­schen Kon­ser­va­ti­ven wie Gus­tav Schmol­ler ori­en­tie­ren wür­de (ganz zu schwei­gen von sozi­al­po­li­tisch ver­sier­ten Den­kern inner­halb der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on), die noch wuß­ten, daß das not­wen­di­ge Pri­mat der Poli­tik vor der Wirt­schaft jede markt­li­be­ra­le Flau­se samt Fokus­sie­rung auf eine ein­zi­ge Klas­se aus­schließt und immer das gemein­sa­me Inter­es­se aller Staats­an­ge­hö­ri­gen im Vor­der­grund ste­hen muß.

West­deut­sche AfD-Wirt­schafts­po­li­ti­ker ent­spre­chen damit eher der angel­säch­si­schen Markt­ideo­lo­gie als der »klas­sisch deut­schen« natio­na­len Wirt­schafts­kul­tur, was erklä­ren mag, wie­so Prot­ago­nis­ten des neo­li­be­ra­len Flü­gels der West-AfD die Markt­ra­di­ka­len F. A. von Hay­ek oder Mil­ton Fried­man als Inspi­ra­to­ren nennen.

Die Lebens­rea­li­tät samt sozi­al­po­li­ti­schem Bewußt­seins­grad der west­lich domi­nier­ten AfD-Funk­tio­närs­rie­ge ent­spricht sel­ten der Lebens­rea­li­tät der (mög­li­chen) Wäh­ler­schaft in Ost wie West. Das­sel­be Miß­ver­ständ­nis stieß vor fast 20 Jah­ren die Frei­heit­li­che Par­tei Öster­reichs vom Sockel.

Die FPÖ ver­lor die lohn­ab­hän­gig beschäf­tig­te Mehr­zahl (ins­be­son­de­re Arbei­ter und Ange­stell­te), »als sie unter Bei­fall ihrer mit­tel­stän­di­schen Kli­en­tel zur Durch­füh­rung eines wirt­schafts­li­be­ra­len Pro­gramms ansetz­te«, wie Mar­tin Hoschütz­ky in Heft 3 der Sezes­si­on (hier lesen) resümierte.

Denn was für die obe­re Mit­tel­schicht (eine pro­zen­tu­al im Ver­gleich zu den Arbei­tern und Ange­stell­ten in Öster­reich und Deutsch­land nach­ran­gi­ge Zahl) »den ersehn­ten Zuge­winn an Frei­heit bedeu­te­te, nah­men gro­ße Tei­le der Arbei­ter­schaft als Beschnei­dung ihres Anteils am Wohl­stand wahr«.

Doch da die natio­na­le Fra­ge zu schwach erschien, um die Wider­sprü­che in der FPÖ-Wäh­ler­schaft zu ver­de­cken, »zer­brach die Par­tei an der Fra­ge, wel­che Rol­le der Staat bei der Gestal­tung der wirt­schaft­li­chen und sozia­len Ver­hält­nis­se spie­len soll«.

Es ist nicht der Ort, um aus­führ­lich dar­zu­le­gen, daß die Frei­heit­li­chen 2019 den­sel­ben Feh­ler sehen­den Auges wie­der bege­hen. Unver­zicht­bar ist die­se aus­tria­ki­sche Far­ce jedoch als schla­gen­de Mah­nung für die­je­ni­gen in Deutsch­land, denen es an einer wirk­li­chen Alter­na­ti­ve gele­gen ist.

Die­ser darf es nicht um Kli­en­tel­po­li­tik für die Hap­py Few jet­zi­ger Wirt­schafts­ver­hält­nis­se gehen, in denen nicht Arbeit und Leis­tung gro­ßen Wert schaf­fen, son­dern der Wert sich selbst ver­wer­tet. Kaum jemand, der sub­stan­ti­el­le Ände­run­gen für Deutsch­land erhofft, benö­tigt für die­se Pro­ble­ma­tik eine um Islam­kri­tik erwei­ter­te FDP.

Laten­tes bis offe­nes Miß­trau­en gegen­über dem Sozi­al­staat an sich – nicht: gegen­über sei­ner jet­zi­gen defi­zi­tä­ren Form – wird bei­gemengt und stößt auf eine fest umris­se­ne, dafür auf­ge­schlos­se­ne Kli­en­tel, weil fal­sche Kanä­le und über eine Mil­li­on Allo­chtho­ne aus dem sozi­al­staat­li­chen Sockel bedient wer­den und die aus­ufern­de Büro­kra­tie wei­te­re Pro­ble­me schafft.

Die Insti­tu­tio­nen wer­den plötz­lich per se abge­lehnt, obwohl es fal­sche Ent­schei­dun­gen bestimm­ter Poli­ti­ker sind, wel­che die Miß­stän­de ver­schär­fen. Die Soli­dar­in­sti­tu­tio­nen an sich funk­tio­nie­ren prin­zi­pi­ell, sie sind in Deutsch­land tra­di­tio­nell trag­fä­hig, und mit der Umkehr der unso­zi­al-volks­fer­nen Poli­tik der Alt­par­tei­en muß in die­sem The­men­feld eine Neu­be­sin­nung auf einen soli­da­risch-patrio­ti­schen Sozi­al­staat erfol­gen – kei­ne liber­tä­re Staatsfeindlichkeit.

Dabei wäre zumin­dest die Aus­gangs­si­tua­ti­on (nicht: die Fein­ab­stim­mung) im wirt­schaft­li­chen Bereich für eine popu­lis­ti­sche Par­tei denk­bar ein­fach: Man müß­te auf die aus­ge­preß­te und zuneh­mend pre­kä­re Mit­te – immer­hin die Mehr­heit im Lan­de – ver­wei­sen und eine ent­las­ten­de Poli­tik für sie einfordern.

Daß der­ar­ti­ges von der AfD-Wäh­ler­ba­sis erwar­tet wird, steht nach allem, was Sozio­lo­gen und Demo­sko­pen an Daten­ma­te­ri­al erho­ben haben, außer Zwei­fel. Mar­tin Hoschütz­ky ver­wies 2003 in sei­nem bereits erwähn­ten Text auf die imma­nen­te Schwä­che einer denk­ba­ren popu­lis­ti­schen Rechts­par­tei, die sich auf die Ober­schicht und den geho­be­nen Mit­tel­stand festlegte.

Ein Popu­lis­mus, der »nicht die Stär­kung des Gewichts der unter­bür­ger­li­chen Schich­ten im poli­ti­schen Pro­zeß in Angriff nimmt, wird kei­ne sub­stan­ti­el­len par­ti­zi­pa­to­ri­schen Impul­se her­vor­brin­gen, da er eine rela­tiv schma­le Bevöl­ke­rungs­grup­pe vertritt«.

Ein der­ar­ti­ger kon­ser­va­tiv-neo­li­be­ra­ler Ver­such wür­de zurück­fal­len in die Sack­gas­sen des besitz­bür­ger­li­chen Main­streams. »Anders könn­te es einem Popu­lis­mus erge­hen«, anti­zi­pier­te Hoschütz­ky auf frap­pie­ren­de Art und Wei­se, »der sich bewußt auch auf die unter­bür­ger­li­chen Schich­ten stützt.

Er wäre zum Ver­such gezwun­gen, die unter­schied­li­chen Inter­es­sens­la­gen der vom sozia­len Abstieg bedroh­ten Grup­pen des Mit­tel­stan­des wie der Arbei­ter­schaft zu reprä­sen­tie­ren. Ob die Rech­te an einem sol­chen Pro­jekt teil­neh­men möch­te«, mahn­te Hoschütz­ky, »hängt von ihrer Bereit­schaft ab, sich als in Oppo­si­ti­on zu den der­zei­ti­gen poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Ten­den­zen ste­hend zu begreifen«.

Exakt hier ver­läuft die Schei­de­li­nie inner­halb der AfD: Begreift man sich in Oppo­si­ti­on zu den herr­schen­den Ver­hält­nis­sen, oder strebt man sanf­te Kor­rek­tu­ren an?

Will man eine »harm­lo­se« Rech­te sein oder eine ent­schie­de­ne, stellt man par­la­men­ta­risch mit­tel­fris­tig eine mehr­heits­be­schaf­fen­de Rech­te für das ero­dier­te »bür­ger­li­che« schwarz-gel­be Lager dar, oder strebt man eine neue Volks­par­tei quer zu der bis­he­ri­gen Far­ben­leh­re des bun­des­deut­schen Par­la­men­ta­ris­mus an, was durch die Ent­ker­nung der Uni­on eben­so begüns­tigt wür­de wie durch den anhal­ten­den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Dilet­tan­tis­mus, der auf die im Volk reich­hal­tig vor­han­de­nen sozia­len Nei­gun­gen absto­ßend wir­ken muß?

Letz­te­re Unge­wiß­heit ist für die AfD die Gret­chen­fra­ge. Dies gilt um so mehr, als daß der AfD ein Milieu fehlt, das ihr über schwan­ken­de Kon­junk­tur­la­gen hin­weg ein soli­des Gerüst ver­schafft. Ver­steht man ein poli­ti­sches Milieu als »Grup­pe von Per­so­nen, die sowohl sozia­le Lebens­be­din­gun­gen als auch Denk- und Ver­hal­tens­wei­sen mit­ein­an­der tei­len« (Wil­helm Heit­mey­er), ist es einer­seits ein Vor­teil, daß die AfD kei­ne Milieu­par­tei ist.

Ande­rer­seits feh­len damit über­wie­gend »orga­ni­sche« Poli­ti­ker, die aus dem­sel­ben Holz geschnitzt sind wie ihre Wäh­ler: Links­par­tei und Grü­ne zei­gen, wie erfolg­rei­che Milieu­ar­beit aus­sieht; die Linie Wäh­ler – Mit­ar­bei­ter – Par­la­men­ta­ri­er ist klar, der nöti­ge inhalt­li­che Druck auf die Man­dats­trä­ger immanent.

Bei der AfD, der west­li­chen zumal, bleibt die Fra­ge unbe­ant­wor­tet, was ein pre­kär beschäf­tig­ter Fach­ar­bei­ter mit dem Akteur der markt­ra­di­ka­len Hay­ek-Gesell­schaft im Bun­des­tag über die Ableh­nung der Mas­sen­zu­wan­de­rung hin­aus gemein haben könnte.

Um die­se unüber­brück­ba­re Kluft weiß der Geg­ner, und die­sen gewal­ti­gen Wider­spruch kann er als Waf­fe nut­zen, spä­tes­tens dann, wenn das Allein­stel­lungs­merk­mal Migra­ti­ons­kri­tik all­mäh­lich in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung ver­san­det.  Die über liber­tä­re Aus­wüch­se hin­aus­rei­chen­de Pro­ble­ma­tik, die damit ver­bun­den ist, kann als »AfD-Bla­se« umris­sen werden.

Obschon man der Par­tei zuge­ste­hen muß, daß sie eine jun­ge ist und ihr die jahr­zehn­te­lan­ge Basis­ar­beit der Kon­kur­renz fehlt, bleibt es uner­gründ­lich, wie­so im Super­wahl­jahr 2019 kei­ne flä­chen­de­cken­de kom­mu­na­le Offen­si­ve erfolgt. Wen­det man etwa im – so oder so umfra­ge­star­ken – »blau­en Sach­sen« die kom­mu­na­le Ver­an­ke­rung als Maß­stab für nach­hal­ti­ge Auf­bau­ar­beit an, fällt eine Bestands­auf­nah­me beschei­den aus: In vie­len Klein- und Mit­tel­städ­ten tritt man gar nicht erst zur Wahl an.

Sogar in Kom­mu­nen, in denen zur Bun­des­tags­wahl 2017 cir­ca 30 Pro­zent AfD wähl­ten, wird die Par­tei zu Kom­mu­nal­wah­len nicht auf dem Zet­tel ste­hen – zwei Jah­re mög­li­cher Kärr­ner­ar­beit vor Ort fan­den dort schlicht nicht statt. Gesell­schaft­li­che Iso­la­ti­on kann als Hin­de­rungs­grund in Städ­ten und Gemein­den nicht her­an­ge­zo­gen wer­den, in denen fast ein Drit­tel der Bür­ger für die AfD votiert.

Viel­mehr ist ein Stre­ben in die Lan­des­me­tro­po­len und »Haupt­par­la­men­te« zu ver­mer­ken, das ein Enga­ge­ment auf ver­meint­lich sub­al­ter­ner Ebe­ne obso­let erschei­nen läßt. Dabei ist Dres­den für einen Vogt­län­der fern, nicht aber der unmit­tel­ba­re Orts­bei­rat oder das nächs­te Stadtparlament.

Es fin­det kei­ne alter­na­ti­ve Nach­bar­schafts­po­li­tik statt, die frei­lich die unver­zicht­ba­re Grund­la­ge einer jeden basis­na­hen Bewe­gung dar­stellt. Fal­len über­re­gio­nal mobi­li­sier­fä­hi­ge The­men weg, kann eine Land­tags­frak­ti­on ver­lo­ren wer­den; loka­le Ver­an­ke­rung hin­ge­gen blie­be, ver­sieg­ten auch die Geld­flüs­se in der Landeshauptstadt.

Auch hier fehlt es an Weit­sicht und einer stu­fen­ar­ti­gen Pla­nung aus Nah- und Fern­ziel zur Umwand­lung bestehen­der Ver­hält­nis­se, was wie­der­um »orga­ni­sche« Poli­ti­ker, die aus einem kon­kre­ten Umfeld in die Lan­des­po­li­tik »empor« stei­gen, ohne ihre Her­kunft ange­sichts neu­er Lebens­mög­lich­kei­ten dank Man­dats­ver­gü­tung zu ver­leug­nen, unmög­lich macht.

Daß es theo­re­tisch anders geht, zeigt, trotz feh­len­der Unter­stüt­zung durch den west­lich domi­nier­ten Bun­des­vor­stand (das bran­den­bur­gi­sche Wahl­kampf­bud­get ist nied­ri­ger ange­setzt als das von Split­ter­par­tei­en!), etwa Chris­toph Berndt in Cott­bus. Die­ser wird als Mus­ter­bei­spiel für aus­sichts­rei­che Vor-Ort-Arbeit über den Lis­ten­platz 2 der Lan­des-AfD ins Pots­da­mer Par­la­ment ein­zie­hen und bürgt als Garant für die arbeits­tei­li­ge, auf Nach­hal­tig­keit abzie­len­de Stra­te­gie der Mosaik-Rechten.

Die 100 000-Ein­woh­ner­stadt Cott­bus beweist, daß das, was im Klei­nen Bedeu­tung hat, eben­so für das gro­ße Gan­ze Rele­vanz besitzt: Soli­da­ri­tät kann dort grei­fen, wo das Zutrau­en zuein­an­der groß ist. Die­se ein­fa­che und bedeu­ten­de Maxi­me wur­de von Höcke und Wagen­knecht längst in die Poli­tik ein­ge­führt und mitt­ler­wei­le auch von »unver­däch­ti­gen« For­schern wie David Mil­ler und Fran­cis Fuku­ya­ma bestä­tigt, und sie steht in schrof­fem Wider­spruch zur west­le­ri­schen Rea­li­tät von »Mul­ti­kul­ti«, wo sich Ange­hö­ri­ge einer Com­mu­ni­ty unter­ein­an­der stär­ker ver­trau­en als den Men­schen ande­rer eth­no­kul­tu­rel­ler Kollektive.

Dies steht in Wider­spruch zu den Grund­be­din­gun­gen eines moder­nen und funk­tio­nie­ren­den Sozi­al­staats. Defi­niert man »Soli­da­ri­tät« unter Staats­bür­gern ohne jedes vater­län­di­sche Pathos als Akzep­tanz des rela­ti­ven Aus­gleichs zum Woh­le aller, bedarf es hier­für anfäng­lich eines Ver­ständ­nis­ses davon, daß über­haupt eine über­ge­ord­ne­te Gemein­schaft exis­tiert, der man Zunei­gung oder zumin­dest Loya­li­tät ent­ge­gen­bringt und von der man, gewis­ser­ma­ßen als Gegen­leis­tung für die gewähr­te Soli­da­ri­tät, ein Min­dest­maß an inne­rer und sozia­ler Sicher­heit erhält.

Die offe­ne Markt­ge­sell­schaft bedeu­tet aber weni­ger Sicher­heit in jedem Sin­ne. Ver­in­ner­licht man die­sen Gedan­ken­gang, wird es für alter­na­ti­ve Poli­tik, die nicht nur ein­zel­ne Stell­schrau­ben anders jus­tie­ren möch­te, unver­meid­lich, ein gra­vie­ren­des poli­ti­sches Umsteu­ern zu for­dern und sich nicht ledig­lich als Mehr­heits­be­schaf­fer-in-spe in Stel­lung zu bringen.

Das ist beson­ders für den Osten rele­vant, wo man in Thü­rin­gen, Sach­sen und Bran­den­burg 2019 über 20 Pro­zent errei­chen könn­te. Der Ver­lust des Urver­trau­ens und das dar­aus her­rüh­ren­de Wut­po­ten­ti­al ost­deut­scher Gene­ra­tio­nen sor­gen für ein­ma­li­ge Chan­cen des alter­na­ti­ven Oppo­si­ti­ons­po­ten­ti­als; ein­ma­lig, denn auch in den neu­en Bun­des­län­dern ist der »geis­ti­ge Wes­ten« – ver­stan­den nicht als Orts­zu­ge­hö­rig­keit, son­dern als bür­ger­lich-oppor­tu­ne Denk­wei­se, die dem »Geist des Ostens« mit sei­nem intui­ti­ven Wider­stands­ges­tus ent­ge­gen­steht – auf dem Vormarsch.

Karl­heinz Weiß­mann schrieb einst in sei­ner Kur­zen Geschich­te der kon­ser­va­ti­ven Intel­li­genz (hier bestel­len), daß die (west)deutschen Kon­ser­va­ti­ven »nie­mals zuvor so harm­los, so zahm und zivil« auf­ge­tre­ten sei­en – doch gilt das mitt­ler­wei­le auch für einen mar­kan­ten Teil des mit­un­ter basis‑, weil land­fer­nen säch­si­schen AfD-Apparats.

Aus­ge­rech­net im seit 1990 wich­tigs­ten Lan­des­wahl­kampf ver­zich­tet man auf einen inhalt­li­chen Fron­tal­an­griff, weil man – wie im übri­gen auch Grü­ne, FDP, SPD und sogar par­ti­ell Die Lin­ke – auf ein mög­li­ches Über­ein­kom­men mit der säch­si­schen Uni­on schielt.

Man will just im sozia­len Sach­sen kei­nen sozi­al­po­li­ti­schen Wahl­kampf füh­ren, da man »kei­nen Sozia­lis­mus pre­di­ge« (als ob die Befür­wor­tung eines für in Not gera­te­ne Lands­leu­te sor­gen­den Sozi­al­staa­tes auto­ma­tisch »Sozia­lis­mus« bedeu­te­te), und eben­so ver­zich­tet man auf ein­deu­ti­ge Posi­tio­nie­run­gen zu Glo­ba­li­sie­rungs­er­schei­nun­gen und Migra­ti­on jen­seits kurz­schlüs­si­ger »Grenzen-zu«-Rhetorik.

Dabei könn­te man vom CDU-Fos­sil Wolf­gang Schäub­le ler­nen, der Zuwan­de­rung als unser »Ren­dez­vous mit der Glo­ba­li­sie­rung« erfaßt. Hier gilt Phil­ip Manows Fest­stel­lung im Anschluß an den Har­vard-For­scher Dani Rodrik, wonach man zeit­ge­nös­si­schen Popu­lis­mus mit Erfolgs­aus­sich­ten als Pro­test­be­we­gung gegen die Glo­ba­li­sie­rung den­ken soll­te, als Pro­test »gegen­über zwei ihrer haupt­säch­li­chen Erschei­nungs­for­men: dem inter­na­tio­na­len Han­del und der Migra­ti­on, also der grenz­über­schrei­ten­den Bewe­gung von Geld und Gütern einer­seits und von Per­so­nen andererseits«.

Ent­spre­chend der unter­schied­li­chen Gewich­tung der bei­den Haupt­ar­ten der erleb­ba­ren Glo­ba­li­sie­rungs­for­men äußern sich lin­ke und rech­te Spiel­ar­ten des Popu­lis­mus. Für Sach­sen (aber auch vie­le ande­re, sogar west­li­che Län­der) bräuch­te es eine par­tei­po­li­ti­sche For­ma­ti­on, die bei­de Strän­ge bün­delt, anstatt einen der bei­den Aspek­te zu ignorieren.

Wenn man näm­lich, so Manow wei­ter, die Fra­ge nach den bei­den bedeu­tends­ten Pro­ble­men in der gan­zen Bun­des­re­pu­blik für AfD-Sym­pa­thi­san­ten beleuch­tet, »ist die kom­bi­nier­te Arti­ku­la­ti­on von Sor­gen über Migra­ti­on und sozia­le Gerech­tig­keit die mit sehr wei­tem Abstand häu­figs­te Ant­wort«. Erklä­rend heißt es: »Etwa 44 Pro­zent der ost­deut­schen Befrag­ten und knapp über 50 Pro­zent der west­deut­schen Befrag­ten äußern sich so, wäh­rend kei­nes der ande­ren genann­ten The­men an die 20 Pro­zent heranreicht«.

Die AfD, in der Mehr­zahl der Län­der des Wes­tens wie des Ostens, wird sich ange­sichts sol­cher Zah­len erst noch zu ent­schei­den haben, für wen sie künf­tig Poli­tik machen wird: Für die eige­ne, in libe­ra­len Denk­wei­sen und meist urba­nen Lebens­wel­ten ver­wur­zel­te höhe­re Funk­tio­närs­ebe­ne, die Migra­ti­on als selbst­lau­fen­den Ever­green braucht, indes bei mono­kau­sa­len Erklä­run­gen ste­hen bleibt und sozia­le Fra­gen als pro­pa­gan­dis­ti­sche Hül­le für das Wahl­volk ledig­lich dul­det; mit­hin also Poli­tik für eine Majo­ri­tät der 91 Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten, die eine (noch nicht ver­fes­tig­te) Kas­te abbil­det, die im schlech­tes­ten Fal­le Any­whe­res von rechts produziert.

Oder prak­ti­ziert man Poli­tik für die Mehr­heit der Sym­pa­thi­san­ten, die sich für Migra­ti­ons­po­li­tik und sozia­le Gerech­tig­keit auf­ge­schlos­sen zei­gen und die in Alex­an­der Gau­lands Sin­ne die Some­whe­res ver­tre­ten, indem sie, kon­kret ver­or­tet, an ihrer Hei­mat und der bedroh­ten Nor­ma­li­tät ihres Lebens festhalten.

Ohne Zwei­fel: Nur eine AfD, die für die ver­nach­läs­sig­ten Some­whe­res als Bevöl­ke­rungs­mehr­heit die­ser Repu­blik ein­steht, hat ihre genui­ne Exis­tenz­be­rech­ti­gung und das Poten­ti­al zu einer wirk­lich gesell­schafts­ver­än­dern­den Alter­na­ti­ve für Deutschland.

Setzt sich indes die auf zehn bis zwölf Pro­zent der Deut­schen beschränk­te, west­ge­pol­te FDP-plus-Islam­kri­tik-Hal­tung durch, wird Thors­ten Hinz’ »lan­ger Weg nach Osten« zur Wie­der­vor­la­ge fällig.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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