Frohen Mutes verheißt sie uns die “Kulturrevolution”. Da das Interview sich hinter der Bezahlschranke befindet, bleibt mir nichts anderes übrig, als Pellerts Antworten auf die Fragen des linken Schulsystemkritikers Christian Füller zu zitieren.
Überall in der Bildungsrepublik finden sich Beispiele von Lernen, die in meinen Augen ein Vorgeschmack auf die Zukunft sind. Wir stecken mitten in einer Kulturrevolution des Lernens.
Füllers Frage, ob sie wohl die Schule abschaffen wolle, beantwortet die Rektorin erwartungsgemäß abschlägig. Die Kulturrevolution kommt auf leisen Sohlen und fordert nicht “Schafft die Schule ab!”, sondern erledigt es eleganter. Die Lehrer, so habe die “Coronakrise” gezeigt, werden mit den Anforderungen von “hybridem Lernen” (also einem Teil Präsenzunterricht, einem Teil Onlineunterricht) nicht fertig. Dieser vorrevolutionäre Mißstand wird allerdings durch natürliche Auslese aufgehoben:
Das wird dazu führen, dass sich viele erschöpfen und nur ein paar übrigbleiben, die als Pioniere gegen die alten Strukturen und eine Schulkultur ankämpfen, die Lehrer als Allwissende sieht.
Man könnte versucht sein anzunehmen, daß der Totalumbau der Schule durch Digitalisierung in der gegenwärtigen Lage nicht nur alternativlos sein wird, sondern daß diese Lage bewußt herbeigeführt worden ist, um die Schule endlich der neuen Ordnung anzupassen. In Pellerts Worten hört sich das so an:
Die guten Beispiele seit der Schließung der Schulen führen uns geradezu ideale Arrangements vor. Das ist im Grunde eine geniale Situation um weiterzukommen. Wir können die Lehrkraft durch digitale Werkzeuge für das freispielen, was lernpsychologisch fundamental ist: eine Beziehung herzustellen. Das kann nur eine Person.
Recht hat sie: nur über persönliche Beziehungen lernt der Mensch. Sie unterschlägt dabei jedoch etwas, das anthropologisch nicht zu trennen ist und historisch nie zu trennen war von der persönlichen Beziehung: Interaktion unter Anwesenden, physische Nähe, leibliches Spüren des Gegenübers. Lehrer sind nicht nur Wissensvermittler, sondern schaffen eine Atmosphäre. Pellerts Argument, der alte Lehrer als Allwissender gehöre abgeschafft, verfängt insofern, als Lernen nun einmal nicht nach der Trichtermethode funktioniert. Davon überzeugt kauft ihr der Leser dann als Lösung den “flipped classroom” ab, denn “die Sozialen Medien mit ihren Tools und Werkzeugen sind nun einmal die Umgebung der Jugendlichen. In dieser Kultur sind sie zu Hause.”
Es wäre nun wohlfeil, wenngleich es bei der Sezessionsleserschaft sicher weitenteils auf Zustimmung stieße, wenn ich mich ausließe über der Fernuniversitätsrektorin Beispiel, Lessings Nathan per Emoji im Chat den Jugendlichen nahezubringen. Konservative Kulturkritik ist Teil des Problems: die Kulturrevolution braucht die alten Zöpfe, die sie abschneiden kann.
Ich bohre also eine Schicht darunter an.
Im Zuge des Great Reset wird auch das uns vertraute Konzept der Kindheit auf Start zurückgestellt. Es liefe der inneren Logik der Revolution zuwider, sparte man diesen Bereich der Menschenbewirtschaftung aus. Wenn die Reformpädagogin Ellen Key vom 20. als dem “Jahrhundert des Kindes” sprach, dann ist diese Epoche nun vorbei. Kinder als Proto-Erwachsene zu verstehen, als Konsumenten und als Produzenten von Medien-content setzt eine neue Anthropologie voraus.
Die globalistischen Eliten gehen davon aus, daß Menschen keine Bindung brauchen, damit sie als wurzellose “Anywheres” vor ihren individuellen Bildschirmen funktionieren. Durch frühkindliche Bindung entsteht das, was als gewissermaßen historischer Sonderfall in der Neuzeit unter dem Namen “Individuum” entstanden ist. Mensch im Gattungssinne kann man auch ohne diese Feinabstimmung zwischen Erwachsenem und Kind sein, Ich-Stärke kann indes nur ein Mensch ausbilden, bei dem Denken, Fühlen und Wollen im Ich aufgehoben sind.
Denkt man in größeren historischen Entwicklungen, so läßt Philippe Ariès in seiner Geschichte der Kindheit diese als besondere Lebensspanne und Schutzraum im 18. Jahrhundert beginnen. Vor der “Epoche der Kindheit” waren Kinder je nach sozialer Schicht Teil der Arbeitswelt bzw. Teil der Repräsentationswelt. Es deuten viele Anzeichen darauf hin, daß dies auch danach so sein wird.
Eine kleines Indiz für diese Entwicklung entnehme ich der Kinderzeitschrift GEOlino, in deren letzter Nummer ich Porträts von Kindern aus aller Welt fand, die allesamt Erwachsenentätigkeiten verrichten: ein Mädchen mit eigener Online-Tanzshow, ein Südseeinsulanerknabe, der die Schule schmiß um Fischer zu werden (als eigene Entscheidung geframed, nicht als Armutsfolge) und dann ein 10-jähriger Junge aus Deutschland. Ich zitiere:
Für das Projekt ‘Radiofüchse’ in Hamburg schreibt Bennet Beiträge, spricht sie ein, führt Interviews, schneidet sie sogar selbst. Im Moment nutzt er das heimische Wohnzimmer für seine Arbeit. Dort telefonierte er etwa zu Beginn der Coronakrise mit einer Kinderärztin und sprach mit ihr über das Virus. ‘Aufgeregt bin ich dabei eigentlich nicht mehr’, erzählt der Zehnjährige.
Indizien sind keine Beweise; aus einem Indiz lassen sich immer nur Tendenzen ablesen, nie Gesamtdiagnosen gewinnen. Weder hat also der kleine Bennet keine Kindheit mehr, noch ist er bindungsgestört, noch gibt es in Zukunft keine Individuen mehr.
Ein solches Indiz weist allerdings darauf hin, daß die Entwicklung von Bindung, Kindheit und Individualität systemisch (also über den jeweiligen Einzelmenschen hinausgehend) und systematisch (im Zuge einer bewußten Kulturrevolution) erschwert wird.
Daß Schulkinder als digital natives bereits “in dieser Kultur zu Hause” (Ada Pellert) sind, ist keine Naturkonstante. In meinem letzten Blogeintrag stellte ich in Hinblick auf die überaus günstige Gelegenheit, die die “Pandemie” für die Weltrevolution biete, etwas flapsig die Frage, was zuerst käme, die Henne oder das Ei.
Denkt man an dieser Stelle weiter, ergibt sich ein weiteres geistiges Prinzip. Kommt erst der mißliche Zustand und dann seine ersehnte Lösung – oder hat man etwa den Zustand genau wegen dieser Lösung in die Welt gesetzt? „Weil, wenn die Krise größer wird, werden die Fähigkeiten, Veränderungen durchzusetzen, größer.“ (Wolfgang Schäuble). Frau Pellert spricht von “idealen Arrangements” und einer “genialen Situation um weiterzukommen”. Fakten erst zu schaffen, dabei das eigene Faktenschaffen stets abstreitbar zu halten, um dann die normative Kraft des Faktischen zu beanspruchen, ist metapolitisch genial.
Haben wir angesichts des Prinzips der normativen Kraft geschaffener Fakten noch die Möglichkeit, Kindheit zu bewahren? Nach den Sommerferien dürfte Eltern und Schulkinder ein weiter fortgeschrittenes Szenario der “neuen Normalität” erwarten: blended learning, das jederzeit auf alleiniges Bildschirmlernen umgeschaltet werden kann. Die Arbeitsblätterwirtschaft ist endlich passé, weil Grundschulkinder ihren persönlichen Zugangscode zum Heimarbeitsplatz erhalten. Da sitzen sie dann vor ihren vom Staat gesponserten Tablets (und nachmittags zocken sie “zur Entspannung”).
Bewußte Eltern haben zwei Möglichkeiten, dieser Zurüstung etwas entgegenzusetzen. Kleine Kinder zwingt keine Institution vor den Bildschirm, und Eltern entscheiden nach wie vor selber, ob sie ihren Winzlingen ein Smartphone in die Hand drücken. Und ins Homeoffice verbannte junge Systemsklaven hat man immerhin im eigenen Zuhause.
Nicht nur Lehrer, sondern vor allen Dingen Eltern sind leiblich spürbar und schaffen eine umhüllende Atmosphäre. In dieser geht es nicht mehr nur um aufklärende Gespräche, gemeinsame Projekte im Freien und sonstige Kompensationen. Es geht um wachsame Führung der Kinder an einem unbekannten Abgrund entlang. Nur unter dieser Bedingung bleiben sie Kinder.
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Caroline Sommerfeld erzieht selbst drei Kinder. Sehr zu empfehlen ist ihr Grundlagenwerk Wir erziehen. Zehn Grundsätze. Hier einsehen und bestellen.
Gotlandfahrer
Werte Frau Sommerfeld,
„Fakten erst zu schaffen, dabei das eigene Faktenschaffen stets abstreitbar zu halten, um dann die normative Kraft des Faktischen zu beanspruchen, ist metapolitisch genial.“
Dies und unser genereller Verachtungsrespekt vor der „Linken“ unterstellt deren sichtbaren Protagonisten meiner Auffassung nach zu viel Geist und Können. Ja, sie sprechen so als ob und sie handeln auch dann so, wenn sie können, aber „es“ zieht sie eher, als dass sie ihr Sinken wirklich selbst betrieben. Denn wie Sie am Ende hoffnungsvoll und richtig anmerken: Home Schooling mag das Humboldt’sche Menschenbild schleifen, aber linkes Handeln erzeugt notwendigerweise immer die Widersprüche, an denen es selber scheitert. Womöglich steckt dahinter eher so etwas wie Hegels List der Vernunft, wobei wir auch Pech haben könnten und diese Listigkeit nicht auf etwas abzielt, was unsereins als vernünftig ansieht. Wir könnten auch alles nur Zellen eines sich energieflussoptimal aufrichtenden Großorganismus sein, der uns westliche Bürger wie Milchzähne abstößt wenn die Zeit reif ist. Ich weiß es aber nicht und deswegen finde ich Ihre Texte immer sehr anregend. Danke dafür!