Mich besuchte eine Spiegel-Journalistin zum Zwecke eines Interviews über „rechte Frauen“. Zwei ihrer Fragen trafen mich keineswegs unerwartet, sondern lassen sich einem Stapel von Beispielen hinzufügen, den ich zu einem schwelenden und quälenden Denkproblem seit langem angehäuft habe.
Sie fragte mich, wie ich zu „Vergewaltigung in der Ehe“ stehe, und im weiteren Verlauf des Gesprächs dann, wie es bei mir um die Nächstenliebe zu einer indischen Näherin bestellt sei. Auf demselben Beispielstapel liegen bereits: „Wie erkläre ich einer Lesbe mit einem fremden Baby an Kindes Statt, daß ich Adoption durch homosexuelle Paare für falsch halte?“, „Wie erkläre ich jemandem, der sich gerade endlich scheiden läßt, daß Scheidung und Patchwork zur Erosion der Gesellschaft beitragen?“ und „Wie erkläre ich einem Sozialhilfeempfänger oder einem Kassenpatienten, daß der Sozialstaat zu Verhausschweinung des Menschen führt?“
In einem Kommentar zu Bosselmanns Neosozialismus skizzierte ich eine erste vage Annäherung an das Gemeinsame dieser Fragen.
In mehreren Anläufen habe ich schon in den letzten Jahren Teile dieses Problems ventiliert, und versucht, es erst ironisch, dann mit den Begriffen „Interaktion“ und „Subjektivierung“, zuletzt dem des „unsichtbaren Bösen“ zu fassen. Unter einem bestimmten Blickwinkel handelt es sich um ein und dieselbe Frage in vielerlei Gestalt. Eine fertige Antwort habe ich auch jetzt nicht.
In allen genannten Fällen handelt es sich um den Widerstreit von Nähe und Ferne, von Einfühlung und Abstraktion, von Subjektivität und Objektivität. Steht mir ein konkreter Mensch gegenüber, bin ich gebannt von seiner Präsenz. Uns verbinden wohltemperierte Höflichkeitsformen, die es normalerweise verhindern, den anderen in der Interaktion zu kränken, zu konfrontieren, über ihn salopp gesprochen „drüberzufahren“ ungeachtet seiner leiblichen Anwesenheit.
Rudolf Steiner hat in einem Vortrag über „Soziale und antisoziale Triebe im Menschen“ bemerkt, daß in jeder Begegnung der andere Mensch gewissermaßen bestrebt sei, mich einzuschläfern. Seine Nähe lähmt meine Denktätigkeit, ich will mich nur noch mit ihm verbinden. Die Gegenwartspsychologie nennt dies Empathie. Eine gewisse Hilflosigkeit bemächtigt sich meiner, weil ich ihm zuhöre, mich in ihn einfühle, auf seine Seite gezogen werde, ob ich will oder nicht. Das ist der Normalfall der Interaktion, der „soziale Trieb“ im Menschen macht, daß dies geschieht. Mit einem inneren Ruck kann ich mich davon losreißen, aufwachen.
Wenn Sie einem Menschen gegenübertreten, schläfert er Sie ein, das heißt, Ihr Denken schläfert er ein, nicht Ihr Fühlen und Wollen. Jetzt müssen Sie, wenn sie ein denkender Mensch bleiben wollen, sich innerlich dagegen wehren. Sie müssen Ihr Denken aktivieren. Sie müssen zur Abwehr übergehen gegen das Einschlafen. Das Einem-anderen-Menschen-Gegenüberstehen bedeutet immer: sich erwachen machen, sich aufwecken, sich losmachen von dem, was er mit einem will.
Das passiert genau dann, wenn mich „antisoziale Triebe“ packen, ich von diesem konkreten Menschen abstrahiere. Dann bekomme ich allgemeinere Zusammenhänge in den Blick, der Mensch, der mir gegenübersteht, wird für mich zum Typus, zum Fall, zum Element einer Gruppe, zum Symptom für eine größere geschichtliche Tendenz. Der historisch-politische Blick ist objektivierend, er führt weg vom Einzelschicksal. Das bedeutet: wer in Geschichte denkt, denkt nicht in Geschichten. Das bedeutet aber auch: man kann nur subjektiv-ahistorisch oder objektiv-historisch denken. Wer nur Subjekte sehen kann, sieht keinen objektiven Prozeß und vice versa.
Ich fange an, zwei Ebenen zu trennen. Ich begegne im Leben einer vergewaltigten Frau, einer Lesbe, einem Sozialhilfeempfänger, geschiedenen Eltern – zuverlässig setzen die sozialen Triebe ein, mein Fühlen ist im wahrsten Sinne des Wortes in Mitleidenschaft gezogen. Nur der Näherin im fernen Indien kann ich nicht begegnen, sie bleibt abstrakt, auch wenn ich mir ihr Schicksal denken kann, auch wenn ich eine Veränderung ihrer Lage wollen kann.
Zu dieser trickreich installierten Fernstenliebe habe ich hier und Thomas Wawerka hier einiges geschrieben. Den emotionalen Bann halte ich in der Interaktion nie lange aus, das Denken drängt sich mit aller Kraft zwischen die sozialen Triebe und zerrt mich in die Abstraktion. Auf der der Begegnung entrückten Ebene erkenne ich erst größere Entstehungszusammenhänge. Nun die versprochenen Beispiele:
Der Sozialstaat ist eine späte Errungenschaft des liberalen Kapitalismus zur Abpufferung der zunehmenden Unfähigkeit der Bevölkerung, für sich und einander materiell sorgen zu können. Der alternativlose „Mangel an Ausweglosigkeit“ (Götz Kubitschek) gebiert zu versorgte, zu bequeme Menschen. Einem konkreten von diesen Errungenschaften abhängigen Gegenüber nun vorzuhalten, er verhausschweine durch Hartz IV, Krankenversicherung, Bildungs- und Rentensystem, ist zynisch. Ich profitiere ja selber von einigen dieser Lebensbehelfe, schlüge ich sie mit großer Geste verbalradikal aus, hielte man mich zu recht für einen Heuchler.
Soll ich, nächstes Beispiel, etwa auf die Frage nach der „Vergewaltigung in der Ehe“ mit Reinhold Schneider wahrheitsgemäß antworten: „Die Familie ist geheiligt im Geheimnis. Hier ist kein Zutritt, für keine weltliche, geistliche, menschliche Jurisdiktion“? Ich würde verspottet oder des Fanatismus geziehen, jedenfalls nicht verstanden, so sorgfältig ich mich auch erklärte.
Wenn ich, um ein abschließendes Beispiel näher anzuschauen, jener lesbischen Adoptivmutter gegenüberstehe, die mir vielleicht von ihren Sorgen erzählt, und ihr ins Gesicht sage, daß ihr von der Homosexuellenlobby durchgesetztes Recht Teil einer Volkszersetzungsagenda ist und überdies entwicklungspsychologisch höchst bedenklich für das Kind, ist mein Verhalten ebenfalls zynisch. Die Frau will mir ja nichts Böses und hält ihr Tun sogar für Gutes.
Doch den Mund halten, lächeln, die „neue Normalität“ billigen müssen? Unmöglich. Die subjektive Ebene und die abstrakte Ebene, mithin: Fühlen und Denken, klaffen auseinander. Auch noch so angestrengtes Wollen, etwa durch eine bessere Gesprächsstrategie, bringt sie nicht zusammen.
Der bereits erwähnte Steiner kann hier womöglich einen Schritt weiterhelfen. Er kennt diese Zerrissenheit genau und erklärt in einem anderen Vortrag aus dem Jahre 1909:
So kann im Leben auseinander gehen der Patriot und der Privatmann. Dann sprechen wir von keinem einheitlichen Charakter, und meinen damit, daß das Ich seine Wirkung nicht gleichmäßig verteilt auf die verschiedenen Betätigungen der Seele.
Steiner führt dann näher aus, was das Ich leisten muß, indem es Denken, Fühlen und Wollen erst funktional voneinander differenziert und dann harmonisiert:
Ist das Ich des Menschen nicht in der Lage, diese einzelnen Seelenglieder miteinander in Beziehung zu setzen, Ordnung, Harmonie und so weiter herzustellen, so fallen die einzelnen Seelenglieder auseinander. Das Ich muß sich kräftig erweisen durch alle einzelnen Seelenglieder hindurch und jedes einzelne in die andern in entsprechender Weise hineinspielen lassen. (…) Und daß der Mensch nicht in Stücke auseinanderfällt, wird bewirkt durch die eben geschilderte charakterologische Tätigkeit des Ich an den einzelnen Seelengliedern. Wenn das Ich aber nicht die Herrschaft behält über die einzelnen Seelenglieder, so tritt das ein, daß uns der Mensch wie zerstückelt erscheint, daß das Ich hinuntersinkt und nicht mehr gesehen werden kann: Charakterlosigkeit, Hingegebensein an die Dämonen seiner eigenen Seele; der Mensch wird hin und her gerissen von Trieben und Gefühlen, Gedanken, die ihn zur Verzweiflung bringen.
Es ist bei uns Heutigen notwendig, daß die subjektive und die objektive Ebene auseinandertreten, daß Verstehen der Hintergründe und empathische Begegnung zunächst nicht gleichzeitig möglich sind, daß der historisch denkende und politisch wollende „Patriot“ und der einfühlsame „Privatmann“ inkommensurable Perspektiven innerhalb einer einzigen Menschenseele sind. Die Zerrissenheit ist nämlich Vorbedingung dafür, daß das Ich überhaupt beginnt, seine Tätigkeit aufzunehmen. Das Ich sortiert die zerrissenen oder ineinander verknäuelten Seelenkräfte, richtet sie auf und verbindet sie wieder auf die richtige Weise.
Ist es möglich, das Ich zu kräftigen, damit es diese Leistung immer besser vollbringen kann? Damit ich nicht länger in Stücke auseinanderfalle, hingegeben bin „an die Dämonen in meiner eigenen Seele“? Ich bin schon dabei. Denn die Differenzierungsleistung geschieht bereits.
Die allmähliche Synthese ist, folgt man der Tradition christlicher Tugendlehren, das Ergebnis langjährigen „Trainings mit einem Gott“ (Peter Sloterdijk). Entscheidend ist dabei, keines der Seelenglieder einseitig zu überbeanspruchen, und wieder und wieder zu versuchen, Abstraktion und Einfühlung zu verbinden, wissend, daß dies Schwerarbeit ist und des höheren Beistands bedarf.
Wahrheitssucher
Einer der klügsten Artikel, der je auf SIN erschienen ist.
Als möglicher Lösungsansatz des Dilemmas nur ein Satz:
Das jeweils schlechte Beispiel darf nicht Schule machen,
muß Ausnahme bleiben...