Ich tue das keineswegs aus strategischen Gründen. Ob dieses Potential besteht oder ob eine Mobilisierung erfolgreich wäre, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielmehr gehöre ich zu denjenigen wenigen, die sich, wie Sellner schreibt, „einen anderen Kampf herbeiwünschen“. Doch ich wünsche mir diesen Kampf nicht herbei, ich versuche nach und nach zu entwickeln (Selbstrettung ist ein erster Schritt), wie ein anderer Kampf, ein im wesentlichen geistiger Kampf, aussieht. Hieraus ergeben sich einige Einwände gegen die Idee von der patriotischen Mobilisierung.
1. Mein erster Einwand richtet sich gegen die These, „geschulte Kader“ müßten die Masse nach der Widerstandsanleitung von Gene Sharp umformen, um ihren amorphen oder Nebenwidersprüche traktierenden Protest in eine politisch wirksame Bahn zu lenken. Sellner schreibt:
Vom Maidan bis zum Tahrirplatz haben das organisierte Gruppen geschafft, indem sie die der Masse, ohne sie als Bühne für aktivistische Abenteuer zu nutzen, eine Struktur, eine Strategie und ein Ziel gaben.
Ja, das haben „organisierte Gruppen geschafft“, nur stelle ich die Frage, wer sie mit welchem Ziel organisiert hat. Der “Maidan” in der Ukraine war von vorn bis hinten eine CIA-Kunstrasenbewegung to make the world safe for democracy. Der authentische Impuls des protestierenden Volkes wurde umgelenkt.
Alle nach diesem Muster durchgeführten “Rebellionen” und „Revolutionen“, zuletzt diejenige in Weißrußland, liefen nach einem ähnlichen Schema ab. In jedem osteuropäischen, asiatischen und arabischen Land gibt es “westlerische” Tendenzen, besonders unter der disco‑, sex- und mediengeilen Jugend. Mit der Forderung nach “Demokratie” und “Freiheit” sind große Teile dieser Völker auf die Straße zu bringen. Dann bekommt das “Regime” des jeweiligen Landes den scheinbar authentischen Volkszorn unter die Nase gestellt, flankiert vom internationalen Medienecho. Dies geschieht so lange, bis es abtritt und eine „demokratische“ Übergangsregierung mit in den USA geschultem Personal aufgestellt worden ist.
So geht “Maidan”. Die Anleitung zu dieser Art von Rebellion hat Sharp publiziert. Die französische Wikipedia fügt die Hintergründe in wenigen Sätzen zusammen: Sharps Einstein Foundation gehört zum US-amerikanischen National Endowment for Democracy. Mithilfe von George Soros war sie an der „orangen Revolution“ der Ukraine beteiligt, ebenso wie Srda Popovic in Jugoslawien unter direkter CIA-Unterstützung.
2. Mein zweiter Einwand beginnt bei möglichen – und uns Beobachtern stehen immer nur Beobachtungsmöglichkeiten zur Verfügung – Indienstnahmen der Proteste. Der Nachteil der Arbeit des Aufdeckerjournalisten Gerhard Wisnewski ist, daß er stets mit demselben Verdacht an alle politischen Phänomene herantritt, der Vorteil, daß er dadurch oft recht präzise die Bausteinchen dieser Phänomene kombinieren kann. Wieso interviewte die BILD-Zeitung bereits einen Tag vor dem „Sturm auf den Reichstag“ just jene Dame, die erst am Samstag ihren großen Auftritt haben sollte? Wieso tritt punktgenau ein Szenario ein, was die Sicherheitsbehörden „befürchtet“ hatten? Wieso gibt der Innensenator den Einsatz von V‑Leuten so freimütig zu?
Nun ließe sich einwenden, daß der Mißbrauch von Großdemonstrationen nicht prinzipiell gegen diese spricht, abusus non tollit usum. Nur sollte man die bisherigen Widerstandsformen, zu denen Demonstrationen eben zuvörderst zählen, als Stereotype erkennen, und nicht überrascht oder entsetzt sein, wenn auch die stereotypen Unterwanderungsformen einigermaßen berechenbar eingesetzt werden und genauso berechenbare mediale Bilder erzeugt werden. Der Mißbrauch ist also dieser Protestform von vornherein eingeschrieben, macht gewissermaßen ihr Prinzip aus, und dieses Prinzip lautet: Manipulation der Massen.
3. Und hier komme ich zu meinem dritten, wichtigsten Einwand gegen Martin Sellners These. Wenn der politische Gegner die Massen manipuliert – was wir anhand der globalen „Corona“-Agenda eindrucksvoll miterleben – soll dann unser Ziel sein, unsererseits die Massen ebenfalls zu manipulieren, nur für ein besseres Ziel?
Ein Gedanke des Philosoph Rudolf Pannwitz (1888–1969) liest sich für mich wie ein vorsichtiger erster Anlauf: »Gelangt eine Bewegung zum Siege, so herrscht schon nicht mehr ihre Idee, sondern das System ihrer Mittel«. Ein anderer seiner Gedanken wäre dann wie ein zweiter Anlauf zu verstehen, mit dem er den ersten auf auf den Punkt bringt:
Hat uns der Teufel emporgeholfen, so werden wir ihn nachhause schicken. – Ja habt ihr denn geschlafen, als ihr ihm eure Seele verschriebet?
(Diesen Fund aus Pannwitz’ weitgehend unbekanntem Werk sowie die weiter unten folgenden Zitate von Reinhold Schneider und Paul Valéry verdanke ich Stephan Siber). Von Pannwitz aus weiterzudenken bedeutet, grundsätzlich nicht an der Macht mitnaschen zu wollen. Es erfordert ein gerüttelt Maß an Selbstbeherrschung, sich der Verführung der Macht zu entziehen: dies bedeutet nämlich, weder die politische Mehrheit noch die Kontrolle der ideologischen Staatsapparate selber erlangen zu wollen.
Wer an den Sieg der guten Sache glaubt, der glaubt nicht an die gute Sache, sondern eben an den Sieg; und genau so steht es mit der Wahrheit. (Reinhold Schneider)
Wie kann man an die gute Sache glauben, aber nicht an ihren Sieg? Ich knöpfe mich mir einmal selber vor: Wenn ich etwas bewirken will und bisher nicht bewirken konnte, erleide ich erst zunächst eine Kränkung. Dagegen hilft nicht, daß ich mich noch stärker um die anvisierte Wirkung bemühe, sondern anfange, die Mechanismen des Bewirkenwollens zu verstehen.
Zu diesen Mechanismen gehört die Ungeduld, der revolutionäre Wunsch, die Brechstange in die Hand zu bekommen um zu verändern, was verändert gehört. Auf die Berliner Protestbewegung bezogen heißt dies: den an einem vermeintlichen Nebenthema entstandenen Protest in die eigene Verfügung nehmen zu wollen, ihn über seine wahren Interessen aufzuklären und dann zu übernehmen. (Nebenbei bemerkt: meines Erachtens verstehen die „Querdenker“ und viele Leute in ihrer amorphen Anhängerschaft genug von den Schauplätzen der „hybriden Kriegsführung“ gegen das Volk, dem die dort gratis verteilte „Expresszeitung“ vor einiger Zeit eine ganze Ausgabe widmete, als daß sie sich politisch auf einen Kriegsschauplatz – den Großen Austausch – lenken lassen wollten.)
Zu diesen Mechanismen gehört außerdem der Glaube an die Masse. Das Volk ist nicht identisch mit der Masse, es wird nur unter bestimmten historischen Deformationsbedingungen zur Masse und es wird nur in einem bestimmten deformierten, politisch linken Verständnis zur Masse.
Im Maße nämlich, in dem die kollektiven Mächte Raum gewinnen, wird der einzelne aus den alten, gewachsenen Verbänden herausgesondert und steht für sich allein. Er wird nun der Gegenspieler des Leviathans, ja sein Bezwinger, sein Bändiger. (Ernst Jünger, Der Waldgang)
Der einzelne verrät immer entweder das Kollektiv oder sich selbst. Widerstand gegenüber dem Leviathan besteht darin, nicht in der Partei, der Bewegung, „unserer Sache“ aufzugehen, auch wenn man deshalb des Verrats beschuldigt wird. Er besteht darin, als Rechter niemals mit linken Methoden operieren zu wollen. Wenn man dies nämlich zuläßt, verändert das eigene politische Handeln unter der Hand seine Gestalt und nähert sich dem an, was man eigentlich ablehnt. Pannwitz’ Gedanke wird hier erneut deutlich: die Mittel wirken sich auf das Ziel aus.
Recht verstandener Widerstand geht vom Ziel her zurück zu den Mitteln. Wenn das Ziel im „Zeitalter der Bewußtseinsseele“ (Rudolf Steiner) ist, daß freie Individuen in souveränen Völkern existieren, sich der Mensch aus der „Gruppenseele“ herausarbeitet, dann sind die Mittel dazu nicht in der Bewirtschaftung der Gruppenseele zu suchen. Andernfalls erzeugt eine patriotische Revolution nichts anderes als das, wogegen sie einst angetreten ist.
Zu wollen, daß eine Meinung sich durchsetzt (recht haben wollen), heißt immer, ihr andere Stärken zu wünschen als die, welche sie hat, und an diesen zu zweifeln. Den nahen Sieg einer Doktrin voraussagen heißt zugeben, daß ihr Wert in dieser künftigen Macht liegt, und daß diese künftige Macht in dieselbe Kategorie gehört wie die jetzigen Widerstände, gegen die sie sich durchsetzen wird. Ihr werdet anbeten, was ihr jetzt verbrennt; was heißt, daß eure Verehrung nicht mehr bedeutet als eure Gluthaufen. (Paul Valéry)
Maiordomus
Zwischen dem, was Frau Sommerfeld denkt, vertritt und lebt, und dem Weg, zu dem sich nun mal Sellner, der auch gern ein Denker geworden wäre, entschieden hat, gibt es bleibende und nicht zu unterschätzende Unterschiede. Dies gilt es ehrlich und nüchtern festzuhalten. Bin noch beeindruckt, dass bei Frau Sommerfeld Rudolf Pannwitz zu den zitierbaren Autoren gehört. Er war nebst anderem der Anreger und die frühe Bezugsperson des Schweizer Denkers, Autors und langjährigen Chefredakteurs der "Tat", Erwin Jaeckle (1909 - 1997).