Herr Tellkamp, möchten Sie uns zum Einstieg das Benn-Gedicht nennen, das Ihnen auf Ihrem bisherigen Lesensweg den größten Eindruck hinterlassen hat?
TELLKAMP: Ganz klar »Schleierkraut«. Mich hat der unverkennbare Benn-Rhythmus sofort beeindruckt. Mir ist dann in meinem Studium aufgefallen, daß die Professoren der Medizin, wenn sie denn Lyrik lasen, vor allem Benn gut kannten. Ich weiß noch: Ein Anatom, Paul Rother, der selbst auch Gedichte geschrieben hat und seine Vorlesungen teilweise in Versform hielt, der zitierte beim Sezieren immer Benn. Vor allem die Klassiker aus der Morgue und den Gang durch die Krebsbaracke. Auch einige Pathologen und Hautärzte kannten ihn.
Aufgrund der Morgue-Gedichte?
TELLKAMP: Natürlich auch, aber vielleicht liegt es auch daran, daß Benn einer der wenigen Lyriker ist, den erwachsene Männer mögen – wo der Vorwurf des Kitsches oder des Pubertären vollkommen ins Leere läuft.
Liegt das an seiner äußeren Kälte?
Tellkamp: Die Kälte gibt es bei Benn vor allem in den Essays und in der Haltung, die Gedichte hingegen sind sentimental grundiert. Es gibt eine Sehnsucht nach der Südsee (etwa im Palau-Gedicht). Auch in den Morgue-Gedichten ist es nicht unbedingt Kälte. Es ist einfach der Stoff, der ihm zur Verfügung steht und dem er dann in lyrischer Form Ausdruck verliehen hat. Nach außen hin mag das sehr kraß wirken, aber für jemanden, der das praktiziert, ist es Alltag.
Denken Sie aber an die dunkelhelllila Aster, ein Anflug von Romantik …
TELLKAMP: … genau, aber den bricht er ja sofort wieder weg. Die dunkelhelllila Aster, die gemeinhin als die letzte Blume der Romantik gilt, wird sofort weggestopft.
Uns leuchtet ein, daß Sie Benn den Dichter der erwachsenen Männer nennen. Es grenzt vielleicht an Gemeinheit, aber George könnte man in Anlehnung daran zum Dichter der Jünglinge küren und Rilke zu dem der Schwiegermütter.
TELLKAMP: So weit würde ich gar nicht gehen, aber die Häufung von gestandenen Männern in Benns Leserschaft ist zumindest auffällig. Ob die Professoren andere Lyriker kannten, weiß ich nicht. Wenn sie mal etwas zitierten, dann meistens Benn. Nicht immer nur aus dem medizinischen Aspekt heraus. Wenn man die Möglichkeit hatte, mit den Professoren direkt zu sprechen,
zeigte sich oft eine umfassende Benn-Kenntnis, die mich erstaunte. Gegenprobe: Bei jungen Frauen habe ich Benn niemals zitiert gefunden. Da würde dann wahrscheinlich eher Rilke ins Spiel kommen. Es gibt offenbar einen Vorbehalt.
Oft wurde Benn gegenüber der Vorwurf erhoben, er seziere die Dinge so unterkühlt, daß auch seine Distanz zur Moral eine erhebliche sei.
TELLKAMP: Das kann sein. Vielleicht habe ich da eine zu ärztliche Perspektive, weil der moralische Blick für einen Arzt nicht taugt. Wenn Ihnen als Chirurg die Moral durchs Skalpell fließt, geht’s schief. Da sollte man klar trennen.
Kein Zufall also, daß Benn Mediziner war?
TELLKAMP: Wenn ich mich mit anderen Ärzten über ihn unterhielt, war das Attribut der Kälte nie gegenwärtig. Im Gegenteil. Als ich so alt war wie Sie, war er mir sehr nah, manchmal sogar ein wenig onkelhaft. Unvergeßlich sind mir diese unfaßbar heißen Leipziger Sommer geblieben. Sommerzeit war immer Prüfungs- und nie Ferienzeit.
Unheimlicher Druck gepaart mit größter Hitze, mit Schüsseln auf dem Boden, wo wir durchgegangen sind, damit es ein bißchen kühler wurde – und dann Benn als Figur, die dich das aushalten gelehrt hat, die auf ganz elementare Grundtatsachen zurückverwies: Was ist das Leben? »Brückenschlagen / über Ströme, die vergehen.« »Einsamer nie als im August: / Die roten und die goldenen Brände …«.
Wenn Sie als Student in irgendeiner Bude hockten mit fast vierzig Grad und für Mikrobiologie lernen mußten, da war Benn der Pate und nie Rilke oder sonst jemand. Das ist eine Elementarerfahrung von Lyrik überhaupt.
Rilke hockte auch nicht in Buden, sondern kränkelnd auf irgendwelchen Schlössern von Freunden.
Tellkamp: Es ist bei Benn einfach härter und verbürgter. Er hat natürlich auch eine pathetische Lyrik, wobei ich glaube, Pathos wird von Kritikern mit Grundsatz verwechselt. Benn hat eher eine grundsätzliche Lyrik. Er bricht die gesamten Aktualitäten, die einen umschwirren, runter: Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, Rose, Duft, Himmel, Schwalbe, Südsee, Tod. Das beschäftigt und beeindruckt natürlich einen jungen Medizinstudenten, der mit Grundlagen konfrontiert ist: Was ist das Leben überhaupt? Was ist Krankheit überhaupt? Was ist eine Geburt? Wenn Sie das erste Mal zugucken und das Kind dort rausflutscht, mehr tot als lebendig, wenn Sie den Damm dann nähen, der blutet wie Schwein, wenn sie eine große Wunde vor sich haben, wie
bei einem geköpften Rind … das alles ist Benn.
Ich finde ihn auch deshalb faszinierend, weil ich kaum ein Leben kenne, das gestopfter gewesen wäre. Er hat alles erlebt, er war im Ersten Weltkrieg, er war im Nuttenspital in Brüssel, hat dort geschrieben, hat die Inflation mitgemacht, er kannte Hinz und Kunz, egal ob Brecht, Becher, Bronnen oder Jünger … Er hat sogar noch Ernst von Bergmann operieren gesehen, eine Chirurgenlegende.
Es muß ja einen Wendepunkt in BennsnLeben gegeben haben, denn es gibt einen unverkennbaren Bruch zwischen den ganz frühen und den späteren Gedichten, wo ein Sehnsuchtsgefühl hinzutritt, das womöglich durch den Verlust eines heilen, geistigen Raums zu erklären wäre. Für den gealterten Benn war die Gegenwart ja nur mehr gestapelte Faktenwirklichkeit.
TELLKAMP: Ich weiß nicht, ob es für Benn diesen heilen Raum je gab. Wenn ich ihn lese, dann stellt sich dieses Gefühl nicht ein. Er kam aus einem Pfarrhaus und hatte größte Probleme mit seinem Vater. Der Vater hatte ja der Mutter, als sie im Sterben lag, das Morphium verweigert, da er Schmerz für gottgewollt hielt. Dafür wollte der junge Benn ihn erschlagen. Ich weiß nicht, ob für ihn Heil je außerhalb des Gedichts bestanden hat.
Die Frage wäre, um vielleicht auch die Parallele zu unserer Zeit zu ziehen, ob Benn diese Sehnsucht nach einem heilen, geistigen Raum schon immer in sich trug …
TELLKAMP: … die gab es immer, auch wenn man sie in den Morgue-Gedichten noch nicht findet, sondern eher in dem, worauf sie weisen. Die Morgue-Gedichte kommen mir vor wie Scherben eines sehr häßlichen Nachttopfs, aber den Nachttopf muß einer gefüllt haben, mit seinen Sehnsüchten und Hoffnungen. Sie schweigen und sprechen gerade deswegen davon.
Sie fühlten sich vom »Schleierkraut« direkt berührt. Meinen Sie, das ist eine Grundeigenschaft, die man in sich haben muß, das Sich-Berühren-Lassen-Wollen, um Benn überhaupt verständig lesen zu können, oder kann man das lernen?
TELLKAMP: Es ist die Frage, ob einem persönlich Lyrik zugänglich ist oder nicht, es ist keine Frage von Benn allein. Das Schleierkraut-Gedicht kommt zwar bei Benn vor, ist aber vielleicht nicht das typischste für ihn.
Welche wären typischer?
TELLKAMP: Die »Kleine Aster«: der frühe, der krasse Benn; »Zwei Dinge«: der lakonische Benn; »Einsamer nie«: der romantische Benn.
Was mich beim »Schleierkraut« einfach angerührt hat, war die Musikalität und die vollkommene Rückführung. Man hat das Gefühl, man hört ein Zeitgeräusch und von dieser Schallplatte fährt einer den Tonabnehmer runter auf eine viel grundsätzlichere Schallplatte, die drunter spielt und in dieser aktuellen Tonlage nur punktuell noch zu hören ist. Ein ewiges Gedicht der Gegenwart.
Das legt ein Kontinuum des Daseins frei. Auch wenn wir von geschlossenen geistigen Räumen sprechen: Allein, daß das Gedicht möglich ist, verweist ja darauf, daß diese Räume noch vorhanden sind, zumindest auf den Einzelnen bezogen. Was Sie gerade beschrieben haben, die Vergegenwärtigung eines transhistorischen Moments im Gedicht, dieses Motiv ist auch bei Stefan George allgegenwärtig. Doch hat Benn im Gegensatz zu ihm keinen kultischen Bannkreis um seine Lyrik gezogen. Warum eigentlich nicht?
TELLKAMP: Es gibt darauf eine drastische und eine literaturwissenschaftliche Antwort …
… wir wollen natürlich zunächst die drastische.
TELLKAMP: Benn war nicht schwul genug. Außerdem war Benn immer noch im Äußeren Arzt, das erzieht zu einer Form von Demokratie, Sie sind dadurch mit einer Lebenswirklichkeit konfrontiert, in der Sie sich herrscherliches Gebaren gar nicht leisten können.
Sie meinen also, Benn gehört auch als Figur ins 20. Jahrhundert? Das könnte man von George nämlich nicht behaupten.
TELLKAMP: Ich hatte bei George immer das Gefühl, er will etwas von Hölderlins Archipelagus wiedererwecken, also eine geistige, mit Griechenland kontaminierte Utopie, die mittelalterliche Züge trägt. Da gibt es ja von Grünbein dieses Diktum, nach dem George »der größte Dichter des Spätmittelalters im 20. Jahrhundert« gewesen sei – wobei hier nur ein Spätmittelalter eher Wagnerscher Prägung gemeint sein kann, denn es ist ja nicht real, sondern ein Sehnsuchtsort, der mit gewissen Insignien versetzt ist.
Sicher, aber dem hätte George auch nie widersprochen. Ihm war bewußt, daß alles, worauf sein geistiges Reich sich gründete und berief, real und objektiv schwerlich aufzufinden gewesen wäre, weil es ganz eigene Findungen, vielleicht Erfindungenwaren. Im direkten Vergleich geht Benn sicherlich als modern durch.
TELLKAMP: Ja, auch als alltäglicher. Das Unmoderne an George hebt vor allem auf seine Fremdheit in der Zeit ab. Der geistige Hall- und Lebensraum von Stauffenberg und George etwa, der ist uns heute äußerst fremd, was ihn nicht uninteressanter macht – zumal diese heutige Fremdheit noch lange nicht die Unmöglichkeit erneuter Annäherungen besiegelt.
Eine interessante Frage wäre, wenn man auf die Fremdheit in seiner jeweiligen Zeit zu sprechen kommt, auch diese: War es nicht in bestimmten Zeiten opportun, sich von der jeweiligen Gegenwart loszusagen? Das war nicht zuletzt Brechts Vorwurf an George. Wer 1920 deutlich machte, mit dem eigenen technomanen und vulgären Zeitalter nichts am Hut zu haben, der ging in Wirklichkeit mit der Zeit und wußte Mehrheiten hinter sich.
TELLKAMP: Mich würde interessieren, wie ein gebildeter Muslim George liest. Ob es von dem her, was ich als Laie aus dem Koran verstehe, ob es nicht dort solche Vorstellungen des Jenseitsreiches oder überhaupt des Gottesglaubens gibt, die George sehr nah kämen.
Das könnten wir ja mal in der Fußgängerzone ausprobieren: »Sind Sie gebildeter Muslim – und was halten Sie von Stefan George?«
TELLKAMP: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das zum Affront führen würde. Da urteilen wir vornehmlich aus unserer Zeit und aus unserem Kulturkreis heraus, anstatt ernsthaft zu fragen, wie in anderen Kulturräumen darüber gedacht wird: Ob dieser elitäre Ansatz von George vielleicht als etwas Zeitloses wahrgenommen würde, das durchaus auch in Koranschulen bestehen könnte. Am Ende gibt es dort womöglich mehr Georgesche Haltung als in unserer verwalteten Kultur.
Was wir heute vermissen und bei Benn sowie einigen seiner Zeitgenossen noch vorfinden, dürfte doch nicht zuletzt dies sein: Aus dem Gefühl der eigenen Zeitfremdheit rebellische Schöpferkraft abzuleiten, sich vorzuwagen mit neuen Formen. Oder sehen sie dergleichen auch heute?
TELLKAMP: Ehrlich gesagt nicht. Mir ist immer schleierhaft geblieben, warum ein so starker Konformismus herrscht und man sich offenbar auch noch wohlfühlt dabei.
Glauben Sie denn, daß Benn zu Größen wie Volk oder Gesellschaft Bezug hatte?
TELLKAMP: Das denke ich weniger – wobei man klar sagen muß, daß gerade der späte Benn, der Benn des Büchnerpreises und der Statischen Gedichte, Demokrat war. Alles kommt in seinen Gedichten gleichberechtigt vor: der Professor, der dort raucht, das Bier, die Querflöte, alles. Er kontaminiert seine Texte ganz bewußt mit Alltag. Ich finde es interessant, daß gerade dieser Benn eine Breitenwirkung in der Bundesrepublik erlangt, wo sein Umschwenken gewissermaßen in den Zeitgeist paßt. Der frühe Benn, der Radikalinski, kommt dort nicht vor und hätte auch in der frühen Bundesrepublik keinen Anklang gefunden.
Und der spätere fügt sich nahtlos ins Adenauer-Biedermeier?
TELLKAMP: Es ist diese stoische Haltung, die mich immer fasziniert hat: Du bist letztlich bei den elementaren Dingen allein, egal ob auf dem Totenbett oder bei der Geburt. Das Ich und die Welt, die sich ringsum dreht. Das ist einfach eine Frage der Stimmung. Die Schlager, die vorüberwehen, die Hitze, die Großstadt im Sommer, wenn alle im Urlaub sind. Eigentlich eine
wunderbar produktive Zeit. Alle sind auf Mallorca oder Usedom und du bist in der Großstadt, die Wände strahlen die Hitze ab. Du gehst in die Kneipe, zischst ein Bier, wie Benn schreibt, und beobachtest diese Wüste, die dort entstanden ist.
Benn vermittelt für mich Stimmungen, die anderswo in dieser Intensität kaum wiederzufinden sind.
Benn nennen Sie insofern demokratisch, als er keinen Gegenstand von seinen Gedichten ausschließt. Aber ist er auch Demokrat in der Form?
TELLKAMP: Nein. Lyrik ist immer aristokratisch, das versteht sich von selbst. Lyrik ist nie ein Massenphänomen. Deswegen wirkt die »Erklärung der Vielen«, um für einen Augenblick in die Tagespolitik zu schwenken, für mich um so absurder, wenn dort Lyriker unterschreiben. Lyriker sind immer Aristokraten.
Um unsererseits einen Bogen zur Gegenwart zu schlagen: Sie schrieben einst, »im guten Kunstwerk fehlt der Terror der Eindeutigkeit«. Die kunstnotwendige Ambivalenz finden wir bei Benn sicherlich vor.
Wenn wir hingegen heute auf den Kulturbetrieb blicken: Gibt es da noch etwas, das sich der Vereindeutigung entschlagen kann?
TELLKAMP: Das kann ich pauschal nicht sagen, nehme die Verengung aber wahr. Das gute Kunstwerk ist nie vereinnahmbar. Das gute Kunstwerk hat nicht recht.
Sie haben selbst ein Buch geschrieben, das in der Öffentlichkeit sehr wohlwollend rezipiert wurde. Daß dieses Werk nun in der öffentlichen Wahrnehmung durch Ihre politischen Äußerungen beschädigt wurde, schmerzt Sie das?
TELLKAMP: Das tut weh und das stört mich auch, aber es ist unvermeidbar. Das ist das Spiel des Lebens.
Das Schöne bei Ihnen ist doch: Sie bekommen Ihre Bücher bloß zivilisiert zurückgeschickt und nicht wie der kompromittierte Knut Hamsun seinerzeit wutentbrannt über den Gartenzaun geworfen.
Tellkamp: Doch, ich habe auch schon Werke geschreddert zurückbekommen. Eins wurde durch den Reißwolf geschickt, nur das Titelblatt blieb unbeschädigt, damit ich sehen konnte, welches es ist.
Das ist ja abartig.
TELLKAMP: Das ist schon fast Liebe. Das hat mir wirklich zu denken gegeben. Dieses Paket voll mit Reißwolfschredder, das dauert ja auch eine Weile bis man es da durchgeschickt hat. Das hat Mühe gemacht. Aber es ist unvermeidbar, das muß man wissen, wenn man in die Arena steigt in einer derart aufgeheizten Zeit. Alles andere wäre naiv.
Vor 2017 haben Sie sich eher zurückgehalten. Als wir in jungen Jahren im Freundeskreis Ihren Turm lasen, da war uns schon klar, daß hier einer schreibt, der wahrscheinlich konservativ ist oder zumindest nicht dogmatisch links. Wieviel Überwindung hat Sie das gekostet, sich in die politische Debatte einzumischen?
TELLKAMP: Einiges an Überwindung. Ich habe das ja schonmal ausgebadet, beim Eisvogel oder auch zu meiner Studienzeit in Leipzig beim StuRa. Man fragt sich ja schon: Willst du dir das nochmal antun, du hast Literatur zu schreiben.
Natürlich wäre es auch klüger, sich so zu verhalten, als gäbe es gewisse Probleme nicht. Und man muß sich außerdem fragen: Wie ergeht es deinen Kindern dabei, was hat das für Konsequenzen? Kriegst du ’nen Molotow ins Fenster geschmissen? Wenn man sich allerdings einmal entschieden hat, dann sollte man die Sache auch ohne Zögern und Zurückweichen angehen.
Haben Sie Ihre Entscheidung ganz aus persönlichen Motiven getroffen oder wollten Sie auch für die im öffentlichen Diskurs
vielgeschmähten Dresdner lokalpatriotisch Partei ergreifen?
TELLKAMP: Das habe ich primär aus persönlichen Gründen gemacht, weil es mich einfach angestunken hat, wie die Debatte in Deutschland läuft: Die Verlogenheit, die Heuchelei und das Elend des Journalismus. Der immer schlimmer werdende Umgang auch mit meiner Freundin Susanne Dagen. Gewisse Selbstermächtigungen und Selbsterhöhungen. Da habe ich mir irgendwann gesagt: Jetzt reicht es mir, nun kann ich einfach nicht mehr still im Elfenbeinturm sitzen bleiben.
Haben Sie das bereut?
TELLKAMP: Nein.
Freuen Sie sich denn auch ein wenig über die turbulenten Zeiten oder hätten Sie es lieber ruhiger?
TELLKAMP: Ich persönlich habe es eigentlich gerne ruhig, wie die meisten Leute. Eigentlich wollen die Leute in Ruhe gelassen werden – werden sie aber nicht. Hier brechen alte Diskurse auf, dreißig Jahre nach der Wende. Viele Bürgerrechtler fragen sich, wofür sie überhaupt damals aufgestanden sind, wenn der gleiche Spuk jetzt wiederkommt.
Würden Sie denn sagen, daß es einen qualitativen Unterschied gibt zu dem, was Sie aus DDR-Zeiten kennen? Im Turm
beschreiben sie sehr detailliert eine Nische, in die man sich mit Literatur und Musik zurückziehen konnte. Diese Nische
scheint es heute in dieser Form nicht mehr zu geben.
TELLKAMP: Das hat aber auch andere Gründe. Damals hatten viele Leute einfach viel Zeit, da dauerte der Arbeitstag sechs oder acht Stunden.
Meine Eltern und mein Onkel, die haben um 16 Uhr immer Deutschlandfunk gehört, dann kam danach der Onkel in Pantoffeln rüber und fragte, ob man dieses oder jenes gehört habe.
Da gab es diesen Journalisten aus Bautzen in »Deutschlandfunk-Hintergrund«. Der hatte in der DDR gesessen, ein Pflichtprogramm für jeden. Solschenizyns Archipel Gulag zirkulierte, wurde abgeschrieben. Oder man fuhr auf die Buchmesse, um Bücher zu klauen und sie dann am Bahnhof im Schließfach zu verstecken.
Sie beschreiben noch eine richtige Lust und Energie, sich am kulturellen Austausch zu beteiligen. Wenn man heute sieht, wie
alles zunehmend gleichgültig behandelt wird, könnte man in dieser Hinsicht fast nostalgisch werden gegenüber einer Zeit,
die man selbst nicht erlebt hat.
TELLKAMP: Das kommt aber wieder. Da müssen Sie nur mal hier nach Dresden ins Kulturhaus Loschwitz gehen. Da kommen mittlerweile sogar Leute aus Westdeutschland. Eine ähnliche Stimmung wie ’89.
Sicherlich kennen Sie auch andere zeitgenössische Schriftsteller. Gibt es denn im Literaturbetrieb auch Bewegung?
TELLKAMP: Naja, alle Schriftsteller sind Individualisten. Natürlich sind da bekannte Namen wie Botho Strauß oder Martin Mosebach zu nennen.
Aber es gibt auch viele junge Leute, die tatsächlich schreiben können.
TELLKAMP: Klar, die gibt es. Ich schätze aber beispielsweise auch Jenny Erpenbeck sehr, obwohl sie in der Flüchtlingsfrage mit Sicherheit anderer Meinung ist als ich. Auch das, was Günter Grass politisch abgesondert hat, strotzte nicht gerade
von Klugheit. Das hindert mich aber nicht daran zu erkennen, daß er mit der Blechtrommel ein geniales Buch geschrieben hat.
Diese Trennschärfe im Urteilsvermögen scheint allerdings aus der Mode gekommen.
TELLKAMP: So ist es, aber man darf sich von solchen Tendenzen nicht vereinnahmen lassen. Dennoch gibt es natürlich auch einige, die unter wirtschaftlichen Zwängen leiden. Auch wie sich das Verlagswesen entwickelt, bleibt abzuwarten.
Der Bekenntniszwang wird größer.
Wie sagt Klonovsky: »Die Demokratie endet, wo ein Bekenntnis zu ihr gefordert wird.«
TELLKAMP: Absolut.
Wenn Sie drei Personen nennen müßten, die Sie am nachhaltigsten beeinflußt haben, welche wären das? Ganz gleich, ob Lyriker,
Romanciers oder andere.
TELLKAMP: Benn ist schonmal gesetzt, klar. Sicherlich auch Friederike Mayröcker, die ist völlig frei. Und dann vielleicht noch Heimito von Doderer, Thomas Mann, Proust und Julien Gracq, das wäre so eine Vätergalerie. Ich habe immer ein Problem mit Konservatismus, wenn es um das Vordergründige geht, um das, was man sofort erkennen kann. Bei Michael Triegel
oder Martin Mosebach zum Beispiel, da finde ich wenig Verwandtes. Wenn das Konservatismus ist, bin ich nicht konservativ.
Es gibt einen Unterschied zwischen Kunst und bildungsbürgerlichen Turnübungen, wie Günter Maschke sagen würde. Zur
Kunst gehört immer noch etwas ganz Anderes.
TELLKAMP: Für mein Verständnis ist es schon so, daß man mit ewigen Prinzipien die Gegenwart erfaßt, so daß sie erkennbar bleibt und aber trotzdem das Grundsätzliche, das Überzeitliche durchschimmert. Trotzdem liegt deine Aufgabe
in der eigenen Zeit.
Suchen Sie aktuell eine neue Form für Ihren Stoff?
TELLKAMP: Die Frage ist immer, wie man mit Zeit umgeht und Zeitlichkeit. Unsere Gegenwart ist für mich eine Zeit, die durchschossen ist von Residuen. Das war vermutlich zu jeder Zeit so, aber vielleicht bemerken wir das heute stärker durch die Verfügbarkeit dieser Residuen.
Das heißt: Was wir als Gegenwart definieren, ist durchsplittert von Vergangenheitsrelikten. Wie stellst du dann eine Gegenwart dar, die einerseits technisch eine ist und gleichzeitig drumherum aus einer Landschaft von Überbleibseln besteht?
Ist es dann gestattet, reliktuös zu schreiben? Ist es statthaft, über Punker wie Jean Paul zu schreiben? Ist das modern? Wo ist der Punkt bei Jean Paul? Mich interessiert nur, wie ich diese Fragen und Probleme in den Griff kriege, alles andere
ist für mich nachrangig. Ich habe dabei keinerlei Angst vor politischen Konventionen, egal ob ich Indymedia lese oder TUMULT. Das ist die Ruchlosigkeit des Arztes.
Das nehmen wir uns auch ohne Medizinstudium heraus. Wenn Sie allerdings vorgeben, kein Konservativer zu sein und zugleich in ihrem Essaywerk bedauern, daß keiner mehr Amadeus Webersinke kenne …
TELLKAMP: …klar, das ist Konservatismus. Ja, konservieren, aber in welcher Form? Sie können die bewährten Mittel zum Konservieren nehmen oder lassen sich etwas anderes einfallen – und genau da fängt ja der Avantgardismus an: Wie konserviere ich? Aber das tun wir ja alle, das ist für mich das Paradoxe an der Diskussion. Welcher Künstler, welcher Autor ist denn nicht konservativ? Wovon leben wir denn, wenn nicht von Erinnerungen, von der Kindheit, der Jugend? Wer schreibt, konserviert.
Ohnehin müßte man in der politischen Diskussion zumindest für Westeuropa vielleicht »konservativ« durch »restaurativ«
ersetzen, weil es einfach nicht mehr so viel zu bewahren gibt. In Osteuropa reicht es einstweilen noch aus, konservativ zu sein. Andernorts ist die Substanz bereits zu sehr verbraucht, doch wo von neuem anknüpfen, ohne sich dabei in nationalrevolutionärer Romantik zu verlieren?
TELLKAMP: Ich sehe guten Grund zum Optimismus im Pessimismus. Je schlechter es einer Gesellschaft geistig und materiell geht, desto eher finden Rückbesinnungen statt und kommt der Kulturhunger zurück. Zu meiner Studienzeit habe ich danach gesucht, aber niemanden gefunden, mit dem man darüber hätte reden können. Ich war vollkommen isoliert. Heute gibt es ja schon einige Gegentendenzen, gerade hier in Dresden. Und doch wird dieses Tradieren letztlich immer eine Sache von Wenigen bleiben.