Denn: Wo normaler Unterricht ein Problem ist, da ist es digitaler erst recht. Im Klassenraum hängt alles an der Lehrerpersönlichkeit, mithin an ihrer im Wortsinn unmittelbaren Präsenz. Fehlt sie, läuft es schlechter und meistens gar nicht.
Dies als Vorbemerkung, weil vermeintliche Sachverständige bereits suggerieren, digitaler Unterricht wäre nicht nur gleichwertig, sondern, technisch nur richtig verstöpselt, sogar besser gestaltbar als der normale, der aber in sich schon eine hohe menschliche Qualifikation über alle Fachkompetenz hinaus verlangt.
Wir neigen dazu, Technik, zumal das Faszinosum der digitalen, nicht mehr nur als Werkzeug zu erkennen und rein praktisch zu nutzen, sondern sie zu fetischisieren. Sie wird verklärt und damit Kult. Apple hat das bis in die glatte Sterilästhetik seiner Geräte hinein exzellent „verkörpert“. Offenbar kennen nicht nur Künstler, sondern ebenso Ingenieure und Informatiker den Pygmalion-Effekt – ganz passenderweise, generieren sie doch in den Bann ziehende virtuelle (Ersatz-)Welten, in die man sich verliert, hingerissen und genarrt. Insbesondere Heranwachsende, mit den bekannten problematischen Folgen.
Nur kann Technik allein eben nichts, sondern umgekehrt muß weiterhin gelten: Wir können Technik. Wenn wir es denn können und wenn wir aus einer tragfähigen Idee heraus zielgerichtet arbeiten. Genau diese Grundlage soll aber für den Unterricht kaum mehr gelten, geht es dort allzu häufig nurmehr ums bloße Machen.
Man nennt das dann „Projekte“. Und man findet es „innovativ“. Weil „inhaltliche Relevanz“ und „redliches Arbeiten“ eben nicht so hip klingen. Aber der Begriff “Medien” klingt hip, nur sind die lediglich Mittler; sie vermitteln Inhalte und sind als solches nicht selbst Inhalt, sondern Mittel zum Zweck.
Grundsätzlich gilt: Nicht die Technik, nicht die Mittel, sondern der Lehrer hat zu führen; die Mittel ordnet er sich gemäß der Zielstellung zu. – Diese banale Selbstverständlichkeit der jahrtausendealten Bildungsgeschichte wollen linke und grüne Reformer zwar seit Jahrzehnten revidiert wissen, aber wo sie damit Erfolg haben, ist guter Unterricht nicht mehr möglich.
Allerdings kann nur führen, wer dazu vom persönlichen Wesen her geeignet ist: leidenschafts- und daher durchsetzungsfähig, zugewandt, sensuell hellwach, fachlich versiert, charismatisch, gleichzeitig aber ausgestattet mit Herzensbildung. Ob es ein Lehrer gut mit ihnen meint, dafür haben alle Schüler (und gerade die vermeintlich “schwächeren”) ein intuitiv sicheres Sensorium. Nur wenn dies der Fall ist, nur wenn sie sich angenommen wissen, vermag er die Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen zu binden.
Darüber hinaus ist zweierlei für eine erfolgreiche Vermittlung vorauszusetzen: Zum einen müssen Lehrer überhaupt einen kommunikativen Zustand herzustellen verstehen, zum anderen sollten sie plausibel machen können, warum das von ihnen Gebotene für die Schüler relevant sein sollte.
Erst wenn beides gewährleistet ist, Kommunikationsbereitschaft und innere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Unterrichtsgegenstand, kann ein Prozeß gelingen, der Schüler bildet und erzieht. Nötig sind diese Sicherstellungen schon deswegen, weil Lehrer und Schüler in der Schule pflichtgemäß zusammenkommen. Diese treffen aus Gründen der Schulpflicht im Klassenraum ein, jene erfüllen pflichtig einen Arbeitsvertrag.
Innerhalb eines solchen Nötigungszustandes ist Aufgeschlossenheit nicht einfach so vorauszusetzen oder zu erzwingen; sie muß vielmehr mit Geschick und Einfühlung erst hergestellt werden. Das ist nur über Unmittelbarkeit, also möglichst demaskiert, mithin über den persönlichen Ausdruck, gerade den nonverbalen, in Mimik und Körpersprache möglich.
Diese Eingangsvoraussetzungen sind über die für einen Fernunterricht benötigten technischen Medien viel schwieriger sicherzustellen, denn es fehlt die Unmittelbarkeit. Eine Unterrichtsstunde ist eine sehr sensible, geradezu intime Angelegenheit, in deren Verlauf viele Seelendinge mit virtuosem Geschick jongliert und balanciert werden müssen.
Dies geschieht heute gerade in der Ganztagsschule mehr denn je innerhalb eines Streßfeldes, das Schüler und Lehrer kirre macht: Es ist laut, Konflikte sind zu klären, Formalien abzuarbeiten, ständig besteht Gesprächsbedarf, dauernd gilt es zu selektieren, was nun wichtig ist und was warten muß. In der sogenannten Corona-Krise kommt das Exerzieren der verschiedenen Hygiene-Maßnahmen hinzu.
Distanzunterricht löst dieses Reizfeld zwar auf, setzt den Schüler aber zu Hause anderen Ablenkungen aus, die seine Konzentration ohne Gegenlenkung durch den Lehrer noch mehr erschweren, zumal der Schüler vor dem PC oder Tablet an einem nervösen Medium sitzt, das ihn ohnehin hippelig werden läßt. Heranwachsende laufen schon in ihrer Freizeit Gefahr, von den „Screens“ geradezu verschluckt zu werden. Dieses Risiko wächst mit digitalem Unterricht noch.
Die seit den Siebzigern in immer neuen Wellen über die Schulen hereinbrechenden linken Reformkampagnen waren grundsätzlich von der Tendenz, Inhalte zu reduzieren, also den Primat des Substantiellen durch jenen der Methode zu ersetzen. Die Marginalisierung des Inhaltlichen ging einher mit der Inflationierung der Bewertung und dem Verzicht auf Leistung.
Deren einstige Bedeutung nehmen nunmehr Nachteilsausgleiche, Förderbedarfe und ‑verträge ein. Nirgendwo gibt es außerhalb von Kliniken so viele Diagnosen und Diagnostiker wie in der Schule. Faulheilt, unangemessenes Benehmen und kognitive sowie sprachliche Limitierungen werden durchweg pathologisiert und einerseits euphemistisch, andererseits alarmierend mit pseudomedizinischen und ‑psychologischen Begriffen belegt.
So wird suggeriert, das Kind, das Elternhaus und letztlich auch die Schule könnten nichts daran ändern, es sei denn mit sonderpädagogischen und psychologischen Mitteln gemäß der Inklusion, dem neuen Heilsbegriff für herzustellende Gerechtigkeit in Gleichheit. Wer verhaltensgestört ist, benötigt in jedem zweiten Fall gar intensivpädagogische Hilfe, so der Verband Bildung und Erziehung.
Jede Unterrichtsvermittlung hätte, so die moderne pädagogische Überzeugung, unbedingt freud- und lustvoll zu geschehen, womit aber ignoriert wird, daß die eigentliche Freude erst dort beginnt, wo es anspruchsvoll wird, und daß nur das angestrengt erworbene Vermögen, etwas richtig gut zu können, stolz macht, echtes Interesse weckt und damit Lust auf mehr. Dies allerdings setzt die Grunderfahrung voraus, daß sich interessante Räume nur nach gründlicher Orientierung und mit tieferer Erkenntnis öffnen.
Aber ganz entgegen diesen ur-menschlichen Beweggründen degenerierten insbesondere die nichtgymnasialen Sekundarschulen zu einem unverbindlichen sozialpädagogisch grundiertem Unterhaltungsangebot. Der trügerisch eingängige Modebegriff der “Kompetenzen” vermittelte zudem die Illusion, man könne schon etwas, wenn man nur trendige Methoden und „Tools“ beherrschte. Methoden ohne Inhalte einzuüben, das, so der einstige Vorsitzende des Lehrerverbandes Josef Kraus, wäre jedoch wie ein Stricken ohne Wolle.
Weil der konventionelle Unterricht in Ermangelung elementarer Grundlagenbildung und klarer Systematik sowie in Vernachlässigung festigenden Übens und Wiederholens mittlerweile eines tragfähigen Fundamentes entbehrt, ist seine digitale Auslagerung um so schwieriger.
Wo lägen Alternativen? Lesen etwa könnten Schüler immer. Nur gibt es kaum mehr Lesebücher, weil die maßgebliche Bildungsforschung meint, man könne alles, auch Literatur, integral behandeln. Die Schulbuchverlage bieten daher für den Deutschunterricht kaum Lesebücher an. Aber es gibt noch Bibliotheken, die zu verwaisen drohen. Ferner: In den Mathematikbüchern, die immer noch fachdidaktisch beeindruckend geschickte Aufgabensammlungen bieten, wäre ohne PC selbständig weiterzuarbeiten und auch mal um Lösungen von komplizierteren „Sternchen“-Problemen zu ringen; nur bedarf es dazu enormer Selbstdisziplin. Wer auf normalem Kästchenpapier rechnet oder in einem Geometrieheft Grundkonstruktionen übt, alles nicht digital, sondern mit der Hand, qualifiziert sich wirklich. So wie der Wirklichkeit, dem tatsächlich Anzuschauenden, dem Basteln und Werkeln, dem Zeichnen, dem Künstlerischen, gerade jetzt der Vorzug zu geben ist.
Innerhalb des naturwissenschaftlichen Unterrichts ließen sich Herbarien erstellen, Skizzen anfertigen, Alltagsexperimente durchführen und protokollieren. Und zu all dem könnten Schüler ein Tagebuch schreiben, für das der Deutschunterricht durchaus eine Klassenarbeitsnote erteilen könnte. Gern mit der Maßgabe, daß es handschriftlich abzufassen sei. –
Simpel zum Schluß: Wer selbstreflektiert ist, was man von Schülern der Sekundarstufe erwarten darf, der trainiere sich, froh darüber, gerade nicht in einer Ganztagsschule interniert zu sein: Rauf aufs Fahrrad, raus zum Laufen, Ausdauer und und Kraft entwickeln, Natur und Landschaft durchqueren, Kontemplation bei Bewegung, während das Leben per Dekret mal wieder abgeschaltet wird. Das wäre soziale Distanzierung im Sinne eigener Entwicklung und Entfaltung. Mit Hölderlin: “Komm! ins Offene, Freund!”
Gracchus
Die Anforderungen, die Herr Bosselmann an Lehrer stellt, teile ich -als Ideale - wie viele dürften diesen realiter genügen? Es würde ja ausreichen, danach zu streben: Denn, wie's im Faust heisst, wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Was mich leider zu der Abschweifung veranlasst, wie's denn überhaupt mit Idealen aussieht. Sei's von Lehrern, Ärzten oder Anwälten? Oder Wissenschaftlern? Gibt's so etwas noch?
Ich kann mir Digital-Unterricht nicht wirklich vorstellen. Wie Bosselmann neige ich eher dazu, darin ein Verödungsform zu sehen. Genau aus den Gründen, die Bosselmann nennt. Parallele: Gerichtsverhandlungen per Video sind möglich, jedenfalls nach ZPO (wie das nach StPO ist?); bei vielen Gerichten happert's an der Ausstattung, und fast alle Richter haben mir gesagt, längere Termine mit Beweisaufnahme würden sie nur ungern damit machen.