3. Dezember 2020
Weihnachtsempfehlungen (2): Potsdam, Konservatismus, Kelch
Erik Lehnert / 9 Kommentare
Unsere drei Kategorien, Jahr für Jahr: gut, wahr, schön. Kositza machte den Auftakt, nun Lehnert, danach Kaiser, Sommerfeld, Wirzinger und Kubitschek.
Schönes -- Ludwig Sternaux: Potsdam. Ein Buch der Erinnerung, Nachwort von Klaus Bellin, Fotografien von Max Baur, Berlin: Die Mark Brandenburg 2020, 244 Seiten, 18 €
Wer wissen will, warum die Welt einmal zu uns aufgeschaut hat, sollte nach Potsdam fahren. Die Stadt hat in den letzten Jahrzehnten stellenweise wieder die Gestalt angenommen, für die sie einst gerühmt wurde. Fast alle preußischen Könige haben sich hier durch repräsentative Bauten verewigt, deren einzigartige Harmonie Potsdam zu einem Denkmal preußischen Geistes machten. Diese Pracht war auch nach der Abdankung des letzten Königs noch zu bewundern. Der Journalist und Potsdam-Verehrer hat Ludwig Sternaux hat sich in den frühen 1920er Jahren voller Melancholie auf den Weg gemacht, um das alte Potsdam zu erkunden, das dann im Zweiten Weltkrieg unterging. Sein Spaziergang durch die Straßen und die Geschichte liegt endlich in einer neuen Ausgabe vor, die durch die berühmten Aufnahmen von Max Baur kongenial ergänzt wird.
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Gutes -- Roger Scruton: Bekenntnisse eines Häretikers. Zwölf konservative Streifzüge, Lüdinghausen/Berlin: Manuscriptum 2019 (Edition Sonderwege), 238 Seiten, 26 €
Mit Roger Scruton, der Anfang des Jahres starb, hat die Rechte einen ihrer wichtigsten philosophischen Köpfe verloren. Das ist in Zeiten, in denen alles nach Sinngebung lechzt, ein existentielles Problem, dessen sich leider nur wenige bewußt sind. Glücklicherweise leben Philosophen, so sie sich nicht wie Sokrates auf das Gespräch beschränken, in ihren Büchern weiter. Das letzte Buch, das von Scruton in deutscher Übersetzung erschien, enthält zwölf Essays, die einen weiten Kreis konservativer Gedanken abschreiten: von der Architektur geht es über den Staat und die heikle Frage der Sterbehilfe bis zum alkoholischen Genuß und zur vogelmordenden Katze. Auf seinen Erkundungen folgt man dem Autor gern, weil er über den nötigen Humor verfügt, der einem auch die schlechten Erkenntnisse erträglich macht.
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Wahres -- Michail Prischwin: Der irdische Kelch. Das Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts, aus dem Russischen von Eveline Passet. Mit Nachworten von Eveline Passet und Ilma Rakusa, Berlin: Guggolz 2015, 171 S., 20 €
Prischwin (1873-1954) ist eine Entdeckung, die dem Leser eine Vielzahl von Einsichten beschert. Manch einer kennt ihn noch als Autor von Natur- und Tiergeschichten, mit denen er in der Stalinzeit erfolgreich war. Erst nach dem Ende des Kommunismus kam der eigentliche Prischwin zum Vorschein, ein glühender Antikommunist, der mit Tiergeschichten überlebte und heimlich Zeugnis von der Unmenschlichkeit des Menschheitsexperiments ablegte. Der irdische Kelch, das ist Russland im zweiten Jahr der bolschewistischen Revolution: Terror, Hunger, Absurditäten kennzeichnen das Leben der Landbevölkerung. Rund um ein dürftiges dörfliches „Museum des Gutslebens“ beschreibt Prischwin galgenhumorig die Verwerfungen des Kommunismus, die in eine Art Endzeit münden. Klar, daß das Buch zu Lebzeiten nicht erscheinen konnte.
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Kommentare (9)
Maiordomus
Kompliment für erlesene Auswahl. Da meine Adresse bekannt ist und ich mit dem elektronischen Transport Mühe habe, mögen auch als Anregung für andere die Titel 2 und 3, Scruton und Prischwin, als bestellt gelten.
anatol broder
danke für die empfehlungen.
leider durften infantile zeitgenossen beim wiederaufbau von potsdam mitreden. beispielsweise hat man an der fassade der nikolaikirche (schinkel, 1830) ihren namen in comic sans ausgeführt. das hätte max baur nicht gefallen.
was scruton zum alkoholischen genuß schreibt, würde mich schon interessieren. vielleicht können lehnert und kubitschek am ende des nächsten gemeinsamen videos darauf eingehen.
prischwins buch ist pure lyrik. ich lese das im original, stellenweise laut wie zwölf stühle (ilf und petrow, 1928).
Volksdeutscher
"Erst nach dem Ende des Kommunismus kam der eigentliche Prischwin zum Vorschein, ein glühender Antikommunist, der mit Tiergeschichten überlebte und heimlich Zeugnis von der Unmenschlichkeit des Menschheitsexperiments ablegte."
Ein ihm im Geiste nahverwandter Schriftsteller dürfte Michail Michailowitsch Soschtschenko gewesen sein. Wie er in seinen Erzählungen das Leben der Russen im kommunistischen System darstellt, ist russischer Humor vom Besten.
Maiordomus
@Soschtschenkos Satiren waren schon ab den Fünfzigerjahren deutsch zu lesen, so das prächtige Bändchen "Schlaf schneller, Genosse!". Für mich die erste Schilderung des Alltags in der damaligen Sowjetunion.
Solution
Schön, daß hier Prischwin aus der Versenkung geholt wird. Kann wirklich empfohlen werden.
Überwiegend in der Zwischenkriegszeit sind außerhalb recht viele Bücher über den Alltag in der Sowjetunion erschienen.
Kaum jemand kennt beispielsweise noch die Bücher von Natascha Gorjanowa, P. N. Krasnow, Alexandra Rachmanowa oder gar das Buch "Der verratene Sozialismus" von Karl I. Albrecht.
Einsiedler
@Solution: Das Buch von Karl Albrecht "Der verratene Sozialismus" fand ich letztlich auf einem Flohmarkt (mit Bibliotheksstempel eines Stalags)
Ansonsten vielen Dank für die Empfehlungen. Prischwin kannte ich noch nicht.
H. M. Richter
Wennschon dennschon: Wer Prischwins Kelch bestellt, möge seine unlängst ebenfalls bei Guggolz erschienenen Tagebücher lohnenswerterweise gleich mitbestellen:
https://www.guggolz-verlag.de/tagebuecher-1917-1920
***
Soschtschenko wurde in der DDR, wo er durchaus breit verlegt wurde, übrigens vor allem wichtig mit seinem - arg an Pawlow angelehnten - 1980 bei Reclam in Leipzig erschienenen, kongenial von Marga Erb übersetzten Buch "Schlüssel des Glücks". Auf diese Weise konnte wenigstens indirekt Bekanntschaft geschlossen werden mit der Lehre Freuds, von dem dort bis dato überhaupt noch nichts erschienen war.
"Ich schreibe mein Buch", schrieb Soschtschenko seinerzeit, "im Hinblick auf die Gegenwart. Ich setze es einer Bombe gleich, der es bestimmt ist, im Lager des Gegners zu explodieren, um die schmählichen Ideen zu vernichten, die überall ausgestreut sind."
KlausD.
@H. M. Richter 4. Dezember 2020 14:03
"Soschtschenko ... in der DDR"
Dann darf aber auch "Die Kuh im Propeller" nicht fehlen. Hier vorgetragen von Manfred Krug 1965 in der Reihe Lyrik - Jazz - Prosa und auf Schallplatte veröffentlicht.
https://www.youtube.com/watch?v=YYIPSkfWPX0
"Agitiert nur, agitiert nur ... es entwickelt sich ... die Bauern lächelten sehr finster" ...
Maiordomus
Prischwin habe ich nicht nur bestellt, sondern mit höchster Beeindruckung bereits gelesen. Kommentierte diesen Eindruck dann in der Serie 5 der Weihnachtsempfehlung von Frau W. und auch anlässlich der mit vielen Kommentaren versehenen grossen Oppositionsdebatte von und um Götz Kubitschek ab 15. Dezember. Prischwin hat dazu fürwahr etwas zu sagen! Er hatte es schwerer zeitlebens als mutmasslich fast alle von uns.