Wir hätten es in der Tat, schrieb ich damals, mit einem neuen und geradezu exemplarischen Schulz-von-Thunschen Diffamierungsquadrat zu tun. Ein genauso tiefer, genauso beziehungszerstörender Graben wie der zwischen „rechts“ und „links“ sei in unglaublicher Geschwindigkeit zwischen “Coronagläubigen“ und „Coronaleugnern“ entstanden.
Im Februarheft der Sezession wird ein Artikel von mir erscheinen, in dem ich an einer Stelle sage:
Die Lagerspaltung immer wieder zu unterlaufen und zu probieren, noch mit den vernageltsten „Zeugen Coronas“ oder den verängstigtsten Impfgegnern ohne Polemik ins Gespräch zu kommen, schult die eigene Menschenkenntnis. Wer sich in dieser sozialen Praxis übt, verstellt dem Teile-und-herrsche-Prinzip den Weg.
Gräben scheinen den Weg fast unpassierbar zu machen. Denn daß die Übung gegen das Divide-et-impera der Meinungseliten etwas ausrichten kann, sagt nicht, daß sie nicht so gut wie unmöglich ist.
Erster Graben – „Das muß jeder selber wissen“: Die meisten Leute waren es bis vor einem Jahr gewohnt, diese argumentative Prämisse des Liberalismus regelmäßig in Anschlag zu bringen. Wo es Meinungsverschiedenheiten, Differenzen in Lebensführung und Entscheidungsfindung gab, kam in einem Gespräch nach einer Weile garantiert von einem der Teilnehmer der Satz „Das muß jeder selber wissen“.
Jemand lädt dieser Tage mehrere Freunde ein. Einer entschuldigt sich mehr oder minder gewunden: Er hat Angst vor Ansteckung. Darauf „Das muß jeder selber wissen“ zu sagen und auf den Gast zu verzichten, liegt nahe. Man wird ihn kaum durch gutes Zureden schnell mal entängstigen können. Hier aber ergibt sich ein sozialpsychologisches Problem.
Dem Satz liegt zugrunde, daß autonome Subjekte freie Entscheidungen getroffen haben. Sie ihnen mit Verweis auf ideologische Verstrickung („Der hat nur Angst, weil er an das Mainstreamnarrativ glaubt“) abzusprechen, ignoriert ihren Status als autonome Subjekte, den man selbst sehr wohl für sich in Anspruch nehmen möchte (man würde sich wohl nicht damit zufriedengeben, wenn der andere einem mit gleicher Münze heimzahlte: „Der hat nur keine Angst, weil er in einer verschwörungstheoretischen Parallelwelt lebt, in der es keine Pandemie gibt“). Man würde sich bisweilen sogar wünschen, daß die eigenen Entscheidungen (z.B. gegen Test oder Impfung) ebenfalls im Schutze der liberalen Prämisse „Das muß jeder selber wissen“ stünden.
Zwei weitere Beispiele mögen das Problem noch deutlicher machen: Ein Mann wird von seiner Lebensgefährtin mit Besuchsverbot belegt, da er zuvor eine Gruppe Freunde getroffen hat. Eine junge Frau muß sich auf Geheiß ihrer Herkunftsfamilie entscheiden, entweder ihren Freund weiterhin zu treffen oder ihre Eltern und Geschwister. Sogleich empört auszurufen, wie irrational und erpresserisch diese Entscheidungen seien, übertüncht das zugrundeliegende Problem. Denn auch hier müßte man gemäß der liberalen Prämisse zugestehen, daß das nun einmal „jeder selber wissen muß“ und die entsprechenden Angehörigen haben nun einmal Angst.
Meine Schlußfolgerung wäre: Die Prämisse ist von vornherein geheuchelt gewesen. Nur in Zeiten banaler Meinungsdifferenzen, die kaum mehr als Lifestyle-Unterschiede markiert haben, ließ sie sich unproblematisch vertreten. Wenn es drauf ankommt, wird an der gutgemeinten Gesprächsbeendigungsphrase erst das moralische Dilemma erkennbar. Denn keiner der beteiligten Erwachsenen ist hier autonomes Subjekt seiner Entscheidungen. Zuzubilligen, daß der fernbleibende Gast, die abweisende Geliebte oder die hin- und hergerissene Frau irgendetwas „selber entscheiden“ würden, verkennt die tiefsitzende zwischenmenschliche Verstrickung.
Also: Erst dann, wenn die Phrase im Gespräch kommt, oder man selbst den Drang verspürt, damit auf den Lippen das Gespräch achselzuckend aufzugeben, fängt die soziale Übung an. Sie fängt dann an, wenn die liberale Gesellschaft, um mit Manfred Kleine-Hartlage zu sprechen, an ein Ende gekommen ist.
Zweiter Graben – Höre von einem Bekannten, er lasse sich selbstverständlich impfen. Wo fange ich an zu argumentieren? Vor einiger Zeit, als in Österreich der nationale Kindergarten mit der „Corona-Ampel“ konditioniert wurde (inzwischen steht sie eh überall dauerhaft auf „rot“), erfand ich mein eigenes Ampelsystem der Kommunikation mit Andersdenkenden. Es handelt sich um eine Abstufung vorausgesetzter Überzeugungen und daraus abgeleiteter Zugeständnisse, die man dem Gesprächspartner machen muß.
Es ist also durchaus sinnvoll, ein Gespräch mit dem oben erwähnten Bekannten nicht mit “dunkelroten” Triggerphrasen zu beginnen, etwa daß Viren noch niemals nachgewiesen worden seien und die Impfung die Biowaffe wäre. In meinem Ampelsystem befindet er sich im „grünen“ Mainstreambereich.
Ich muß ihm also, wenn ich überhaupt Gehör finden will, zugestehen, daß es eine gesundheitliche Gefahr gibt, daß Impfungen vernünftig sein können, in diesem Falle jedoch diese und jene Bedenken berechtigt sind hinsichtlich Entwicklungsgeschwindigkeit, Nebenwirkungen und, ja, auch politischem Druck auf „Verweigerer“. Auch die Gefahr der Zweiklassengesellschaft gehört noch in den grünen Bereich.
Im „gelben“ Bereich gibt es eine grundlegende Skepsis gegenüber den Maßnahmen der Regierung, aber durchaus Bereitschaft, Maske zu tragen, sich testen zu lassen oder „Verschwörungstheorien“ von der Hand zu weisen. Für Leute im „roten Bereich“ ist es fast unmöglich geworden, mit Andersdenkenden überhaupt noch zu reden – sie können und wollen sich nicht verbiegen und müssen denen „die Wahrheit sagen“. Mit ihnen zu reden fällt mir leicht, rasch stellt sich aber eine gewisse Schalheit der Kommunikation ein: Es fehlt der Widerpart, die Blase ist allzu spürbar.
Das Ampelsystem als Gesprächsleitfaden taugt für die Grobsortierung, damit die Übung nicht von vornherein mißlingt. In der Praxis gibt es da nämlich den Elefanten. Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt hat mit dieser Metapher beschrieben, daß der Mensch nur als dirigierender Reiter auf einem großen Gefühls-Tier sitzt, d.h. jede vernünftige Begründung grundsätzlich nach dem Bauchgefühl kommt.
Oder mit dem konservativen Philosophen Alasdair McIntyre ausgedrückt „daß in moralischen Argumenten das offene Geltendmachen von Grundsätzen nur als Maske für das Ausdrücken persönlicher Vorlieben dient“.
Rationale Argumentation ist in der Corona- noch unmöglicher geworden als in der Flüchtlings-Krise. Das aber – so meine These – ist nicht etwa ein Grund, mehr Vernunft und „Aufklärung“ in die Debatten bringen zu wollen, sondern ein Grund anzunehmen, daß sie zumindest im Kern außerhalb der Zugänglichkeit gegenüber Argumenten angesiedelt sind.
Argumente sind, je höher der soziale Druck steigt, nur die Maske für Gefühle. Ihr Beweiswert kann hoch sein, ihr Überzeugungswert dagegen gleich Null. Man kann mithin die Leute nicht aus ihren jeweiligen Ampelfarben herausdiskutieren, sondern sollte diese nur als Hilfe für die soziale Übung ansehen.
Dritter Graben – Debatten, wie sie (so oder so ähnlich) mit Leuten wie meinem impffreudigen Bekannten ablaufen, weisen auf noch einen weiteren Gesprächsgraben hin:
A:“Ich lasse mich natürlich impfen.“
B:“Dann gehörst du also im Gegensatz zu mir in Zukunft zu den Privilegierten.“
A:“Du kannst dich doch auch impfen lassen!?“
B:“Es geht darum, daß ich im Falle der Verweigerung nicht mit Repressionen rechnen muß, das nennt man Meinungsfreiheit.“
A:“Durch Impfverweigerung gefährdest du aber die Mehrheit, deshalb darf es darüber keine ‘Meinungsfreiheit’ geben.“
B:“Dann ist die Demokratie hiermit beendet.“
A:“Dadurch wird sie überhaupt erst gerettet.“
B:“Was du da rettest, verdient den Namen Demokratie nicht, das ist Diktatur.“
A:“Ja, ja, schwurbel du ruhig weiter von ‘Diktatur’ …“
Wie im Falle der „Muß-jeder-selber-wissen“-Phrase zeigt sich auch hier: Nur in unbelasteten Meinungsdiskursen funktioniert „unsere Demokratie“. Sobald sie der Belastungsprobe realer Differenzen, die mehr als nur gesprächsweise verfochtene Meinungen darstellen, ausgesetzt ist, erweist sie sich als nicht tragfähig. Bereits in der Migrationsfrage stießen wir auf diese Schwäche: Kritiker landeten blitzschnell außerhalb des Verfassungsbogens auf dem Haufen der „Demokratiefeinde“.
Durch eine Meinung, also einen Sprechakt, eine Substanz (in beiden Fällen den „Volkskörper“: die bunte Bevölkerung auf deutschem Boden im einen Falle, die kollektive Gesundheit derselben im zweiten Falle) zu „gefährden“, stellt einen Kategoriensprung dar. Es geht nicht darum, ob er logisch zulässig ist, sondern was durch ihn erkennbar wird: „Meinungsfreiheit“ hat es seit jeher nur in der geschützten Werkstätte des „herrschaftsfreien Diskurses“ gegeben, also in einer Illusionsblase.
Friedemann Schulz von Thun hat 1981 den genialen Begriff „Beziehungsohr“ geprägt. Die soziale Übung hat es mit Körpern zu tun, mit Gefühlen und Verstrickung – affektives Theater. Sie findet zumeist in Gesprächen statt, aber Argumente sind nur der Rollentext. Fällt der Vorhang des „autonomen Subjekts“, der „rationalen Argumente“ und der „freien Meinung“, betritt man den Raum, in dem die realen Gräben verlaufen.
Hier beginnt das Kunststück, das Beziehungsohr der Leute zu erreichen, die Argumente fein auszutarieren, das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, sich keiner Illusion mehr hinzugeben, die bisher die „demokratische“ Scheinkommunikation am Laufen gehalten hat.
Waldgaenger aus Schwaben
Wir sollten in der Tat das Leitbild vom mündigen Bürger nicht vorschnell aufgeben.
Wer sich impfen lässt, geht ein Risiko ein, wer nicht auch. Der mündige Bürger muss beide Risiken kennen und sich dann unter Betrachtung seiner eigenen Riskiopräferenzen und Lebensumstände entscheiden. Konkret rate ich zwanzigjährigen, gesunden Menschen von der Impfung ab, weil das Risiko langfristiger Nebenwirkungen das Risiko einer schwer oder tödlich verlaufenden COVID-19 Infektion übersteigt. Das Argument, andere durch Impfungen zu schützen ist recht wackelig, weil Geimpfte eventuell weiter ansteckend sind und von zwanzigjährigen, gesunden Menschen nicht verlangt werden kann, zu Gunsten impfunwilliger und alter Menschen ein Risiko einzugehen.
Bei Achtzigjährigen ist es eher andersrum. Kurzfristige Nebenwirkungen sind aufgrund der massenhaften und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, problemlos verlaufenen Impfungen sehr selten zu erwarten.
Wer irgendwo dazwischen ist, muss halt intensiv abwägen und dann entscheiden. Ja. das muss jeder selbst wissen. Und das sage ich so auch jedem, der mich frägt: "Lässt Du Dich impfen"
Die Antwort B:“Dann gehörst du also im Gegensatz zu mir in Zukunft zu den Privilegierten.“ ist konfrontativ und nicht geeignet Gräben zu überbrücken.