Die samstägliche wurde von Kollege Wessels bereits gewürdigt, ich kommentierte dazu ein paar Worte. Der Veranstaltung am Montag gegenübergestellt schält sich etwas Grundsätzliches heraus: das Geltendmachen der Lebenswelt gegen das System.
Den Titel meines Blogeintrags habe ich als bewußte Anspielung auf die Habermas-Luhmann-Kontroverse gewählt: Damals hielt Habermas es für geboten, der Unmenschlichkeit der luhmannschen Systemrationalität, in der “Menschen” nun einmal theoriebedingt nicht vorkommen, die “Lebenswelt” der Kommunikation unter vorsortierten Diskursbedingungen entgegenzuhalten.
Inzwischen ist Gras über die Sache gewachsen, und Edmund Husserls alter Lebensweltbegriff (aus Die Krisis der europäischen Wissenschaften, 1936), den dieser gegen die Herrschaft der Wissenschaft setzte, harrt einer Neuentdeckung. Hier kann nur angedeutet werden, was er meint:
In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schließt sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.
Wir haben es, so mein Fazit aus den zwei Demos, deren – zumeist winzige, bisweilen freakige – Vorgänger ich seit dem Sommer immer wieder besuchte, damit zu tun, daß die Leute ihre Lebenswelt gegen das System reklamieren.
Zuerst die große Demo, 20.0000 Teilnehmer waren wohl realistisch geschätzt. In meinem Kommentar notierte ich:
Das schwerste Verbrechen berichtete der KURIER: “Es wurde getanzt, Demonstranten umarmten sich und begrüßten einander mit Küssen”. Aufgeräumte Atmosphäre, Friede, Freude, “Maskenlos durch die Stadt”-Geträller. Die Mischung aus Goa-Rasta-Szene und Trachtenjanker-Lederhose-Österreichflagge, dazwischen unsereiner.
Die Polizei versah pflichtmäßig ihren Dienst, was beispielsweise positiv vermerkt worden ist. Die mir bereits vertraute permanente Invention per Megaphon, Maskenpflicht und Abstände einzuhalten, unterblieb, wohl wegen der unüberschaubaren Größe und Undurchführbarkeit etwaiger Sanktionen.
Ich begrüßte auch eine Menge Leute – von früher. Denn die Waldorfschul-Szene ist genauso gespalten wie der Rest der Gesellschaft, diejenigen mit deutlichem Bekenntnis gegen die gegenwärtige Politik können gedanklich auf ihren Steiner zurückgreifen, wie kürzlich sogar in der Compact erwähnt wurde. Selbst mein damals erbittertster Gegner aus dem Schulvorstand verfügt nun über einen kritischen Telegram-Kanal.
Das Gemeinsame der Rastabezopften und der Trachtenträger, dazwischen eine Frau mit Calimero-Plakat (Lichtmesz ist fragen gegangen, was der wohl symbolisieren sollte – “Fragen’S Ihren Papa. Der Calimero war klein und tapfer, alle wollten ihn fertigmachen, aber er ließ sich niemals unterkriegen…” war die Antwort), und der unzähligen Durchschnittsbürger (viele mit überdurchschnittlich pfiffig dreinblickenden Augen) läßt sich auf den Nenner des Verlusts der “Lebenswelt” bringen.
Die Lebenswelt ist ihnen innerhalb eines Jahres abspenstig gemacht worden, und zwar in allen wesentlichen Bereichen: Gesten, Familie, Schule, Beruf, Kunst, Gesundheit, Religion. In die entstandenen Lücken drängte sich das System. Das Private ist auf eine Weise politisch geworden, die die alten Linken so nicht gemeint, aber mit ermöglicht haben. Die Lebenswelt umfaßt sowohl die großen Sinnfragen, die bei Husserl „für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind“, als auch die elementarsten alltäglichen Existenzbedingungen, die man die anthropologischen Konstanten nennt.
In dieser Lage der Zerstörung der Lebenswelt sind Demonstrationen aus der Perspektive des Volkes eine naheliegende Ausdrucksform, zumal, wenn ihm alle sonstigen sozialen Formationen verboten werden (das ist historisch völlig neu). Unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen kommen da plötzlich lauter Leute zusammen, die leise ahnen, daß sie, auch wenn alle tüchtig mitmachen, nicht den Great Reset stoppen oder zumindest Kanzler Kurz wegschaffen können, sondern einzig und allein: einander haben. Dieses Gefühl, in einer von einer Sekte übernommenen Welt das Fünkchen Restvernunft und Zusammengehörigkeit zu repräsentieren, vereinigt sie.
(Nachtrag: Das US-Narrativ läuft auch hierzulande, den klammheimlich geplanten “Parlamentssturm” medial zu lancieren, war nur eine Frage von Tagen.)
Die zweite Demo am Montag war völlig anders, aber auch hier: nichts als gefährdete “Lebenswelt”. Angemeldet hatte sie Alexander Tschugguel, Leiter einer trational-katholischen Laienorganisation. Entsprechend war das Publikum “rechter” und bürgerlicher. Hier kamen am frühen Abend bei einem Grad über Null etwa 350 Leute zusammen am Ballhausplatz, direkt beim Bundeskanzleramt. Die Reden: wesentlich ernster, wirklich argumentierend und sehr konkret (Massenstimmung zu erzeugen war unnötig).
Zwei Beispiele von dieser Demo können den Gegensatz System vs. Lebenswelt veranschaulichen.
(Nachtrag 20.1.: Martin Sellner hat alles mitgefilmt, hier kann man die Reden hören).
Es sollte eine Wirtin aus Linz sprechen, die es gewagt hatte, ihr Café trotz “Lockdown” zu öffnen (“Sonst verhungern ich und mein Kind”; etwaige “Coronahilfen” in Höhe des Vorjahresmonats standen ihr nicht zu, weil sie ihr Lokal erst neu eröffnet hatte). Alle 45 Gäste wurden angezeigt, ihr drohen 30.000 Euro Strafe. Sie sagte sofort zu, als sie um einen Redebeitrag gebeten wurde. Dann aber zog sie zurück – ihr war von den zuständigen Behörden bedeutet worden, wenn sie so weitermache, wäre das Jugendamt womöglich zu informieren.
Vor Ort gab es eine engere Betreuungsrelation Polizei/Teilnehmer, sodaß Masken kontrolliert wurden (die meisten Leute waren sowieso in ihre Schals eingemummelt). Hinter mir spielte sich die Szene ab, daß ein Mann keine Maske trug. Er wurde aufgefordert, seine Personalien aufnehmen und sein Attest ablichten zu lassen (keine gute Idee, dann wären sie seinem Arzt rasch auf der Spur), damit er auf dem Verfahrenswege dagegen rückwirkend klagen könne, daß er hier und jetzt zum Maskentragen gezwungen worden sei.
Ich erlaubte mir, mich einzumischen und freundlich zu fragen, ob er wohl heimgehen dürfe (nein, die Amtshandlung sei eröffnet worden), und ob er jetzt hier also von seinem Attest praktisch keinen Gebrauch machen könne (nein, aber er könne ja den Rechtsweg beschreiten). Der Mann zündete sich erstmal eine Zigarette an (eine von der Marke “Beziehungsohr” hätte ihm längeren Aufschub ermöglicht, wer diesen Schmäh verstehen will, höre hier rein). Dann wurde er unter Protest abgeführt.
Später griff die Polizei (wohl auf Anordnung von oben, ein gewisses Maß an Anzeigen einzubringen) noch nach dem offiziellen Ende gezielt Teilnehmer heraus und setzte ihnen auf die nämliche Weise zu.
Der Veranstalter riet den Zuhörern in seiner Rede zu lebensweltlichem Widerstand angesichts des übermächtigen Systems. Erstens: die Familienbande zu festigen, sich aktiv bei seinen Angehörigen zu melden, sich nicht isolieren zu lassen. Zweitens: die Freunde, die nach diesem vergangenen Jahr noch immer mit uns befreundet sein wollen, zu treffen, zu halten, zu pflegen. Drittens: das Beten zu lernen. Denn ohne göttlichen Beistand ist vieles von dem, was wir derzeit erleben müssen, kaum auszuhalten.
Der Gegensatz spannt sich zwischen zwei äußeren Extrempolen auf: das einzelne Individuum in seiner Existenz auf der einen Seite – das globalistische System auf der anderen Seite. Ein vortragender Jurist erläuterte, daß die Abwehrrechte des Individuums gegen den Staat konzipiert gewesen seien, gegen überstaatliche Institutionen wie WHO, BigTech, IPCC oder NGOs versagten sie.
Die derzeit laufenden Demonstrationen sind also viel weniger Revolutionsvehikel, dazu müßten sie von oben anzettelt und nach bekanntem Schema systematisch durchgeführt werden, als sie Existenzäußerungen von Individuen sind. Jeder dieser in Wien ins Freie getretenen Leute ist dem System abhandengekommen. Und zwar in den seltensten Fällen durch Fakten und Argumente, sondern durch dessen Einschnitte in das eigene Leben.
Es steht uns meines Erachtens nicht zu, darüber zu fachsimpeln, wie man diese Abhandengekommenen politisch einplanen könnte. Das nämlich riecht für sie viel zu sehr nach “System”. Einstweilen genügt es, daß sie einander haben, um den dunklen Winter zu überstehen.
Ein gebuertiger Hesse
Der letzte Absatz ist ein Zeugnis echten Anstands. Sehr schön, wenn Manieren es sind, die das Tun anleiten.