Sie kann sich, so entnahm man Klaus-Dieter Frankenbergers Kommentar »Sehnsucht nach Le Pen« aus der FAZ (v. 23.2.2021),
im Glanz guter Umfragewerte sonnen.
Das ist, bei Umfragen selbsterklärend, keine Exklusiverkenntnis der Frankfurter gewesen. Auch die Neue Zürcher Zeitung (v. 2.3.2021) nimmt sich nun dem französischen Rechtsruck-in-spe an.
Thomas Hanke kann dort titeln:
Marin Le Pen bringt sich in Position
Zwar sei die nächste Präsidentschaftswahl noch mehr als ein Jahr entfernt:
Doch die Vorentscheidung wird schon jetzt getroffen. Wie gut das Land aus der Corona-Pandemie kommt, wie hart die Krise die Wirtschaft noch trifft, ob Enttäuschung oder Zufriedenheit über das Regierungshandeln vorherrscht, ob die Bürger sich in der Demokratie noch wiederfinden: All das ebnet den Kandidaten den Weg – oder wirft sie aus der Bahn. Das gilt für Präsident Emmanuel Macron wie für seine Herausforderin Marine Le Pen vom rechten Rassemblement national (RN), dem früheren Front national.
Bereits jetzt kann man als Reporter so dichotomisch berichten, weil Le Pen tatsächlich, den diversen sondages nach, als die einzige ernstzunehmende Rivalin des amtierenden Präsidenten Macron gelten muß.
Daher dürfte sich im Mai 2022 das Duell Macron–Le Pen wiederholen:
2017 hat Macron es mit 66 zu 34 Prozent gewonnen. Nach jetzigem Stand ist es ungewiss, wer im kommenden Jahr gewinnen würde: In einer Umfrage liegt Le Pen nur vier Punkte hinter ihm. Allerdings ist ihr ein Sieg auch nicht sicher. 2017 hatte sie sich in der Debatte mit Macron lächerlich gemacht. Noch eine Niederlage würde sie politisch nicht überleben. Für Le Pen ist es die letzte Chance.
Eine solche will genutzt sein, besser: muß genutzt sein. Denn die innerparteilichen und pikanterweise auch innerfamiliären Konkurrenten sind, für den Fall der Fälle (also: das Scheitern Marine Le Pens), durchaus vorbereitet:
Le Pens Nichte Marion Maréchal-Le Pen hält sich bereit, um ihre Tante abzulösen: Die 31-Jährige steht für einen weniger sozialen, wirtschaftlich liberaleren, aber schärfer nationalistischen Kurs und will die extreme Rechte mit Teilen der Bürgerlichen zusammenführen.
Hanke trifft es mit dieser Beschreibung trotz des Journalistenjargons einigermaßen:
Während Marine Le Pen stärker solidarisch-patriotische Akzente setzt, aber in Fragen des Islam etwa »moderatere« Töne anschlägt (sie warnt davor, sich in eine falsche Frontstellung »Westen vs. Muslime« drängen zu lassen, weil andere Konfliktlinien gewichtiger seien) und Neokonservativen wie auch ihrem Antipoden Macron vorwirft, ebenjene andere Konfliktlinien, darunter das weit über den Islam hinausreichende Problem der Überfremdung, zu verschleiern, ist die ambitionierte Marion Maréchal-Le Pen bereit, die Fokussierung statt dessen auf Islamisierung und die Bewahrung westlicher Freiheiten zu legen, um bei den wirtschaftsliberalen Konservativen der Partei Républicains punkten zu können.
Es handelt sich also um zwei gegenläufige Parteistrategien des RN, die zumindest in ihren Grundzügen an die deutsche Situation erinnern: Migrationskritische Volkspartei bei dezidiert sozialpatriotischer Grundtendenz (Marine Le Pen) oder forsche islamkritische Bürgerformation bei dem Versuch einer Anschlußfähigkeit an Christlich-Konservative des ehemaligen Sarkozy-Lagers (Marion Maréchal-Le Pen)?
Gegen letzteres Vorhaben spricht gar nicht so sehr, daß sich auch der Amtsinhaber Macron derzeit bisweilen als Vorkämpfer wider Islamismus und Fundamentalismus inszeniert, sondern vielmehr, daß einer der bekanntesten islamkritischen Autoren Frankreichs selbst zu den Présidentielles antreten wird: Éric Zemmour. Wer also eine Konzentration auf das Thema »Islam«, Laizität und Freiheitsrechte favorisiert, hat damit das originäre Aushängeschild entsprechender Positionen direkt selbst zur Auswahl.
Es wäre indes falsch, aus dem moderaten Konflikt zwischen den beiden Le Pens einen Generationenkonflikt zu schließen. Auch die 52jährige Marine Le Pen kann unter jungen Franzosen an Sympathiewerten zulegen:
Ein Drittel der Jungwähler zwischen 18 und 34 Jahren wollen ihr ihre Stimme geben.
Die wachsenden Umfragewerte spornen Le Pen an, die Abkehr vom Mehrheitswahlrecht (ähnlich dem britischen) und die Zuwendung zum Verhältniswahlrecht (ähnlich dem deutschen) zu fordern.
Ich glaube sehr stark an das Verhältniswahlrecht,
wird Le Pen von der NZZ zitiert, das schaffe Stabilität. Und dem Rassemblement würde es eben mehr Gewicht in der Assemblée nationale verschaffen:
Ihre Partei hat am meisten zu gewinnen und würde wohl Dutzende von zusätzlichen Abgeordneten in die Nationalversammlung entsenden.
Macron hat dagegen alles zu verlieren. Und Hanke fragt dementsprechend:
Womit kann Macron, dem Gelbwesten, Streiks und Pandemie so zugesetzt haben, heute noch die Menschen mobilisieren? Keine einzige Region, so die Prognosen, wird Macrons Partei bei den Regionalwahlen im Juni allein gewinnen.
Regionalwahlen im Juni, vorgemerkt für eine frühsommerliche »Sammelstelle«.
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Achtungserfolge des Rassemblement National in der Variante Marine Le Pens wären Erfolge einer Partei, die man, bei allem realpolitischen Pragmatismus und inhaltlichen Reibungsverlusten in der Praxis, als Weltanschauungspartei klassifizieren könnte (eine selbstbewußte Verortung, die viele AfD-Akteure scheuen wie der Teufel das Weihwasser). Das Revival des RN wäre somit auch weltanschaulicher respektive »ideologischer« Natur.
Doch nicht nur in Frankreich kehrt ideenverbundene Politik zurück in die Sphäre des Parlamentspolitischen. Folgt man dem schweizerischen Slawisten Ulrich M. Schmid, so kann bereits jetzt »Die Rückkehr der Ideologien« im Osten Europas verbucht werden. So ist jedenfalls sein Meinungsbeitrag in der NZZ v. 1.3.2021 überschrieben.
Der in St. Gallen lehrende Schmid lehnt es ab, bei den osteuropäischen Rechtskonservativen weiter lediglich von »Populisten« zu sprechen, die sich recht volatil auf die Bedürfnisse ihrer Wähler einstellen und dabei Kursänderungen einplanen.
Mittlerweile zeigt sich in der Herrschaft der vermeintlichen Populisten die Beharrungskraft konservativer Ideologien.
Worin erblickt Schmid eine solche Beharrungskraft? Ein Beispiel:
In Polen gefährdet die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) den sozialen Frieden, weil sie ihre ultrakonservative Haltung in der Abtreibungsfrage um jeden Preis durchsetzen will.
Solcherlei ideologische Wertungen muß man aushalten können, wenngleich es absurd ist, Lebensschutz und Kinderschutz zum einen als »ultrakonservative« Meinung und zum anderen diese als bedrohlich für den »sozialen Frieden« zu erklären; da gäbe es, auch in Polen, handfestere, materiellere Themen sozialer Spaltung.
Doch Schmid hält sich nicht damit auf, sondern springt einige Kilometer weiter gen Osten, nach Rußland. Dort sitzt mit Wladimir Putin ein Herrscher fest im Sattel, der sich stark an Samuel Huntingtons Lehren orientieren würde:
Der Einfluss von Huntington lässt sich deutlich etwa in der Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2000 nachweisen. Dort ist die Rede von «kulturellen Unterschieden» zwischen den christlichen Kirchen. Die russische Orthodoxie zeichne sich durch Patriotismus aus und müsse die nationale Kultur bewahren.
O deus, kulturelle Unterschiede zwischen christlichen Kirchen! Patriotismus! Bewahrung nationaler Kultur! – UN-Friedenstruppen, Herr Schmid?
Zumindest der erste Schritt der Delegitimation aus westlicher Sicht ist damit getan. Schmidt will nachweisen, wie finster Putins Herrschaft ist:
Die Legitimation der Regierung beruht im eigenen Verständnis nicht in erster Linie auf dem Resultat von demokratischen Wahlen. Der Kreml versteht sich als Hüter bestimmter zivilisatorischer Werte, die nicht zur Disposition stehen. In der Strategie zur nationalen Sicherheit von 2015 werden als solche Werte etwa der Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, die Familie und der Dienst am Vaterland genannt.
Abgesehen davon, daß auch in Rußland, wie in Polen, wohl markantere Probleme vorliegen dürften, stößt sich der Westler Schmid hier an einer Selbstverständlichkeit, die die Ostler noch als eine solche begreifen:
Der moderne Staat zehrt von identitären und kulturellen (hier inkludiert: religiösen) Voraussetzungen, die er selbst nicht generieren kann, sondern die sowohl ihm, als Organisation und Entität, als auch dem Wesen des Landes, als überdauernde Schicksalsgemeinschaft, zugleich vorausgehen und zugrundeliegen. Vielleicht sollte Schmidt daher nicht Huntington hervorzaubern, sondern dessen Schüler, Freund und Kollegen Francis Fukuyama (Porträt in der 100. Sezession!) konsultieren.
Denn dieser kam über die Jahre zu der (im Osten Europas ohnehin zirkulierenden) Erkenntnis, daß ein »inklusives Gefühl der nationalen Identität wesentlich (ist), wenn man eine erfolgreiche, moderne politische Ordnung aufrechterhalten will«, in der Menschen intuitiv ähnliche Verhaltensmuster und Normen befolgen. Konsequent verweist Fukuyama daher auf die vertrauensbildende Funktion nationaler, kultureller Identität. Der breite »Vertrauensradius« werde durch sie erst geschaffen und ebendieses Vertrauen wirke als »Schmiermittel, das sowohl wirtschaftlichen Austausch als auch politische Teilhabe erleichtert«.
Doch Schmid geht es wohl stärker um Delegitimation des Anderen als um die kritische Erforschung seiner eigenen Prämissen. Und so wird Nawalny aus dem Hut gezaubert. Doch just hier hapert es mit dem Vertrauen:
In einer neuen Studie des unabhängigen Lewada-Instituts geben nur gerade 5 Prozent der Befragten an, Nawalny zu vertrauen.
Also schnell zurück nach Polen, mag sich Ulrich M. Schmid gedacht haben, und bemüht erneut die Abtreibungsfrage:
Weshalb beschädigt die führende politische Kraft im Land ihre Popularität nachhaltig, nur um in einer Einzelfrage ohne gesellschaftspolitische Dringlichkeit eine extreme und nicht mehrheitsfähige Position durchzusetzen?
Nun ist Lebensschutz keine »extreme«, sondern eine in konservativen Weltansichten überaus naheliegende Angelegenheit, keine Nebensächlichkeit, die man in parlamentarischen Debatten klären könnte, sondern eine zentrale Frage des jeweiligen Gesellschafts- und Gemeinschaftsbildes. Das heißt: Lebensschutz ist für genuine Konservative (damit sind keine christdemokratischen Charaktermasken gemeint) nichts, was man für ein, zwei Prozentpunkte in Wahlumfragen opfert.
Langsam dämmert dies auch Ulrich M. Schmid:
Letztlich geht es bei der Abtreibungsdiskussion für die Regierungspartei nicht um die Aushandlung einer politischen Position, sondern um die Durchsetzung einer höheren Wahrheit.
Damit hat man es bekanntlich »im Westen« nicht mehr so – außer es geht um die Grundprinzipien (links)liberaler Ideologie, einer Ideologie, die den Menschen nicht mehr als Ideologie erscheint, sondern in Fleisch und Blut überging, weshalb man dann von der »Rückkehr der Ideologien« raunen kann, wenn grundsätzlich Illiberales – ob nun in Polen, Ungarn oder Rußland – postuliert und gelebt wird, das, um bei den genannten Beispielen zu bleiben, seine Begründung nicht realpolitisch tagesaktuell, sondern kulturell überzeitlich findet.
Aufschlußreich, setzt Schmidt seinen Ostfeldzug fort, sei
etwa die Position des Philosophen Marek Cichocki, eines offiziellen Beraters des polnischen Präsidenten. Seine Essays sind kürzlich unter dem Titel «Nord und Süd» auch auf Deutsch erschienen.
Schmid mißfallen die darin enthaltenen Kernaspekte offenkundig, widersprechen sie doch westlichen Glaubenslehren:
Der Hauptvektor der polnischen Politik bestehe nicht in individueller Freiheit, sondern in der Moral. Letztlich bedeutet diese Position, dass der einzelne Bürger nicht so handeln darf, wie er will, sondern das «Gute» tun muss. Deshalb lautet das wichtigste Schlagwort der konservativen Agenda in Polen «Der Wechsel zum Guten».
Nun kennt man diese moralpolitische Aufladung der gesellschaftlichen Sphäre in Westeuropa ausschließlich mit diametral entgegensetzten Parametern – ist es das, was Schmid so verwirrt? Nicht nur, denn mit dem polnischen Präsidentenberater steht es noch schlimmer:
Cichocki gehört zu den wichtigsten polnischen Anhängern der politischen Theologie, wie sie von Carl Schmitt ausgearbeitet wurde. Cichocki hat über Schmitt promoviert sowie zahlreiche Werke von Schmitt ins Polnische übersetzt und herausgegeben. Für Cichocki – und mittelbar für die Regierungspartei – ist Schmitts Insistieren auf der dezisionistischen Natur des römischen Katholizismus als «politischer Form» attraktiv.
Schmitts Geschichtsphilosophie sei
handlungsbestimmend für die polnische Führung,
was offenbar ein Merkmal der aktuellen politischen Lage darstellt.
Ob China, Mathias Brodkorb oder nun Polen – Carl Schmitt trendet. Für Schmid ist dies natürlich kein Grund zur Freude:
Schmitt führte den Begriff des «Katechon» in seine historischen Betrachtungen ein. Im Neuen Testament taucht der «Katechon» als «Aufhalter» der immer drohenden Zerstörung einer politischen Ordnung auf. (…) Heute übernimmt Jaroslaw Kaczynski selbst diese Rolle und versucht, die heilige polnische Gesellschaftsordnung vor der drohenden Auflösung in liberale Beliebigkeit zu schützen.
Man kann bei dieser Herkulesaufgabe nur viel Erfolg wünschen (– ungeachtet allfälliger Kritik an Kaczynski, seiner PiS-Partei und gewissen Axiomen des polnischen Rechtskonservatismus).
– –
Ulrich M. Schmid wäre nicht politisch korrekt up to date, wenn er nicht das Hufeisen in Stellung brächte und auch nach links austeilt (sofern man Weißrußlands Staatsführer Alexander Lukaschenko noch als »links« einstufen mag):
Im Amt des Präsidenten, dessen Ausübung Lukaschenko nur sich selbst zutraut, manifestiert sich das leninistische Prinzip des «demokratischen Zentralismus»: Dem Volk, das sich noch nicht auf der gleichen Bewusstseinsstufe wie der Präsident befindet, dürfen nur vorbereitete politische Optionen zur Auswahl unterbreitet werden. Andernfalls gerät das gesamte ideologische Projekt des weissrussischen Staates ins Wanken.
Ich bin wahrlich kein Freund der im Regelfall peinlichen Vergleiche von Merkel mit Honecker, CDU/CSU mit SED, der EU mit der UdSSR und dergleichen – aber manifestiert sich nicht ausgerechnet in der BRD unter der Corona-Glocke dieses Schmidsche Diktum, wonach ein »Volk, das sich noch nicht auf der gleichen Bewusstseinsstufe« wie die Kanzlerin befindet, »nur vorbereitete politische Optionen zur Auswahl unterbreitet werden«? Und war es nicht just diese von oben suggerierte Alternativlosigkeit, zu deren Beendigung auch das Projekt AfD angetreten ist?
Wer sich, jenseits dieser politjournalistischen Ebene, tatsächlich mit dem schwierigen Fall Weißrußland (Belarus) beschäftigen möchte, dem sei die (nach wie vor aktuelle) Ausgabe 4–2020 der »Politischen Vierteljahreszeitschrift« GegenStandpunkt (GSP) empfohlen, die in den größeren Bahnhofsbuchhandlungen problemlos verfügbar sein sollte, bis sie am 17. März durch das Folgeheft (1–2021) ersetzt wird.
Gewiß: Die dogmatisch-elitären Marxisten um Peter Decker, dessen Vorträge mit dem markant mittelfränkischen Zungenschlag einige Nachsicht des Zuhörers erfordern, zählen üblicherweise nicht zu den Sachverhalte vorsichtig abwägenden und Widersprüche austarierenden Akteuren. Eher tritt einem regelmäßig ein apodiktischer Wahrheitsanspruch entgegen, der als Zwitter aus Polemik und Wissenschaft funktioniert und ein Grund (unter vielen weiteren Gründen) für jene Isolation ist, der sich GSPler seit der Gründung ihres Organs 1992 innerhalb der radikalen Linken ausgesetzt sehen – bis heute.
Die Ursprünge dieser Isolation liegen freilich bereits in den Zeiten der 1970er Jahre, als der GSP noch nicht gegründet war und seine älteren Mitstreiter in der Marxistischen Gruppe (MG) aktiv gewesen sind. 1993 kulminierte dies im legendären Auftritt des Decker-Vorgängers Karl Held, der Wolfgang Pohrt und andere »antideutsche Dichter« beim konkret-Kongreß in einem emotionalen Auftritt attackierte (später, in Teil 2, auch den DKP-Marxisten Georg Fülberth und Hermann L. Gremliza, der Held ruhigstellen will, daß mit dem »linken Faschistengeschwätze jetzt mal Schluß sein müsse«; zu den weiteren Referenten des Kongresses zählten u. a. Sahra Wagenknecht und Jürgen Elsässer).
Aber zurück zu Weißrußland: Der Beitrag über die »Krise in Weißrussland« bietet auf 43 Textseiten (traditionell ohne jede Bebilderung, ohne Autorenangabe) eine erschöpfende Einführung in Geschichte und Gegenwart jenes Landes, das in bundesdeutschen Medien immer wieder als »letzte Diktatur Europas« gehandelt wird.
Der GegenStandpunkt, um Vermutungen vorzubeugen, bezieht keine Stellung für oder gegen Lukaschenko, für oder gegen die weißrussische Art der Politikgestaltung. Vielmehr wird der Charakter der Minsker Staatsräson herausgearbeitet, aktuelle sozioökonomische Transformationen beleuchtet und die Stellung westeuropäischer Politiken hierzu – im typischen Sound – verballhornt.
Dabei wird, und dies dürfte Ulrich M. Schmid et al. die Buchzeitschrift zuklappen lassen, auch gewürdigt, was Lukaschenko bei aller Kritik an seiner Herrschaft bewerkstelligte:
Was er geschafft hat, ist eine Rettung von Staat und Nation, bei der Teile des realsozialistischen Erbes weiterleben, einerseits in den Politikmethoden und der Rhetorik des Chefs und andererseits in einem Konglomerat aus Staatsindustrie und Privateigentum, das sich weniger aus einer irgendwie systemtheoretisch begründeten Entscheidung als aus dem staatlichen Bedarf zur Bewältigung des umfassenden Notstands ergeben hat, den die kapitalistische Umwälzung der 90er Jahre gestiftet hatte. Was in gewissen Hinsichten ziemlich gut gelungen ist, wie sogar westliche Instanzen vermerken.
Immerhin müsse auch die UNO in ihrem Ranking eingestehen, daß der Lebensstandard in Weißrußland zu den höchsten in den früheren GUS-Staaten zählt – wobei der GegenStandpunkt freilich unterschlägt, daß es sich bei denen, die hinter Minsk liegen, um ausnahmslos nichteuropäische Staaten handelt, was durchaus eine Rolle bei der Bewertung spielen müßte, sofern man rein materielle Gegebenheiten als primären Indikator für Wohl und Wehe einer Nation anerkennt.
Interessant ist die ausführliche Schilderung der »dreigeteilten Wirtschaft«: staatliche Großbetriebe, (eher private) Unternehmen der Petrochemie, westliche Investoren in Sonderwirtschaftszonen (darunter der weltweit bekannte »Hightech-Park« PWT, aber auch Siemens, Bosch, Bayer usf.) nehmen die größte Rolle ein; unterhalb dieser Dreiteilung findet man kleinere Zulieferbetriebe und Selbständige, die durchaus der Konkurrenz einer Marktwirtschaft unterworfen werden.
Besonders beim PWT wird deutlich, daß bisweilen falsche Vorstellungen über Weißrußland zirkulieren, wenn man voreilig pauschal von einer Armutskammer Europas ausgeht: Denn die FAZ vermeldete am 28.8.2020, daß dort Angestellte ein Nettomonatsgehalt von 2000 bis 3000 Euro beziehen – ein Vielfaches des Durchschnittslohns im Land, was Mißgunst und Ansprüche anderer Branchen nährte und nährt.
Neben diesen und vielen weiteren harten Fakten zur sehr speziellen Ökonomie Weißrußlands wird auch die geopolitische Situation ausführlich untersucht. Als
Puffer zwischen den vorgeschobenen Positionen der NATO und der russischen Westgrenze
nimmt das Land eine Sonderrolle in Europa ein – vor allem aber für den großen Bruder Rußland. Denn dieser will sein strategisches Vorfeld sichern. Der Kreml nutze, so die GSP-Autoren,
die elementare ökonomische Abhängigkeit des Partners; er verschafft sich materielle Mittel der Kontrolle über Weißrussland, um es sich politisch und militärisch verlässlich zuzuordnen.
Man will seitens Moskau also einen
souveränen Staat unter die eigene Konfrontation mit dem Westen subsumieren und ihm die strategischen Interessen des Kremls aufzwingen.
Das gelingt mal besser, mal schlechter; Lukaschenkos Spielraum erweitert sich bisweilen, wird aber zuletzt durch die westlich gestützte Opposition mit ihrem Geflecht aus NGOs und der daraus resultierenden internationalen Fokussierung auf das weißrussische Problem zuletzt stark eingeschränkt.
Mit Recht verweisen die Autoren auf den »Rechtstitel auf Umsturz«, den sich die neue »Zivilgesellschaft« selbst verleihen will, indem sie alle Register der Moralpolitik zieht, wenn
Frauen, junge und sehr alte, barfuß, in weißer Kleidung und mit Blumen in der Hand verprügelt werden,
und die Kameras der NGOs und ihrer westlichen Helfer – der »staatszersetzende Unterbau«, so die Autoren – bereits vorher, die Entwicklungen vorwegnehmend, auf die Szene gerichtet waren. (Was der GSP nicht beleuchtet: Daß zum Prügeln zwei Seiten benötigt werden: die, die das martialische Eingreifen aus Farbrevolutionsallüren begierig verwerten, aber eben auch die, die zuschlagen.)
Erwähnenswert – neben vielem weiteren – ist im übrigen auch die Coronapolitik der Weißrussen. Ein Lockdown stand von Anfang an nicht zur Debatte:
Aber mit seinen Appellen an die Durchhaltemoral, mit Kraftsprüchen à la Bolsonaro treibt der oberste Chef den Unmut im Volk auf die Spitze. Da nützt es ihm wenig, dass Weißrussland immerhin über ein halbwegs intaktes Gesundheitswesen verfügt, das in krassem Unterschied z.B. zur Ukraine nicht kaputtreformiert worden ist und die Pandemie besser im Griff hat.
Bedauerlicherweise geht man nicht auf die Folgen dieser Corona bewußt ignorierenden Politik ein. Da selbst Fußball und Eishockey weiter vor Publikum stattfinden und zu keinem Zeitpunkt Schulen, Kindergärten, gastronomische Einrichtungen oder auch der Einzelhandel geschlossen wurde, wäre die Untersuchung der Folgen diese Radikalposition verdienstvoll gewesen.
So aber bleibt die tatsächliche Situation zwischen Brest, Minsk und Gomel unbekannt: Die Staatsmedien haben ein Interesse an einer Manipulation der Infizierten- und Todeszahlen nach unten, die westlichen Regime-Change-orientierten Medien nach oben. So wird die tatsächliche Rechnung, die zu zahlen Lukaschenkos Volk gezwungen ist, wie bei so vielem, was Corona betrifft, erst in den Folgejahren sichtbar werden.
Bis dahin lohnt sich die Lektüre der instruktiven GegenStandpunkt-Analyse – trotz immanenter ideologischer Wertungen – allemal.
Laurenz
@BK (1)
"Ich bin wahrlich kein Freund der im Regelfall peinlichen Vergleiche von Merkel mit Honecker, CDU/CSU mit SED, der EU mit der UdSSR und dergleichen –"
Natürlich sind die üblichen Vergleiche, auch die der NomenKlatura von "Rechts" mit Nationalsozialisten unlauter oder zumindest so eben nicht vergleichbar. Der Unterschied liegt in den politischen Absichten. Wir Rechten wollen auf keinen Fall weder einen sozialistischen, noch noch nationalsozialistischen Staat. Bei Merkel ist aber die politische Motivation/Absicht und das Ergebnis dasselbe, wie bei Honecker, nur die Mittel dazwischen haben sich verändert. Und die CDU ist, wie die SED auch, zu einer Parteitags-Klatscher-Partei verkommen, falls sie je mal was anderes war.
Und mit der Entsachlichung der Debatte von oben, wird der Ton eben rauer, unsachlicher, einfach schon deswegen, um das politische "Gleichgewicht" verbal zu halten.