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Dieses Buch birgt ein Feuerwerk an Irritationen für Menschen liberaler, transatlantischer und menschenrechtsuniversalistischer Provenienz.
Alles unter dem Himmel entfaltet eine Sprengwirkung indes im selben Maße für Chinaskeptiker aller Couleur.
Denn die Schrift Zhao Tingyangs (* 1961) stellt keine Meinungsäußerung innerhalb eines europäischen Lesern vertrauten Weltanschauungs- und Wertespektrums dar, sondern wartet mit fundamental anderen Parametern auf.
Dem Professor für Philosophie an der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften zu Peking, einer führenden staats- und parteinahen Bildungsinstitution der Volksrepublik, geht es um nicht weniger als die Inauguration eines weltweit gültigen Denkansatzes, den er aus der klassischen chinesischen Philosophie entleiht und für eine kommende Epoche zurüstet: Tianxia, sinngemäß: »Alles unter dem Himmel«.
Eine produktive Verknüpfung von »ganz Altem und ganz Neuem« nannte der europäische Denker Guillaume Faye »Archäofuturismus«. Zhao nennt es »kombinierte Synthese«. Dem in Chinas Staats- und Parteiführung eifrig rezipierten Forscher geht es um »das politische Ideal einer Weltordnung«, in der die »Inklusion der Welt« verwirklicht werden könne. Im schrittweise zu erreichenden Tianxia-System würden bewaffnete Konflikte innerhalb der Staatenwelt durch gemeinsame Prinzipien und Interessen aufgehoben werden.
Hierfür bedürfe es etwa der strengen Selbstverpflichtung auf (konfuzianische und andere) »Tugenden«, aber auch einer Abkehr von internationaler Politik, da sie als Politik zwischen den Staaten die Konkurrenz der Individuen auf nationaler Ebene reproduziere.
Tianxia bedeute hingegen die »Welt als Entität«, die mittels Koexistenz und Partnerschaft auf Basis von Vertrauen und gegenseitiger Verschränkung die Überführung vom Konflikt in die Kooperation vollziehe. Das historisch existierende und global zu aktualisierende Vorbild hierfür sieht Zhao in der Epoche der Zhou-Dynastie im Jahrtausend vor Christus verwirklicht, deren einstiges System der Verteilung von Rechten und Pflichten unter Herrschern, Beherrschten, Kronländern etc. er schildert.
Diese Kapitel fordern dem Leser einiges ab. Zum einen, weil Zhao selbst einräumen muß, daß vieles auf retrospektiven Annahmen, kritischer: Projektionen, beruht. So währte auch die Zhou-Epoche nicht ewig; ihr dezentrales »Systemdesign« erodierte trotz aller »Rationalität«.
Zhaos Erklärung: Das Tianxia-System war seiner Zeit voraus. Wenn er dann über China in theologischer Hinsicht schreibt, weckt das problematische Erinnerungen an jene heilsgeschichtliche Rolle, die sich die USA zuschreiben – was seinen Standpunkt nicht stärkt.
Zhaos Fundamentalkritik der Neuen Weltordnung samt Forderung, wonach das »gegenwärtige internationale Dominanzsystem« fallen müsse, erzeugt beim Rezensenten derweil keinen Dissens. Gleichwohl kommt erneut Argwohn auf, wenn Zhao die »Etablierung eines Weltsystems« einfordert, das auf »universaler Koexistenzialität« basiere. Nur: Wer setzt weltweit Ordnungsprinzipien durch? Wer sagt, daß die »Welt der Inklusion aller möglichen Welten« keine neuen Widersprüche hervorruft?
Gewiß: Die Analysen des globalen Imperialismus der USA, dessen Quintessenz die Vermählung von »globalisierter politischer Macht, globalisiertem Kapital sowie einem globalisierten Sprachmarkt« darstelle, ist wortgewaltig; die Denunziation der menschenrechtlich-universalistisch verschleierten Kriegshistorie stringent; die Wendung, wonach es den USA gelungen sei, »drei Rollen in sich zu vereinen: mitzuspielen, die Regeln festzusetzen und die Art des Spiels zu bestimmen«, pointiert.
Doch warum der »kompatible Universalismus« des Tianxia-Designs weniger Konflikte verursachen würde als der »unilaterale Universalismus« des Westens, leuchtet in der Beweisführung nicht vollends ein.
Herausragend sind die abschließenden Betrachtungen. Zhao untersucht, wie jeder Mensch komplexen digitalen Systemen unterworfen ist. Eine »Diktatur neuen Stils« als »paradoxes Produkt von Freiheit und Demokratie« entstehe, die durch eine »Publikatrie« als Herrschaft der veröffentlichten Meinung abgesichert werde:
Die Medien werden darüber entscheiden, welche Meinung willkommen ist, das Finanzkapital darüber, was als profitable Aktion anzusehen ist, die Hochtechnologie über all das, was in Zukunft möglich sein wird.
Diese »Dreieinigkeit von Kapital, Technologie und Dienstleistung« sei die neue »globale systemische Macht«, ihre Ideologie der (US-sozialisierte) »technokratische Idealismus«.
Aber wieso soll das Tianxia-System als eine »den Staaten übergeordnete Weltordnung« die »technologische Diktatur« verhindern? Daß Zhao Tingyang einräumen muß, daß sein Ideal schlechterdings »schwer realisierbar« sei, spricht für die Fähigkeit zur Selbstkritik.
Daß diese Idee aber »das Ende der Hegemonialsysteme« bedeuten würde, kann man kaum glauben. Eher würde dies die Ablösung der US-Hegemonie durch die Installation einer chinesischen bedeuten. Daß letztere mehr geistigen Tiefgang mit sich bringen würde, beweist vorliegende Schrift; daß für Europa die Eingliederung in das Tianxia-Systemdesign wohl Subordination verhieße, ebenso.
Gelesen haben sollte man das Buch trotz der Einwände: Es gehört zu den meinungsstärksten Büchern unter dem Himmel.
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Zhao Tingyang: Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), Berlin: Suhrkamp 2020. 266 S., 22 € – hier bestellen.
RMH
Danke! So sieht eine differenzierende Rezension aus.