Irgendwo inmitten von Nirgendwo

Im Gespräch mit David Goodhart -- PDF der Druckfassung aus Sezession 95/ April 2020

Der Lon­do­ner Publi­zist David Good­hart hat 2017 in sei­nem Buch Road to Some­whe­re eine inzwi­schen als kano­nisch gel­ten­de Unter­schei­dung zwi­schen den Any­whe­res (»Über­all-Men­schen«) und den Some­whe­res (»Irgend­wo-Men­schen«) getrof­fen, wel­che die neu­en Bruch­li­ni­en jen­seits der Rech­ten und Lin­ken her­vor­tre­ten läßt. In Deutsch­land hat Alex­an­der Gau­land die­se Begriff­lich­keit in die Debat­te ein­ge­führt, unter ande­rem in einem Vor­trag zur Win­ter­aka­de­mie 2019 des Insti­tuts für Staats­po­li­tik. Die­ser Vor­trag ist in Sezes­si­on 88 (The­men­heft »Volk«) abge­druckt und fand Ein­gang in Gau­lands kapla­ken-Bänd­chen (Nati­on, Popu­lis­mus, Nach­hal­tig­keit, Schnell­ro­da 2019). Anläß­lich der fran­zö­si­schen Aus­ga­be des Buchs von Good­hart (frz. Les deux clans. La nou­vel­le frac­tion mon­dia­le, Paris: Les Arè­nes 2019) wur­de im fran­zö­si­schen Maga­zin élé­ments ein Inter­view mit dem Autor ver­öf­fent­licht. Wir dru­cken es in der deut­schen Über­set­zung von Chris­ta Nit­sch ab.

ÉLÉMENTS: Sie kom­men zum Fazit, daß es einen kei­nes­wegs auf Groß­bri­tan­ni­en beschränk­ten Bruch zwi­schen den Any­whe­res und den Some­whe­res gibt, der durch sozio-öko­no­mi­sche und kul­tu­rel­le Fak­to­ren bedingt ist. Könn­ten Sie die Metho­de skiz­zie­ren, die Ihnen nicht nur erlaub­te, die­se Kate­go­rien zu defi­nie­ren, son­dern zudem auch den jewei­li­gen Anteil die­ser bei­den »Clans« in der eng­li­schen Gesell­schaft zu quantifizieren?

DAVID GOODHART: Die Metho­de ist nicht sehr kom­pli­ziert. Ich habe mich schlicht und ein­fach mit der Mei­nungs- und »Werte«-Forschung inten­siv aus­ein­an­der­ge­setzt, spe­zi­ell dem uner­setz­li­chen »Bri­tish Social Atti­tu­des Sur­vey« [eine seit 1983 durch­ge­führ­te jähr­li­che Umfra­ge, deren Ziel es ist, die Mei­nungs­ent­wick­lung der Bri­ten bezüg­lich einer gan­zen Rei­he sozia­ler The­men ein­zu­schät­zen – A.d.Ü.]. Ich ana­ly­sier­te die Stand­punk­te und Gesin­nun­gen der Befrag­ten, abhän­gig von ver­schie­de­nen sozia­len Kri­te­ri­en, ins­be­son­de­re aber vom Bil­dungs­ni­veau. Dabei wird deut­lich, daß 25 bis 30 Pro­zent der Bevöl­ke­rung eine weit­ge­hend libe­ra­le any­whe­re-Welt­sicht ver­tritt. Die­se ist gekenn­zeich­net durch den ein­deu­ti­gen Vor­zug, den man gesell­schaft­li­cher Öff­nung und indi­vi­du­el­ler Frei­heit gibt, durch eine wohl­wol­len­de Ein­stel­lung der Ein­wan­de­rung gegen­über und einen nur schwach ent­wi­ckel­ten Sinn für natio­na­le Zuge­hö­rig­keit. Unge­fähr die Hälf­te der Bri­ten hin­ge­gen ver­fügt im all­ge­mei­nen über ein nied­ri­ge­res Bil­dungs­ni­veau – die­se nen­ne ich nun Some­whe­res –, beharrt mit grö­ße­rem Nach­druck auf dem ver­trau­ten Cha­rak­ter von Her­kunfts­ort und Gemein­schaft und zieht die Sicher­heit der Frei­heit und Neu­ar­tig­keit vor. Natür­lich han­delt es sich hier um holz­schnitt­ar­ti­ge, etwas unschar­fe Welt­an­schau­ungs­ent­wür­fe, und es läßt sich über den jewei­li­gen Anteil der Bevöl­ke­rung, den ich der einen oder ande­ren Grup­pe zuord­ne, immer strei­ten. Auch muß einem klar sein, daß sich sowohl Any­whe­res als auch Some­whe­res in unzäh­li­ge Unter­ka­te­go­rien auf­split­tern. So fin­det man am äußers­ten Rand der Any­whe­res die wah­ren Bewoh­ner des »glo­ba­len Dor­fes«, die nur drei bis fünf Pro­zent der Bevöl­ke­rung aus­ma­chen. Und am äußers­ten Rand der Some­whe­res tum­meln sich die hart­ge­sot­te­nen Xeno­pho­ben, auch die­se unge­fähr fünf Pro­zent der Bevöl­ke­rung aus­ma­chend. Eine eben­falls wich­ti­ge Grup­pe – etwa ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung – teilt unge­fähr zu glei­chen Tei­len bei­de Welt­an­schau­un­gen: ich habe sie – ver­zei­hen sie mei­ne Phan­ta­sie­lo­sig­keit! – die Inbet­ween­ers (etwa »Dazwi­schen-Men­schen«) genannt.

Wie dem auch sei: Die Bri­ten, mit die­sen von mir geschaf­fe­nen Eti­ket­ten ver­se­hen, sind von der Gesell­schafts­ent­wick­lung objek­tiv betrof­fen und ver­or­ten sich selbst sub­jek­tiv und zum Spaß ent­we­der in der einen oder der ande­ren Grup­pe, wobei die meis­ten der indi­vi­du­el­len Exis­ten­zen viel zu idio­syn­kra­tisch und ein­zig­ar­tig sind, um paß­ge­nau der einen der bei­den Kate­go­rien zu ent­spre­chen. Nichts­des­to­we­ni­ger hilft uns die­se Eti­ket­tie­rung, eini­ge grund­le­gen­de Ten­den­zen zu ver­ste­hen, die heu­te in den west­li­chen Gesell­schaf­ten am Werk sind. Ich glau­be, daß die fun­da­men­ta­len Unter­schie­de zwi­schen den Any­whe­res und den Some­whe­res in ihren jewei­li­gen Ein­stel­lun­gen zu Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit und Wan­del zu suchen sind. Den Any­whe­res eig­net gewöhn­li­cher­wei­se das, was man eine »abso­lu­te Iden­ti­tät« zu nen­nen pflegt: Sie fußt auf ihrem schu­li­schen und pro­fes­sio­nel­len Erfolg, der sie wie­der­um dazu befä­higt, geschick­ter auf den Wogen der Moder­ni­tät zu segeln. Den Some­whe­res hin­ge­gen möch­te man eher eine »rela­ti­ve Iden­ti­tät« zuspre­chen, gegrün­det auf der Sta­bi­li­tät des Ortes und der Gemein­schaft. Des­halb wer­den die Iden­ti­tä­ten der Some­whe­res durch den gesell­schaft­li­chen Wan­del auch leich­ter erschüt­tert. Was man sich stän­dig ver­ge­gen­wär­ti­gen muß, ist die Tat­sa­che, daß bei­de Welt­zu­grif­fe ganz und gar ange­mes­sen und berech­tigt sind, zumin­dest in ihrer gemä­ßig­ten Form. Das Pro­blem beginnt dort, wo sie in man­chen Berei­chen des gesell­schaft­li­chen Lebens so hef­tig auf­ein­an­der­pral­len, daß die­ser Gegen­satz zur Ursa­che der aktu­el­len poli­ti­schen Insta­bi­li­tät wird.

ÉLÉMENTS: Was bleibt in die­ser neu­en Auf­stel­lung vom alten Gegen­satz zwi­schen Rechts und Links übrig?

DAVID GOODHART: Die Lin­ke und die Rech­te sind nicht ver­schwun­den, genau­so­we­nig wie der Klas­sen­kampf oder die Debat­ten über Umver­tei­lung oder den Ein­fluß des Staa­tes … Aber die­ser Gegen­satz hat rela­tiv gese­hen an Wich­tig­keit ver­lo­ren, und zwar aus zwei Grün­den: Zunächst weil jene ande­ren sozio­kul­tu­rel­len Fra­gen, die die Any­whe­res und Some­whe­res ent­zwei­en – Sicher­heit, Iden­ti­tät, Gren­zen, Immi­gra­ti­on, natio­na­le Leit­wer­te, der Rhyth­mus des Wan­dels etc. – heu­te einen zen­tra­len Platz in der Poli­tik ein­neh­men. Das liegt an der nach Ende des Kal­ten Krie­ges ein­set­zen­den und ste­tig grö­ßer wer­den­den Öff­nung der Gesell­schaf­ten sowohl in öko­no­mi­scher als auch gesell­schaft­li­cher Hin­sicht. Zwei­tens wur­den wir in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten Zeu­gen einer ziem­lich erstaun­li­chen Über­ein­stim­mung der Ansich­ten in öko­no­mi­schen Belan­gen. Dies gilt für Groß­bri­tan­ni­en, doch trifft es, den­ke ich, auch für die meis­ten ande­ren euro­päi­schen Län­der zu. Die Klas­sen­ge­gen­sät­ze sind etwas abge­stumpft. Die Arbei­ter­klas­se ist geschrumpft und weni­ger links ein­ge­stellt, die Mit­tel­schicht ist nicht mehr so sehr auf ihre Pri­vi­le­gi­en erpicht und sozia­ler Gerech­tig­keit gegen­über weni­ger abge­neigt, teil­wei­se des­halb, weil immer mehr Ange­hö­ri­ge der Mit­tel­schicht in der soge­nann­ten Care-Öko­no­mie beschäf­tigt sind: im Gesund­heits­we­sen, im Erzie­hungs­sys­tem … Nur weni­ge Per­so­nen der rech­ten Mit­te sind noch Anhän­ger des That­che­ris­mus. Cor­byns Nie­der­la­ge bei den letz­ten Wah­len rührt unter ande­rem daher, daß er die Kon­ser­va­ti­ven als wider­li­che »Dere­gu­la­to­ren« kari­kier­te, denen allein an der Zer­schla­gung des Gesund­heits­we­sens lie­gen soll. Die Tory-Par­tei begüns­tigt in Wirk­lich­keit eine sozia­le Markt­de­mo­kra­tie. Der Kon­ser­va­tis­mus, Ver­fech­ter eines schlan­ken Staa­tes und nied­ri­ger Steu­ern, ist in Euro­pa zu einer mar­gi­na­len poli­ti­schen Kraft gewor­den. Natür­lich sind die Kon­ser­va­ti­ven nicht sol­che Gleich­heits­fa­na­ti­ker wie die lin­ken Wäh­ler, doch tei­len vie­le von ihnen inzwi­schen die Über­zeu­gung, daß zu gro­ße Ungleich­hei­ten pro­ble­ma­tisch sind.

ÉLÉMENTS: Sie beschrei­ben die Ein­stel­lung gegen­über der Mas­sen­im­mi­gra­ti­on als jenen Fak­tor, der die brü­chig gewor­de­nen west­li­chen Gesell­schaf­ten am tiefs­ten spal­tet. In Groß­bri­tan­ni­en selbst han­delt es sich dabei wohl kaum um Ras­sis­mus, weil die Ableh­nung der Mas­sen­im­mi­gra­ti­on in ers­ter Linie der explo­si­ons­ar­ti­gen Zunah­me der Ein­wan­de­rer­strö­me euro­päi­scher Bevöl­ke­rungs­grup­pen gilt, die aus dem Osten des Kon­ti­nents kom­men. In wel­chem Maße ver­an­schau­li­chen die­se Ein­wan­de­rer­strö­me den Gra­ben zwi­schen »Über­all« und »Irgend­wo«?

DAVID GOODHART: Ras­sis­mus gibt es zwar nach wie vor in unse­ren Gesell­schaf­ten, aber weit weni­ger als in der Ver­gan­gen­heit. Dies rührt zum einen daher, daß wir uns gewöhnt haben, im All­tag Leu­ten unter­schied­li­cher eth­ni­scher Her­kunft zu begeg­nen, zum ande­ren aber lie­gen die Kolo­ni­al­zeit und die die­se beglei­ten­de Supre­ma­tis­mus­vor­stel­lung (White Supre­ma­cy) hin­ter uns. Im Brexit eine durch Ras­sis­mus oder Nost­al­gie für das Empire moti­vier­te Ent­schei­dung zu sehen, ist, dies sei en pas­sant ange­merkt, blü­hen­der Unsinn. Das Bri­ti­sche Welt­reich kam eher zufäl­lig zustan­de, wür­de ich sagen, und hat sich in den zwan­zig Jah­ren, die dem Zwei­ten Welt­krieg folg­ten, ohne gro­ße Nost­al­gie oder Wider­stand in Nichts auf­ge­löst. Zum Teil des­halb, weil wir im Gegen­satz zu Frank­reich nur weni­ge Sied­ler in den Gebie­ten des Empires hat­ten. Weni­ger als zehn Pro­zent der Bevöl­ke­rung Groß­bri­tan­ni­ens erach­tet es heu­te als not­wen­dig, daß einer ein Wei­ßer sein muß, um als »wasch­ech­ter« Bri­te zu gel­ten. Sie unter­strei­chen auch zurecht, daß sich die Auf­leh­nung gegen die Mas­sen­ein­wan­de­rung in den letz­ten Jah­ren gegen die ost­eu­ro­päi­schen Ein­wan­de­rer, also Wei­ße und Chris­ten, rich­tet. Über­dies gibt es einen viel grö­ße­ren Wider­stand gegen nicht qua­li­fi­zier­te als gegen qua­li­fi­zier­te Arbeits­mi­gra­ti­on, was wie­der­um ein Non­sens wäre, wenn die­ser Wider­stand einen ras­sis­ti­schen Beweg­grund hätte.

Vie­le Any­whe­res drü­cken ihren libe­ra­len poli­ti­schen Radi­ka­lis­mus in einem abs­trak­ten Enga­ge­ment für eine mög­lichst unein­ge­schränk­te Immi­gra­ti­on aus. Sie sind über­zeugt, daß »Diver­si­tät« auf jeden Fall etwas Erfreu­li­ches ist. Sie unter­hal­ten nur lose Ver­bin­dun­gen zur Grup­pe, wor­un­ter auch Nati­on und beson­de­re Orte fal­len. Sie nei­gen dazu, in der Gesell­schaft ein zufäl­lig ent­stan­de­nes Kon­glo­me­rat zu sehen und leug­nen alle Pro­ble­me, die mit der »Auf­nah­me­ka­pa­zi­tät« zusam­men­hän­gen. Die Some­whe­res machen direk­te­re, kon­kre­te­re Erfah­run­gen mit der Immi­gra­ti­on und sie lei­den unter ihren nega­ti­ven Fol­gen, wozu in ers­ter Linie der Wett­be­werb um die schrump­fen­den Res­sour­cen des Wohl­fahrts­staa­tes gehört. Sie ste­hen zu ihren stär­ke­ren Bin­dun­gen – ins­be­son­de­re an den Natio­nal­staat und an spe­zi­el­le Orte –, die ihnen durch eine zu rasan­te, zu mas­si­ve Ein­wan­de­rung geschwächt, ja gefähr­det scheinen.

ÉLÉMENTS: Sie haben schon öfter geschrie­ben, daß der als zu rasant emp­fun­de­ne Rhyth­mus des Wan­dels den Wider­stand der »Irgend­wo-Men­schen« aus­lö­se. Aber ist es nicht viel­mehr das durch den Wan­del ange­streb­te und allen bekann­te End­ziel, das die gro­ße Mehr­heit der Leu­te ablehnt?

DAVID GOODHART: Ja, der Wan­del in den moder­nen libe­ra­len Gesell­schaf­ten bewirk­te fast immer eine Abschwä­chung der Bin­dun­gen inner­halb der Gemein­schaft, ein Weg­bre­chen der Rah­men­struk­tu­ren und der Tra­di­tio­nen; er führ­te zu immer mehr Aus­zeich­nun­gen der »Intel­li­genz« und zu einer Abwer­tung der nicht qua­li­fi­zier­ten Beschäf­ti­gung. Inso­fern ist die Nost­al­gie all jener, die von die­sem durch die Any­whe­res ange­reg­ten Wan­del nicht pro­fi­tie­ren, ganz und gar gerechtfertigt.

ÉLÉMENTS: Sie unter­schei­den zwi­schen einem »anstän­di­gen« bezie­hungs­wei­se salon­fä­hi­gen Popu­lis­mus und einem unbe­rech­tig­ten bezie­hungs­wei­se geäch­te­ten Popu­lis­mus. Wel­ches sind Ihrer Mei­nung nach die Trenn­li­ni­en, die zwi­schen berech­tigt und unbe­rech­tigt ver­lau­fen? Wel­chem Block ord­nen Sie den fran­zö­si­schen Popu­lis­mus zu, der sich neu­er­dings um Mari­ne le Pens Ras­sem­blem­ent Natio­nal zu scha­ren scheint?

DAVID GOODHART: Die Popu­lis­ten, die ich die »salon­fä­hi­gen« nen­ne, haben im gro­ßen und gan­zen die in den letz­ten Jah­ren voll­zo­ge­ne Libe­ra­li­sie­rung der kul­tu­rel­len Ein­stel­lun­gen zu Ras­se, Geschlecht und Sexua­li­tät akzep­tiert. Das heißt aber noch lan­ge nicht, daß sie zu Libe­ra­len gewor­den sind. Das hin­dert sie auch nicht, an sol­che Din­ge zu glau­ben wie sta­bi­le Gemein­schaf­ten, gut bewach­te Gren­zen, den Vor­rang natio­na­ler vor uni­ver­sel­len Rech­ten, die Unduld­sam­keit gegen­über dem Ver­bre­chen … In mei­nen Augen sind die meis­ten popu­lis­ti­schen Par­tei­en – dazu gehört auch das Ras­sem­blem­ent Natio­nal – voll­kom­men salon­fä­hig. Ras­sis­mus ist eine der offen­sicht­li­chen Trenn­li­ni­en oder Gewalt­tä­tig­keit. Des­halb sind für mich gewalt­tä­ti­ge Par­tei­en, etwa die Gol­de­ne Mor­gen­däm­me­rung in Grie­chen­land, nicht legi­tim. Salon­fä­hi­ge Popu­lis­ten akzep­tie­ren die Idee der Gleich­heit aller Men­schen, selbst wenn sie nicht allen Men­schen gegen­über die glei­chen Ver­pflich­tun­gen emp­fin­den. Auch glau­be ich, daß wir etwas, was wir nur all­zu oft tun, in Zukunft ver­mei­den müs­sen: Die Links­ra­di­ka­len und die Rechts­ra­di­ka­len mit zwei­er­lei Maß zu mes­sen. Vie­le in der Wol­le gefärb­te lin­ke Poli­ti­ker waren Trotz­kis­ten oder Schlim­me­res, und scheu­ten auch vor Gewalt nicht zurück, um den Kapi­ta­lis­mus oder die Gesell­schaft im all­ge­mei­nen zu zer­schla­gen. Wir sehen in ihrer Ver­wand­lung und Neu­po­si­tio­nie­rung etwas Posi­ti­ves, doch sind wir nicht gewillt, ähn­li­ches auch den Leu­ten mit einer rechts­extre­men oder Neo­na­zi-Ver­gan­gen­heit zuzu­ge­ste­hen, die ihrer­seits aber auch eine Neu­po­si­tio­nie­rung vor­ge­nom­men haben.

ÉLÉMENTS: Sie erin­nern dar­an, daß das Natio­nal­ge­fühl – lan­ge eine Selbst­ver­ständ­lich­keit und heu­te eben auch auf Betrei­ben der Any­whe­res ver­teu­felt – für die Soli­da­ri­tät unab­ding­bar ist und daß letz­te­re folg­lich nur im Rah­men einer gemein­sa­men Staats­an­ge­hö­rig­keit ver­wirk­licht wer­den kann. Wie ste­hen Sie vor die­sem Hin­ter­grund zu einer Poli­tik der »natio­na­len Prä­fe­renz« bezie­hungs­wei­se »natio­na­len Priorität«?

DAVID GOODHART: Nun ja, der Vor­zug, den man den eige­nen Staats­bür­gern gibt, bezie­hungs­wei­se das, was man die »natio­na­le Prä­fe­renz« nennt, erscheint mir durch­aus legi­tim, wobei sol­che Prä­fe­renz mit den von der EU geför­der­ten aktu­el­len Prin­zi­pi­en und Prak­ti­ken der Frei­zü­gig­keit und der Euro­pa-Bür­ger­schaft in offe­nen Kon­flikt gerät. Ich den­ke, daß der Wider­stand gegen den frei­en Per­so­nen­ver­kehr nicht so hef­tig wäre, wenn die Ein­wan­de­rer aus den ande­ren euro­päi­schen Län­dern nicht schon bei ihrer Ankunft die glei­chen Rech­te hät­ten wie die Ein­hei­mi­schen, son­dern ihre sozia­len Rech­te erst nach einer bestimm­ten Frist, am frü­hes­ten aber nach zwei Jah­ren, zuge­spro­chen bekä­men. Die­se Pri­se Dog­ma­tis­mus der EU muß­te schließ­lich bei den betrof­fe­nen Völ­kern zur ableh­nen­den Hal­tung gegen­über Euro­pa füh­ren. Da steht übri­gens eine wei­te­re kom­ple­xe Fra­ge im Raum: Wel­cher Öff­nungs­grad ist bei unse­ren Han­dels­be­zie­hun­gen wün­schens­wert, und, damit ver­bun­den, wel­che recht­li­che Ver­ein­heit­li­chung erfor­dert sol­che Öff­nung? Ich habe kei­ne ein­schlä­gi­gen Erfah­run­gen auf die­sem Gebiet, aber intui­tiv wür­de ich sagen, daß wir durch die Gewäh­rung von mehr natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät nicht not­wen­di­ger­wei­se die meis­ten Vor­tei­le des frei­en Han­dels ver­lö­ren. Ich hal­te es für wich­tig, dar­an zu erin­nern, daß der natio­na­le Gesell­schafts­ver­trag für jene von grö­ße­rer Bedeu­tung ist, die über ein nied­ri­ges Ein­kom­men und eine nur gerin­ge poli­ti­sche Macht ver­fü­gen. Des­halb gibt es kein Some­whe­re-Dog­ma: Es ist psy­cho­lo­gisch wie öko­no­misch ratio­nal, den natio­na­len Gesell­schafts­ver­trag zu bevor­zu­gen. Einem rei­chen Land wie Frank­reich oder Groß­bri­tan­ni­en anzu­ge­hö­ren, ist für Leu­te, die wenig besit­zen, per se ein wich­ti­ges Sta­tus­sym­bol, und die in einem Wohl­fahrts­staat gewähr­leis­te­te natio­na­le Soli­da­ri­tät ist für nicht so Rei­che wich­ti­ger. Das ist eine Tatsache.

ÉLÉMENTS: Sie plä­die­ren für eine Ver­söh­nung, einen »neu­en Kom­pro­miß« zwi­schen den ant­ago­nis­ti­schen Kräf­ten. Logi­scher­wei­se ist es Auf­ga­be des eli­tä­ren Blocks, also des demo­kra­tisch zwar in der Min­der­heit, sozi­al und poli­tisch aber domi­nan­ten Blocks, dem popu­lis­ti­schen Block gegen­über Zuge­ständ­nis­se zu machen. Wor­in könn­ten sol­che Zuge­ständ­nis­se bestehen? Kön­nen sie genü­gen, um die Gesell­schaft im Namen gemein­sa­mer Prin­zi­pi­en und Zie­le zu ver­söh­nen? Zu wel­chem Ver­zicht müß­ten gleich­zei­tig die Popu­lis­ten bereit sein?

DAVID GOODHART: Ich glau­be, wie ich bereits sag­te, daß bei­de Welt­an­schau­un­gen ihre Berech­ti­gung haben, daß aber gleich­zei­tig unse­re aktu­el­len poli­ti­schen Pro­ble­me der Hege­mo­nie des Any­whe­re-Ent­wur­fes und der offen­sicht­li­chen Unfä­hig­keit der meis­ten Poli­ti­ker ent­sprin­gen, einen von ihrem eige­nen abwei­chen­den Blick­win­kel zu berück­sich­ti­gen. Mei­ner Ansicht nach soll­te man den Spieß jetzt nicht umdre­hen und eine Hege­mo­nie der Some­whe­res anstre­ben. Den­noch müs­sen kurz­fris­tig die Zuge­ständ­nis­se von den Any­whe­res kom­men, vor­nehm­lich in Form beschei­de­ne­rer Immi­gra­ti­ons­kon­tin­gen­te, einer Neu­auf­la­ge des natio­na­len Gesell­schafts­ver­trags, einer Ent­schleu­ni­gung des gesell­schaft­li­chen Wan­dels … Das Pro­blem dabei ist nur, daß es weit schwie­ri­ger ist, in kul­tu­rel­len Belan­gen Kom­pro­mis­se zu machen als in öko­no­mi­schen. Man kann nicht eine offe­ne und zugleich ein­ge­schränk­te Ein­wan­de­rungs­po­li­tik betreiben!

ÉLÉMENTS: Als Grün­der des Maga­zins Pro­s­pect, das oft der lin­ken Mit­te zuge­ord­net wird, wagen Sie, Ansich­ten zu äußern – ins­be­son­de­re über Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und Mas­sen­ein­wan­de­rung –, die man in die­ser Form in ent­spre­chen­den fran­zö­si­schen Zeit­schrif­ten nie­mals fin­den wür­de. Wie wer­den Ihre Ana­ly­sen von den Ihnen bekann­ten bri­ti­schen Intel­lek­tu­el­len­krei­sen auf­ge­nom­men, in denen die Über­all-Leu­te über­re­prä­sen­tiert sind? Wur­den Sie auch schon Opfer eines Scher­ben­ge­richts wie Chris­to­phe Guil­luy, den man wegen sei­ner For­schungs­ar­bei­ten zum Peri­phe­ren Frank­reich abstrafte?

DAVID GOODHART: Es geschah eher zufäl­lig, daß ich mich im Lau­fe der Jah­re zur Aus­ein­an­der­set­zung mit umstrit­te­nen The­men ver­an­laßt sah. Das ers­te Mal hat­te ich wegen eines 2004 geschrie­be­nen Essays Sche­re­rei­en, in dem ich die Span­nun­gen zwi­schen Diver­si­tät und Soli­da­ri­tät her­vor­hob: Vie­le beschimpf­ten mich damals als Ras­sis­ten. Frü­her war ich ein recht ortho­do­xer lin­ker Libe­ra­ler gewe­sen, heu­te wür­de ich mich eher als Sozi­al­de­mo­kra­ten mit kon­ser­va­ti­ven Anwand­lun­gen beschrei­ben. Ich habe mich von mei­nen ursprüng­li­chen Gesin­nungs­ge­nos­sen ent­fernt, aber auch von einer gan­zen Rei­he ande­rer Per­so­nen. Die­se Distan­zie­rung wur­de mir leicht gemacht durch das Spek­ta­kel, das die Lin­ke ver­an­stal­te­te, als sie sich wei­ger­te, das Ergeb­nis eines demo­kra­ti­schen Refe­ren­dums anzu­er­ken­nen, und sich in eine Art zyni­schen Öko­no­mis­mus ein­mau­er­te, in dem ein­zig von Belang ist, ob man in drei Jah­ren um 500 £ rei­cher oder ärmer sein wird. Es liegt schon eini­ges im argen, wenn in einer Gesell­schaft eine höhe­re uni­ver­si­tä­re Aus­bil­dung einen Bevöl­ke­rungs­ty­pus her­vor­bringt, bei dem die poli­ti­schen Ideen den Iden­ti­täts­kern aus­ma­chen, und der es infol­ge­des­sen schwie­rig fin­det, die Poli­tik in einer ratio­na­len Wei­se anzu­ge­hen. Es mag ein offen­sicht­li­ches Para­do­xon sein, aber ich glau­be, daß vie­le weni­ger gut aus­ge­bil­de­te und im Gemein­we­sen weni­ger enga­gier­te Men­schen oft klar­sich­ti­ger sind, weil ihr Blick weit weni­ger von der Ideo­lo­gie getrübt ist. Ja, ich den­ke, daß Chris­to­phe Guil­luy und ich eini­ges gemein­sam haben, selbst wenn er eher von »Orten« spricht und ich eher von »Wer­ten«. Auch emp­fin­de ich viel Sym­pa­thie für Emma­nu­el Todd, dem das sel­te­ne und in Frank­reich zumin­dest recht ori­gi­nel­le Kunst­stück gelingt, ein Intel­lek­tu­el­ler der popu­lis­ti­schen und nicht der mar­xis­ti­schen Lin­ken zu sein.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)