Fliegend oder nie – Zum 70. Geburtstag von Rolf Schilling

von Jonas Mahraun -- PDF der Druckfassung aus Sezession 95/ April 2020

»Rausch« und »Traum«, »Blut« und »Stern« wären wohl gesetzt. »Wahn« und »Weh« zwar, doch eben­so »Licht« und »Gold«, »Schat­ten« und »Flam­me« dürf­ten zum enge­ren Favo­ri­ten­kreis zäh­len, bereits »Adler« und »Schwan« wahr­schein­lich nur mehr zum erwei­ter­ten. Wenn man eine Sam­mel­kar­tei anleg­te, um Rolf Schil­lings lyri­sches Opus, das 2020 sage und schrei­be 200 000 Ver­se umfaßt, auf die häu­figs­ten Haupt­wor­te hin zu durch­käm­men, dann hät­ten die zwölf ange­führ­ten Voka­beln güns­ti­ge Aus­sich­ten auf vor­de­re Rän­ge. Neben einer drei­zehn­ten viel­leicht, dem unaus­bleib­li­chen »Opfer«.

Pro­mi­nen­ter noch als im Ver­s­werk spen­det Schil­ling der Bereit­schaft zur Ent­sa­gung im Essay-Kon­vo­lut Schwar­zer Apol­lon sei­nen Segen, wo man die Spät­fol­gen schmerz­scheu­er Wohl­fahrts­se­lig­keit ein­dring­lich aus­ge­malt fin­det: »Das nicht voll­brach­te Opfer ver­la­gert sich aus der Ewig­keit des Augen­blicks in die Unend­lich­keit der Zeit. Es äußert sich kör­per­lich als schlei­chen­de Krank­heit und lang­sa­mes Siech­tum, see­lisch als Gewis­sens­biß, Schuld­ge­fühl, Selbsthaß.«

Daß ergie­bi­ge Ent­beh­rung und initia­to­ri­scher Schmerz in Schil­lings lite­ra­ri­schem Kos­mos Schlüs­sel­stel­lun­gen ein­neh­men, weist ihn als in hohem Gra­de klas­sisch aus. Über die Gren­zen der maß­geb­li­chen Kul­tur- und Sprach­räu­me hin­weg fal­len beim mythisch tra­dier­ten Schwel­len­über­tritt Fei­er- und Zahl­tag, Ent­äu­ße­rung und Läu­te­rung in eins. Der Phoe­nix ent­zün­det sich nach Hero­dot alle fünf­hun­dert Jah­re auf dem Son­nen­al­tar im Tem­pel zu Helio­po­lis, Odin gibt sein Auge an Mimirs Brun­nen hin und auch Schil­lings Werk bie­tet Melo­dien als Obo­lus zur Über­fahrt auf.

Ob es – pro­fa­ner nun! – in des Sän­gers Kal­kül lag, daß auch sein eige­nes Revier die Opfer­be­reit­schaft anrei­se­wil­li­ger Gäs­te her­aus­for­dert? Stets aufs Neue erweist sich der Weg nach Ude­stedt bei Erfurt, wo der Stif­ter des Hol­den Rei­ches seit 2010 lich­te Zim­mer in einem rus­ti­ka­len Mehr­ge­ne­ra­tio­nen­haus­halt bewohnt, als aben­teu­er­lich. Werk­tags bewe­gen sich die Bus­se von der Lan­des­haupt­stadt aus nur sehr ver­ein­zelt in Dich­ter-Rich­tung und wochen­ends steu­ern sie den Ort nicht öfter an als Thu­le, Ava­lon oder ande­re Traum-Kno­ten­punk­te, die der gewöhn­li­che Schil­ling-Leser in sei­ner Rei­se­pla­nung berücksichtigt.

Selbst wenn ein­zel­ne Nah­ver­kehrs-Ques­ter eine der weni­gen Bus­ver­bin­dun­gen nach Ude­stedt erwi­schen soll­ten, wer­den sie sich wäh­rend der Fahrt des Gefühls kaum erweh­ren kön­nen, ihrer zivi­len Mit­welt Sta­ti­on um Sta­ti­on immer gründ­li­cher abhan­den zu kom­men – womit man im Anse­hen des Gast­ge­bers frei­lich auf einem ver­hei­ßungs­vol­len Weg sein dürf­te: Denn »nicht der Dich­ter ist welt­fremd«, heißt es in Schil­lings gesam­mel­ten Apho­ris­men, son­dern die Erde und ihre Besied­ler selbst sei­en ein­an­der unver­traut gewor­den und begeg­ne­ten dem Sän­ger mitt­ler­wei­le auch des­we­gen mit gereiz­tem Arg­wohn, weil er – als letz­tes Sprach­rohr einer vor­mo­der­nen Sphä­ren­har­mo­nie – sei­ne Zeit­ge­nos­sen unwei­ger­lich auf die eige­ne Selbst­ver­ges­sen­heit hin­wei­se. Nicht zuletzt hakt das Bon­mot von der welt­frem­den Welt sich erkenn­bar bei Nova­lis unter und sei­ner pro­to­ro­man­ti­schen Ver­si­che­rung, daß die Bahn zurück zum anfäng­li­chen Ein­klang erst dann berei­tet sei, sobald sich der ent­wur­zel­te Mensch »ins freye Leben / Und in die Welt wird zurückbegeben.«

Wann immer er orts­frem­de Gäs­te zu sich lot­sen möch­te, kommt auch Schil­ling nicht voll­stän­dig ohne Zah­len und Figu­ren aus. Konn­te er den tücki­schen Skyl­len »Bank­ver­bin­dung« und »Inter­net« noch gelenk ent­ge­hen, so haben mit »Post­leit­zahl« und »Haus­num­mer« letzt­lich doch zwei Cha­ryb­den der Tag­welt ihre Fän­ge fest um den Dich­ter geschlun­gen. Was durch sol­che Kon­zes­sio­nen gegen­über der bür­ger­li­chen Gesell­schaft an poe­ti­scher Strahl­kraft ein­ge­dimmt wird, ver­su­chen die Hart­nä­cki­ge­ren unter Schil­lings Ansprech- und Brief­part­nern wett­zu­ma­chen, indem sie das harm­lo­se »Ude­stedt« zur Namens­rui­ne einer vor­zeit­lich-heh­ren »Odin­stadt« auf­nor­den. Der Dich­ter betrach­tet sol­che Her­lei­tun­gen unab­hän­gig von ihrer objek­ti­ven Stich­hal­tig­keit mit Wohl­ge­fal­len. Die Wahr­heit ist ihm nur so lan­ge hei­lig, wie sie Geist und Sinn zu schöp­fe­ri­scher Tätig­keit beflü­gelt. Aus Goe­thes »Ver­mächt­nis« ruft Schil­ling sei­nen Gesprächs­part­nern nicht nur die mön­chi­sche Losung »Gesel­le dich zur kleins­ten Schar«, son­dern eben­so den vor­an­ge­hen­den Reim­vers tur­nus­mä­ßig ins Gedächt­nis: »Was frucht­bar ist, allein ist wahr.«

Ent­steigt man dem Bus – Linie Schloß­vipp­ach 141 – an der ört­li­chen Hal­te­stel­le in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft zum »Wei­ma­ri­schen Hof«, dann schei­nen Asgard und Brei­d­a­b­lik vor­erst fern. Erst auf der äch­zen­den Stie­ge zu den Räu­men des Gast­ge­bers – vor­bei an Rank­pflan­zen – gewinnt die Odin­stadt-The­se rapi­de an Plau­si­bi­li­tät. Am Ende des Trep­pen­auf­gangs wer­den die Besu­cher durch eine klein­for­ma­ti­ge Bre­ker-Litho­gra­phie begrüßt – »Rolf Schil­ling« gewid­met, »dem Meis­ter des Wor­tes.« Ob es denn ein Foto gebe, höre ich mich den Dich­ter fra­gen, das ihn gemein­sam mit dem wahl­ver­wand­ten Bild­hau­er zei­ge, der 1991 – bald nach dem ers­ten und ein­zi­gen Düs­sel­dor­fer Gip­fel­tref­fen – hoch­be­tagt an Wag­ners Todes­tag starb. Visu­ell doku­men­tiert, ver­neint Schil­ling, sei nur die Wilf­lin­ger der bei­den Zusam­men­künf­te mit Ernst Jün­ger und das Stell­dich­ein mit Leni Rie­fen­stahl, deren Wid­mungs­text ihn noch zufrie­de­ner stimm­te als der Bre­ker­sche, weil er von »Begna­dung« spricht und damit weni­ger hand­werk­li­che Fer­tig­kei­ten her­vor­hebt als jenes Unwäg­ba­re und Uner­werb­li­che, das Goe­the ein­präg­sam »die ange­bo­re­nen Ver­diens­te« nennt.

Als Begriff tritt die Gna­de in Schil­lings lyri­schem Werk zwar nicht all­zu gehäuft auf, doch nimmt sie in der Gedan­ken­welt des Dich­ters eine um so bestim­men­de­re Rol­le ein. »So viel auch wir­ket die Not / und die Zucht« – heißt es bei Kame­rad Höl­der­lin noch all­ge­mein­gül­tig – »das meis­te näm­lich / Ver­mag die Geburt.« Der Thü­rin­ger Solip­sist indes schnei­det die­se Über­zeu­gung zwei Jahr­hun­der­te spä­ter sou­ve­rän auf sich selbst zu, wenn er im »Ques­ten­ge­sang« ver­lau­ten läßt: »Was die Geburt ver­mag, / Hast du erfah­ren.« Weil er die weg­wei­sen­den Wei­chen lan­ge vor Schul­be­such und Stu­di­um gestellt sieht, steht Schil­ling mit inspi­ra­ti­ons­ar­mer Beflis­sen­heit auf Kriegs­fuß, gießt im Essay­werk sei­ne Häme über »Samm­ler-Fleiß« und »Deu­ter-Cre­t­i­nis­mus« aus und bean­sprucht für sich, die reich­hal­ti­gen Bestän­de nicht enzy­klo­pä­disch abgra­sen zu müs­sen, son­dern als wäh­le­ri­scher Fla­neur sei­ne Auf­merk­sam­keit für die impo­san­tes­ten Hal­me auf­spa­ren zu dür­fen: »Der Dich­ter trägt den Greif im Wap­pen.« Nicht er muß sich den Din­gen gegen­über wür­dig und gewach­sen zei­gen, son­dern sie haben mit­ein­an­der zu buh­len um die Gunst sei­nes ver­edeln­den Blickes.

Weil die Ent­beh­rung den Initi­an­ten des­to ein­schnei­den­der tref­fen muß, je höher die zu pas­sie­ren­de Schwel­le hin­auf­führt, kann für Rolf Schil­lings Besu­cher die Anfahrts­rou­te kaum schon der gan­ze Pas­si­ons­weg gewe­sen sein. Hier kommt nun die Biblio­thek ins Spiel, für Gäs­te gewöhn­lich zum Nacht­la­ger umfunk­tio­niert und auf der unbe­heiz­ten Nord­sei­te des alten Anwe­sens gele­gen, das gegen die wid­ri­ge Außen­welt weit weni­ger her­me­tisch abge­dämmt ist als die Lyrik des Haus­herrn. Der Phoe­nix geruht zu ver­bren­nen, Schil­lings Besu­cher dro­hen zu erfrie­ren – Opfer ist Opfer, ob an Euphrat oder Unstrut. Doch wie Wal­va­ter mit Mimirs Weis­heit, so wer­den auch Schil­lings Gäs­te reich belohnt durch einen üppi­gen Buch­be­stand, der – zumal gemes­sen am Grei­fen-Dasein des Dich­ters – auf­fal­lend gewis­sen­haft sor­tiert wirkt. Nahe der Tür zum Flur steht Mozarts Dia­ri­um, in das der 14-Jäh­ri­ge am 13. Juli 1770 zwei Sät­ze ein­trug, die inne­hal­ten, auflä­cheln und durch­at­men las­sen: »Gar nichts erlebt. Auch schön.« Von Absei­ti­gem – einer Mono­gra­phie etwa zum deutsch-pol­ni­schen Trans­la­tor Karl Dede­ci­us – über All­be­kan­tes wie Ecos Der Name der Rose ent­hält die Samm­lung sämt­li­che Grau- und Zwi­schen­stu­fen. Selbst Bän­de, die man bei Schil­ling zual­ler­letzt ver­mu­tet hät­te, war­ten mit deut­li­chen Lese­spu­ren auf – unter ihnen die Memoi­ren des Sowjet-Agi­ta­tors Ilja Ehren­burg oder die teils obs­zö­nen Träu­me des Kahl­schlä­gers Gün­ter Eich, die in den 1950er-Jah­ren einen gesell­schaft­li­chen Skan­dal aus­lös­ten, wie ihn heu­te allen­falls werk­treue Thea­ter-Auf­füh­run­gen oder triden­ti­ni­sche Mes­sen noch her­auf­zu­be­schwö­ren vermöchten.

Weni­ger über­ra­schend neh­men sich Elia­des Kos­mos und Geschich­te, Evo­las Revol­te gegen die moder­ne Welt oder Blu­men­bergs Die Voll­zäh­lig­keit der Ster­ne aus. Kon­fron­tiert mit all die­sen Her­ren der Sprach- und Sinn­schöp­fung mag Pari­täts­ver­fech­ter die Fra­ge umtrei­ben, ob Frau­en Schil­ling gegen­über bloß mit Begna­dungs-Attes­ten oder auch durch eige­ne Autor­schaft renom­mie­ren kön­nen. Immer­hin drei Namen fal­len auf Anhieb ins Auge: Gün­der­ro­de, Aus­ten, Bach­mann. Die so ein­ge­heims­ten Viel­falts-Lor­bee­ren dürf­ten jedoch kaum aus­rei­chen, um Hans Grimms Fanal-Roman Volk ohne Raum zu ent­schul­di­gen, den Schil­ling eben­so stu­diert hat wie die Nietz­sche-Kom­men­ta­re des NS-Päd­ago­gen Alfred ­Baeum­ler. Dabei soll­te die gegen­wär­ti­ge Dis­kurs-Über­hit­zung den Biblio­the­kar beru­hi­gen: denn seit sogar die Mär­chen­brü­der Jacob und Wil­helm von aka­de­mi­schen Anfangs­wehr­ern wahl­wei­se des sekun­dä­ren, quar­tä­ren oder sep­ti­mä­ren Anti­se­mi­tis­mus gezie­hen wer­den, scheint Hans Grimm – als unzwei­deu­ti­ger Fall – gewis­ser­ma­ßen aus der publi­zis­ti­schen Schuß­li­nie gerückt. Richard Deh­mel wie­der­um – auch er mit drei­tei­li­ger Werk­ausgabe ver­tre­ten – erbrach­te 1902 den denk­bar schla­gen­ds­ten Phi­lo­se­mi­tis­mus-Beweis, indem er Ida Coblenz ehe­lich­te, die ein knap­pes Jahr­zehnt zuvor in Bin­gen von Ste­fan Geor­ge umwor­ben wor­den war und an deren Adres­se man­ches Lie­bes­ge­dicht aus dem Jahr der See­le sich rich­tet. Ude­sted­ter Rund­gän­ge mit Schil­ling füh­ren die Besu­cher zumeist aus der Gar­ten­pfor­te am »Sin­ge­stuhl« vor­bei, wo der Meis­ter­sän­ger von Früh­ling bis Herbst sei­ne Vers­gren­ze fliecht. Wer die umlie­gen­den Blu­men­bee­te abschrei­tet, wird dort aller­hand Anläs­se und Vor­bil­der für längst abge­faß­te Gedich­te – ob »Feu­er­li­lie«, ob »Tigri­dia« – pran­gen sehen, was die Ken­ner von Schil­lings Essay­schaf­fen stut­zen las­sen muß. Denn durch alle poe­to­lo­gi­schen Ein­las­sun­gen des Dich­ters zieht sich rot­fä­dig der Glau­bens­satz, daß die Zei­chen im Augen­blick der Schöp­fung ihr Bezeich­ne­tes, daß Gesän­ge Besun­ge­nes über­wäl­ti­gen und bis zu einem gewis­sen Grad aus­lö­schen: Homer ver­ewigt Tro­ja und es darf fal­len, sei­nen Zweck erfüllt habend. Shake­speare errich­tet sei­ner Lie­be einen Schutz­raum aus Ver­sen, außer­halb des­sen sie fort­an sorg­los ver­grei­sen kann: Dein schö­nes sei vor dem ver­lust gefeit / In ewi­gen rei­men ragst du in die zeit.«

Doch Ster­be- oder Welk-Gefäl­lig­kei­ten, wie sie wei­land an der Tages­ord­nung waren, wer­den den Bar­den des drit­ten Jahr­tau­sends offen­bar nicht mehr flä­chen­de­ckend erwie­sen: Sowohl das jüngst erst bedich­te­te Bie­nen­haus als auch die zahl­rei­chen Zier­pflan­zen bestehen und blü­hen trotz ihrer Kunst­wer­dung unver­dros­sen fort und bege­hen somit eine Unbot­mä­ßig­keit, an die sich Schil­ling – als Dich­ter in dürf­tigs­ter Zeit – im Zwi­schen­mensch­li­chen bereits gewöh­nen muß­te: »Ich has­se nie­man­den und habe nie­man­den zu ver­flu­chen. Aller­dings wun­dert man sich ab und zu, daß man­che Leu­te, nach­dem sie ihre Mis­si­on in mei­nem Leben erfüllt haben, dreist wagen wei­ter­zu­le­ben statt sich zu ent­lei­ben wie der Lyder im Alga­bal. Aber ein sol­ches Min­dest­maß an Takt ist heu­te lei­der nicht mehr vorauszusetzen.«

Das eige­ne Wei­ter­le­ben dürf­te der »Meis­ter des Wor­tes«, da ihm die Lyri­ker als Gläu­bi­ger und alle übri­gen Men­schen als Schuld­ner gel­ten, eher als Akt der Gna­de denn als sol­chen der Dreis­tig­keit auf­fas­sen. Im Ver­lauf des Gesprächs bekun­det er nicht ohne Genug­tu­ung, am 03. Janu­ar 2020 Richard Wag­ner an Lebens­ta­gen über­bo­ten zu haben. Schon Ende 2015 hat­te er brief­lich dar­über froh­lockt, in Alters­be­lan­gen jüngst an Ste­fan Geor­ge vor­bei­ge­zo­gen zu sein. Dafür, daß Schil­ling Wert dar­auf legt, den Greif anstel­le des Hams­ters im Wap­pen zu füh­ren, ist sein Zah­len- und Namens­vor­rat ein stau­nens­wür­di­ger. Die Biblio­gra­phien ver­ges­sens­ter Win­kel­li­te­ra­ten sind ihm eben­so geläu­fig wie olym­pi­sche Speer­wurf-Sie­ger der 1930er-Jah­re. Dem Sport schenkt der Dich­ter wohl auch des­we­gen beson­de­re Auf­merk­sam­keit, weil er in frü­her Jugend Hel­den nicht bloß vor kleins­ter Schar, son­dern vor vol­len Rän­gen zu besin­gen plan­te: als Fuß­ball­kom­men­ta­tor. Bis heu­te zitiert er in sei­nen Tage­buch-Auf­zeich­nun­gen Ver­tre­ter der Sport­welt wohl­wol­len­der als Reprä­sen­tan­ten aus Kul­tur und Poli­tik: »Früh im Radio das Wort eines Fuß­ball­trai­ners: ›Da straffst du dei­ne Hal­tung und ori­en­tierst dich an den Bes­ten, und das bringt das Bes­te aus dir selbst her­vor.‹ Der­lei von Leu­ten aus dem Kul­tur­be­trieb zu hören, ist eine ver­geb­li­che Hoffnung.«

In die Gemein­de der Radio­hö­rer fand Schil­ling nach aus­ge­dehn­ter Abs­ti­nenz im Som­mer 2015 zurück, als sich ihm der Ein­druck auf­dräng­te, die Welt­ge­schich­te lade all­mäh­lich wie­der ver­stärkt zum Auf­hor­chen ein. So kommt es, daß der erklär­te Zeit­fremd­ling mitt­ler­wei­le über man­ches im Bil­de ist, was noch vor weni­gen Jah­ren unter­halb sei­nes Fla­neur-Radars geblie­ben wäre. Zum Kem­me­rich-Inter­mez­zo läßt er wis­sen, es habe ihm das home­rischs­te Geläch­ter seit der Trump-Wahl ent­lockt. Zur Abrun­dung des welt­li­chen Gesprächs­teils trägt man eini­ge Schüt­tel­rei­me über die schwarz­blaue Ent­zwei­ung im Wein­he­ber-Staat vor: »Hadert mit dem Stra­che Kurz, / Folgt mit lau­tem Kra­che Sturz.« Und ehe man sich noch grä­men kann dar­über, daß die Kräf­te des Her­ge­brach­ten zumin­dest in Öster­reich offen­bar zwi­schen­zeit­lich geschwächt wur­den, sorgt Enkel Maxi­mi­li­an für Hoff­nung und Erhei­te­rung, indem er mit empör­ten Ord­nungs­ru­fen eine Lan­ze sowohl für den ästhe­ti­schen Ernst als auch für das strau­cheln­de Patri­ar­chat bricht: »Oma redet stän­dig rein, obwohl Rolf dichtet!«

Blu­men, die außer­halb des Vers­bee­tes scham­los wei­ter­blü­hen; Weg­ge­fähr­ten, die mit der drin­gend gebo­te­nen Selbst­ent­lei­bung in Ver­zug gera­ten; und eine Gat­tin, die immer öfter dazwi­schen­funkt: Leicht wird es Rolf Schil­ling, der im April 2020 sei­nen sieb­zigs­ten Geburts­tag begeht, wahr­lich nicht gemacht. Legt man Heb­bels Ver­se über Kleist zugrun­de, vom Jubi­lar am Besuchs­tag zustim­mend ange­führt, dann bleibt den Dich­tern als letz­ter Flucht­weg vor irdi­schem Unge­mach wenigs­tens die Ver­ti­ka­le: »Er stieg empor, die Welt ward klein und klei­ner, / Und auf der Höhe, die wir nicht durch Schlei­chen, / Die wir nur flie­gend oder nie errei­chen, / Ward über ihm der Äther immer reiner.«

Nur scha­de für Schil­ling, daß sich die­se aris­to­kra­tischs­te aller Eska­pis­mus-Vari­an­ten nicht zuletzt auf eine Kom­po­nen­te stützt, an der in sei­nem Fall ein noto­ri­scher Man­gel herrscht: auf Luft nach oben. »Gleich Adlern, die im kla­ren Äther schwim­men, / Hält sich zur Vogel­schau der Geist sub­lim, / Du mußt den höchs­ten Gip­fel nicht erklim­men / Von oben kom­mend lan­dest du auf ihm.« 

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