Vor fünfzig Jahren gab der große Bewahrer des Konservatismus Gerd-Klaus Kaltenbrunner im Freiburger Rombach-Verlag einen Sammelband mit dem Titel Hegel und die Folgen (1970) heraus. Zeittypisch drehte sich so manches um den Linkshegelianismus und Hegels marxistisches Erbe im Ostblock und in der damaligen »Neuen Linken«. Doch irgendwie wollten seine Beiträger selbst nach erfolgter Entmarxifizierung Hegel nicht rehabilitieren. Was hielt sie so auf Abstand? Es hätte doch nahegelegen, daß Konservative sich auf Hegel rückbeziehen: Er war es gewesen, der den preußischen Staat als den nach dem Durchgang durch die Weltgeschichte in Deutschland zu sich selbst gekommenen Weltgeist sah. Er war es gewesen, der mit seinen Tübinger Stiftskollegen Hölderlin, Fichte und Schelling ein letztes Mal den Deutschen Idealismus als heroischen Versuch, den entfremdeten modernen Menschen mit seinem Ursprung zu versöhnen, in die Welt gesetzt hatte. Er war es gewesen, der die »Sittlichkeit der Sitte« dem Kantschen Universalismus entgegengesetzt hatte. Und er war es gewesen, der das Christentum mit dem vernünftigen Denken wieder zusammenführen wollte.
Liegt es also tatsächlich an Marx’ Umsetzung der Hegelschen Philosophie in die kommunistische Doktrin, daß Konservative Hegel nicht über den Weg trauen? Armin Mohler hat diesen Vorbehalt konsequent durchgedacht: »konservativ« zu sein bedeutet für ihn, wieder Anschluß an ein Denken zu suchen, dem zufolge Geschichte nicht linear, also fortschrittlich und auf Erlösung ausgerichtet, verläuft, sondern die »ewige Wiederkehr des Gleichen« erkenne. Mohlers Verständnis der »Konservativen Revolution« zielt darauf, das lineare christliche Geschichtsbild zu sprengen, auch in seiner säkularen Erscheinung, dem Liberalismus. Auf den Schultern von Nietzsche stehend, dekretiert Mohler: Geschichtsphilosophie gibt es nicht! Auch Odo Marquard formulierte 1973 fulminant seine Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie: Die Philosophen hätten die Welt nur verschieden verändert, es komme darauf an, sie zu verschonen.
Können wir Heutigen also Hegel endgültig in den Sack stopfen und zubinden? Selbst wenn wir es täten – der Teufel würde sich wieder freistrampeln und uns ins Genick springen. »Den Teufel spürt das Völkchen nie // und wenn er sie beim Kragen hätte« läßt Goethe den Mephisto zu Faust sagen. Soll heißen: Hegels Philosophie wirkt in der Geschichte, gerade wenn und weil sie oftmals kein direkt erkennbares Programm irgendwelcher Akteure ist. Es ist mithin wichtig, die Spuren rückzuverfolgen und zu schauen, was genau an Hegels Philosophie es ist, das Eric Voegelin gar von seiner »dämonischen Verlogenheit« hat sprechen lassen. Ich nehme bei meiner Spurensuche diejenigen mit, die wissen wollen, wo die labile Grenze von aufrichtigem philosophischen Streben nach höherem Bewußtsein und dessen manipulativ herbeiphilosophierter Illusion verlaufen könnte.
»Ein Verdacht schafft sich Gründe« (Boris Groys). Wenn ich mit Manipulationsverdacht an einen Denker herantrete, werde ich ihn auch als Truggeist vorfinden. Um dem Bestätigungsfehler zuvorzukommen, griff ich also zu einem von mir geschätzten christlichen Autor, der in Hegels Denken ein »ehrliches Ringen nachWahrheit und Klarheit« sieht. Der russische Philosoph Iwan Iljin hält in seiner Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre (1946) den Manipulationsverdacht für eine Anfänger-Denkblockade. Wer Hegel verstehen wolle, müsse bereit sein, den »niederen Gesichtspunkt« der konkreten Wirklichkeit hinter sich zu lassen und sich auf ein radikal anderes »spekulatives Schauen« der wahren Wirklichkeit einzulassen – um »›hegelisch‹ zu denken und das von Hegel Gemeinte richtig und selbständig zu gewahren«. Die dualistische Zerrissenheit und Entfremdung von der wirklichen Welt, unter der der moderne Mensch mit seinem »unglücklichen Bewußtsein« (Hegel) leide, könne und müsse allein durch das Denken selbst vollständig überwunden werden. Der Speer, der die Wunde schlug, kann sie heilen. Nur muß das Denken dazu völlig umgebaut werden. Darum, so Hegel in seiner Logik, »ist es die erste Aufgabe der Philosophie, das Wesen dieses niedrigen Gesichtspunkts zu enthüllen und zu überwinden, von ihm loskommen heißt aus dem unaufgeschlossenen Reich der Finsternis treten, die Fesseln der Endlichkeit und der Verdammnis abwerfen und den Weg der Läuterung durch das Feuer des Denkens betreten.« Verlaßt die Welt und folgt mir nach …
Mein Verdacht Hegel gegenüber wurde durch Iljin nur größer. Selbst wenn dieser nach der Initiation in den »Weg der Läuterung« für sich reklamiert, kein Hegelianer geworden zu sein und die »Brille« dieses Denkens jederzeit wieder abnehmen zu können, setzt eine solche Einweihungszumutung kritisches Denken matt.
Es bleibt also wenig anderes übrig, als Hegel genauer zu beleuchten. Da es den Rahmen dieses Beitrags bei weitem sprengen würde, und außerdem weiter weg statt näher hin zur genannten Problematik führen würde, unterlasse ich die Darstellung von Hegels Phänomenologie des Geistes (1807), der Wissenschaft der Logik (1812 – 1816), seiner Enzyklopädie (1817) sowie seiner Vorlesungen zur Geschichte (gehalten 1805 / 06–1830) und der Vorlesungen über die Philosophie der Religion (gehalten 1821 – 1831). Der Vorteil des Systemdenkers ist es, daß alles mit allem zusammenhängt, und wenn man einen Gedanken genauer betrachtet, man alle anderen um die Ecke hervorlugen sieht. Aus diesem Grunde dürfte es weitaus sinnvoller sein, sich zwei Grundbegriffe Hegels vorzunehmen, nämlich »Geist« und »Geschichte«. Meine Schlußfolgerung daraus wird sein, daß Hegel ein »politischer Gnostiker« (Eric Voegelin) ist, was stärker gegen Hegel als gegen die Gnosis spricht.
1. Geist – Hegels Phänomenologie des Geistes erzählt gewissermaßen die Biographie Gottes in der Welt: der Geist, der sich in der »mannigfaltigen« (ein bei den Deutschen Idealisten ausgesprochen beliebtes Attribut) Natur zeigt, kommt im Menschen zu bewußtem Ausdruck. »Geist« ist das, was sich stets und ständig auszudrücken sucht – in Materie, Formen und beseeltem Lebendigen. Der Mensch ist das Vehikel, mittels dessen der kosmische Geist schließlich seinen Ausdruck zur Vollendung bringt. Denn der Mensch kommt eben dadurch erst zur Vollendung, daß er sich als Vehikel ebendieses umfassenden Geistes begreift, faßt der Hegelianer Charles Taylor (Hegel, dt. 1978) diese Wechselseitigkeit zusammen. Beiderseitige Vollendung also.
In der Hegelforschung fiel an diesem mit bezwingender Logik hergeleiteten Ineinanderaufgehen auf: Haben wir es nicht eigentlich mit zwei Geistbegriffen zu tun, einem theologischen und einem anthropologischen? Auf der Menschenseite objektiviert sich das Subjektive nach und nach – sowohl in der Menschheitsgeschichte als auch in jeder Lebensgeschichte: Von ihren frühesten Entwicklungsstufen über die Hochkulturen, die Antike usw. wird die Menschheit immer selbstbewußter, bis dieses Selbstbewußtsein in der seinerzeitigen Gegenwart kulminiert. Das Individuum vollzieht diese Geschichtsentwicklung ebenfalls nach: Es entwickelt bis zum Erwachsenenalter immer mehr Ichbewußtsein (»Subjektivität«), zu der als höchste Stufe die religöse Reflexion (das »Zusichselbstkommen«) gehören muß. Dies ist der zweite Geistbegriff, der anthropologische.
Und nun die Verknüpfung: »Gott soll ich mich gemäß machen; dies ist meine, die menschliche Arbeit. Dieselbe Arbeit ist Gottes von seiner Seite; er bewegt sich zum Menschen und ist durch Aufhebung des Menschen; was als mein Tun erscheint, ist Gottes Tun und umgekehrt Gott nur durch meine Tätigkeit.« (Hegel, Enzyklopädie) Der deutsche Mystiker Angelus Silesius hatte einen ganz ähnlichen Zauber formuliert: »Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu leben kann, // werd ich zunicht, muß er vor Not den Geist aufgeben«. In der Einleitung zu den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie kommt Hegel zu dem Schluß: »Was das Denken sucht, ist vollbracht: eine versöhnte Welt, eine göttliche Welt, die realisierte geistige Welt, das Reich Gottes auf Erden.« Der Gegenaufklärer Franz von Baader nannte dies eine »gottesleugnerische Vorstellung«, zu glauben, Gott erlange erst im Menschen sein vollkommenes Dasein. Karl Albert bezeichnete Hegels Philosophie dagegen als »Gottesdienst« (Vom Mythos zum Logos, 1983). Die ausgesprochene Absicht der Hegelschen Vorlesungen sei nämlich, »Gott zu erkennen«. »Menschliche Vernunft«, mithin ein anthropologischer Begriff, den Hegel »subjektiv-konkret« nennt, soll Gott durch Hervorbringung von einander überwindenden – »dialektischen« – Begriffen erkennen, und zwar an seinem geschichtlichen Wirken, und ihn dadurch mit seiner Schöpfung am Ende versöhnen. Was für ein gigantischesProgramm!
Martin Puder, einer der Beiträger des Kaltenbrunner-Bandes, zeigt, daß Hegel mit der Hilfe eines weiteren Wortspiels ebendiese Bewegung in die Welt- und Heilsgeschichte bringt: »offenbar« (= das der Vernunft Einsichtige) und »geoffenbart« (= das von einer höheren Macht Verkündete und der Vernunft Inkommensurable). Durch das Wortspiel »sollen zwei extrem entgegengesetzte Gottesbegriffe gezwungen werden, ineinander umzuschlagen«. Das hat Folgen, und nicht geringe. Hegels gesamte Philosophie läuft auf den Gedanken zu, daß Widersprüche, die durch das Denken erkannt werden, deshalb erkannt werden können, weil sie real sind – weil es sie in der Geschichte wirklich gibt, weil ihre von Hegel »dialektisch« genannte Aufhebung tatsächlich passiert. Weil der Geist sich sukzessive verwirklicht (Offenbarung), muß dieser Prozeß nur noch vom Menschen eingesehen (ihm offenbar) werden. Der Geist wird in einem notwendigen Prozeß Wirklichkeit, und wir können dabei zugucken!
2. Geschichte – Der Wiener Philosoph Ernst Topitsch bemerkte, daß sowohl sattsam bekannterweise Karl Marx und die marxistisch-leninistischen Theoretiker und Staatenlenker, als auch beispielsweise der NS-Rechtsphilosoph Julius Binder sahen, wie hervorragend sich diese Denkformen für die eigenen Absichten und Zwecke gebrauchen ließen: »Wir müssen den Staat begreifen als Wirklichkeit des Geistes und können ihn dann begreifen als Wirklichkeit der Freiheit« (Binder 1935, Der Idealismus als Grundlage der Staatsphilosophie).
Sobald die in einem bestimmten Lande zu einer bestimmten Zeit an der Macht Befindlichen sich anschicken, ihre eigene bestehende Herrschaftsordnung als einen Schritt in einem notwendigen Prozeß zu deuten, und die nach der Macht Strebenden sich auf die nämliche Weise als Akteure der Geschichte verstehen, schlägt die Dialektik des Geschichtsverlaufs in Manipulation der Zukunft um.
Der konservative Philosoph Hermann Lübbe stimmt Topitschs Kritik zu, hält aber Hegels Geschichtsphilosophie nicht für eine Theorie, aus der sich überhaupt akut politische Praxis begründen und legitimieren ließe. Wenn also konkrete historische Gestalten ihren Hegel zur Hand nehmen, um ihren eigenen Ort in der Geschichte zu legitimieren, verfehlen sie dessen Grundgedanken, so Lübbe, und ernennen sich selbst zu »Geschichtsplanverwaltern«: Die Berufung auf den nach Herkunft und Zukunft angeblich durchschauten Gang der Geschichte gehöre zu den wichtigsten ideologischen Herrschaftsmitteln. Wer aus erfolgreich prätendierter Kenntnis des weltgeschichtlichen Ziels der Menschheit seine Politik zu begründen vermöge, habe ideologisch jegliches Recht auf seine Seite gebracht: »Er ist in der Lage, in der Feinderklärung des Gegners diesen zum Menschheitsfeind zu erklären.
«In der Online-Ausgabe des Nachrichtenmagazins Focus las man im Mai dieses Jahres einen Gastbeitrag des Autors Bill Gates. Darin warb dieser für einen Impfstoff zur Bekämpfung künftiger Grippepandemien. Die Schlußpassage seines Beitrags im Lichte meiner bisherigen Befunde zu hegelianischem Geschichtsmanagement zu lesen könnte aufschlußreich sein.
»Die Geschichte folgt keinem festgelegten Kurs. Die Menschen entscheiden, welche Richtung sie einschlagen wollen, und können auch falsch abbiegen. Die Jahre nach 2021 mögen den Jahren nach 1945 ähneln. Die beste Analogie für heute könnte aber der 10. November 1942 sein. Großbritannien hatte gerade seinen ersten Landsieg des Krieges errungen, und Winston Churchill erklärte in einer Rede: ›Dies ist nicht das Ende. Es ist noch nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber vielleicht ist es das Ende des Anfangs‹.
«Gates hatte im Vorspann dieses Zitats den Staaten der Welt verheißen oder angedroht, daß sie »aus der Geschichte lernen« und in Zukunft an Seuchen-Planspielen teilnehmen, die Durchimpfung der Weltbevölkerung finanzieren, nicht einmal die »isolationistischste Regierung« außen vor lassen und sich global auf einen Biowaffenangriff vorbereiten sollten. Zuerst suggeriert er nun die völlige Offenheit des Geschichtsverlaufs, dementiert also vorauseilend jeden möglichen Einwand gegen etwaige Planungsabsichten. Dem gegenwärtigen historischen Ereignis (Coronapandemie) und den offenkundig nur auf bestimmte Weise historisch richtigen (»die Menschen können auch falsch abbiegen«) Entscheidungen wird sodann ihr weltgeschichtlicher Ort bestimmt. Für Lübbe ist solche »permanente Epochalisierung« ein typisches Motiv totalitärer Ideologen. Wenn Gates den neuen Menschheitsfeind in perfekter Analogie zum Kriegsgegner Nazideutschland, den zu überwinden erst der Beginn einer neuen bis heute andauernden Epoche der Freiheit gewesen sein soll, bestimmt, indem er »das Virus« und potentielle historisch leider falsch abbiegende »Virusleugner« miteinander identifiziert, macht er sich selbst zum– fast grotesk offensichtlichen – Sachwalter der Vorsehung.
Es ist nicht anzunehmen, daß Bill Gates Hegelleser ist. Er ist allerdings wie alle Angehörigen der globalen Elite vertraut mit dem Arsenal metapolitischer Methoden des Geschichtsmanagements. Rudolf Steiner hat in einem Vortrag 1920 bemerkt: »Hegels Philosophie ist in einer gewissen Weise der Grundnerv der Geheimlehre des Westens«. Steiner hatte den amerikanischen Elite-Orden Skull and Bones vor Augen, kannte aber auch die Fabianisten, die Eugenic Society (die 1945 umbenannt wurde in Planned Parenthood und der Bill Gates’ Vater vorstand) und eine Anzahl einflußreicher okkulter Vereinigungen des fin de siècle in Großbritannien und den USA, deren Geistlehren später ins New Age und in den Transhumanismus mündeten. Hegels Idee, daß die Welt nichts anderes sei als eine Emanation von Gedanken, und auch nur durch Gedanken erfaßt und beherrscht werden könne, wollte Marx handfest auf die Füße stellen.
Die amerikanischen Okkultisten hielten sich womöglich fein zurück, weil sie wußten, daß man mit diesem Gedanken viel besser die Weltgeschichte managen könnte als durch offenen Klassenkampf. Die Revolution, so schrieb der Historiker Jacob Burckhardt weise, hätte nämlich »nur dann ein Recht, wenn sie unbewußt und unbeschworen aus der Erde steigt«. Es ist freilich möglich, das bewußte Heraufbeschwören im Unbewußten der Öffentlichkeit zu lassen.
Der britische Historiker Anthony Sutton veröffentlichte in den 1980er Jahren eine Reihe von Publikationen über Skull and Bones und behauptete darin unter anderem: »Die operative Geschichte des Ordens kann nur verstanden werden im Rahmen der Hegelianischen Dialektik. Das ist ganz einfach die Vorstellung, daß Geschichte durch Konflikte entsteht. Aus diesem Axiom folgt, daß ein künstlich kontrollierter Konflikt eine vorherbestimmte Geschichte erzeugen kann.« Allerdings verzerrt Sutton hier Hegels Philosophie. Der Orden wendet nicht dessen Logik an, der zufolge Begriffe notwendig polare Widersprüche hervorbringen, sondern benutzt Hegels Denkoperation, um ganz oberflächlich erwünschte – und oft gar nicht polare – Gegensätze hervorzurufen, und sie zu geplanten Entwicklungen gegeneinander zu führen, wie Herbert Ludwig 2016 in einem Blogartikel mit dem Titel Mit Hegel die Welt unterwerfen hervorhob.
Als der Historiker Heinz-Dieter Kittsteiner in seinem Buch Out of Control – Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses 2004 beobachtete, daß die nachhegelsche Geschichtsphilosophie sich mit dem Anspruch, Geschichte »machen«zu müssen, von der prozessualen Geschichte (im Sinne Burckhardts) abwendet, prägte er dafür den Begriff der »heroischen Moderne«. Kittsteiner setzt postmodern die bei Hegel abgestrafte »romantische Ironie« dagegen, die nur noch erzählend beobachtet, wie Menschen unbewußt in den Geschichtsprozeß eingegliedert agieren. Hermann Lübbe hält bei gleicher Diagnose wie Kittsteiner die politischen Konsequenzen aus Hegels Denken indes für letztlich liberale: »Ihre [i. e.von Hegels Geschichtsphilosophie] politische Liberalität besteht darin, daß sie niemanden auffordert oder ermächtigt, totalitär die Menschheit der Zukunft als Partei der Gegenwart zu repräsentieren«.
Ich glaube, daß es sich anders verhält. Hegel ist weder in Wirklichkeit ein Liberaler, noch ein postmoderner Ironiker avant la lettre, sondern ein »politischer Gnostiker«, wie Eric Voegelin in seiner Münchner Antrittsvorlesung (Wissenschaft, Politik und Gnosis, 1959) begründet hat.
Außer einigem wenigem Erhaltenen ist die spätantike Gnosis der Nachwelt nur durch die Gegnerschriften bekanntgeworden. Hugo Ball hat in seinem seltsamen Spätwerk Byzantinisches Christentum (1923) genauso wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner in seinem ebenfalls mindestens genauso seltsamen Spätwerk über den Heiligen Dionysius vomAreopag (1995) die Gnosis ohne jede voreingenommene Gegnerschaft dargestellt. Taucht man in diese beiden Bücher ein, merkt man bald, wie stark gnostisch beeinflußt mancher viel spätere Philosoph doch ist, ohne daß man es von ihm dachte. Worum geht es also im gnostischen Denken? Ball resümiert, Gnosis sei »die geheime Einsicht in das geheime Verhältnis Gottes zur Welt«. Durch reines Denken (nichts anderes bedeutet das Wort gnōsis) gewinnt der Mensch Einsicht in die verborgenen Mittel, derer sich der »Übervernünftige« bedient, um die Menschen mit sich zu verbinden. Zu diesen Mitteln gehört zuvörderst das Wirken des Bösen (die spätantike Gnosis kennt hier ganze Heerscharen und Ordnungssysteme von Dämonen und »Satansengeln«) in der verruchten Welt. Doch der Logos wird ausgesandt, um die »gefallene Weisheit« zu erlösen. Der Philosophenpriester oder Mystagoge kann im Grunde nicht an die Einzigartigkeit Christi glauben, weil er selber an dessen Göttlichkeit teilhat. Die Aufgabe der Menschheit ist es nach gnostischer Auffassung, schließlich Gott zu erlösen, indem sie ihn absolut erkennt. Der Weg dorthin verläuft über Stufen, deren nächstniedrige überwunden werden muß, indem sie in der nächsthöheren aufgeht. Gott und der Mensch sind radikal getrennt worden und müssen durch Erkenntnis wieder versöhnt werden, alldieweil die geschichtliche Erdenwelt vom abgefallenen Engel beherrscht wird. Genau auf dem Höhepunkt, wo der Mensch »die Herrlichkeit dieses Dämons auch äußerlich geschichtlich verwirklichte«, komme »der Zeitpunkt, wo dieses Selbstbewußtsein der Unendlichkeit endlich erwachen sollte« (E. H. Schmitt, Die Gnosis, 1903). Bei diesem Neognostizisten namens Schmitt weiß man nicht mehr, ob dieser Hegel oder Hegel die Gnostiker gelesen hat. Aber genau das ist der springende Punkt: es gibt eine verteufelte Nähe der beiden.
Eric Voegelins These ist, daß die Verschüttung der alten Gnosis so gründlich war, daß die gnostische Bewegung, als sie in der Moderne ihre revolutionäre Phase erreichte, in ihrem Wesen nicht mehr erkannt werden konnte. In der modernen Gnosis wird die Erlösung aus der Anomie gesichert durch die Annahme eines absoluten Geistes, der in der dialektischen Entfaltung des Bewußtseins aus der Entfremdung zu sich selbst kommt: »Die Gnosis als das Wissen um die Verfallenheit an die Welt ist in einem das Mittel, ihr zu entfliehen« – wir erinnern uns an den Speer, der die Wunde schlug … Die Wirklichkeit muß zerstört werden – dies sei, so Voegelin, das große Anliegen der Gnosis. An die Stelle der Wirklichkeit tritt der Gnostiker selbst, der die Unabhängigkeit seines Daseins durch die Spekulation erzeugt.
Auch Voegelin entdeckt in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes ein keineswegs harmloses Wortspiel. Wenn Hegel die Philosophie auffordert, »ihren Namen der Liebe zum Wissen ablegen zu können, und wirkliches Wissen zu sein« dann verdeckt Hegel »den Sprung dadurch, daß er Philosophie und Gnosis ins Deutsche übersetzt, um durch das Wortspiel mit dem Wissen von der einen in die andere zu gleiten«.
Wir haben bereits drei Wortspielereien Hegels gefunden: ein doppelter Geistbegriff, ein doppelter Offenbarungsbegriff und ein doppelter Wissensbegriff. Wozu dienen diese Äquivokationen? Offensichtlich als Auslöser der Geschichtsbewegung, der eben dadurch unabweisliche Notwendigkeit verliehen werden kann. Ist mithin schon Hegels Denkakt selbst manipulativ oder erst das daraus abgeleitete Geschichtsmanagement? Hüte man sich vor Hegel oder vor den selbsternannten Planverwaltern? Voegelin zerlegt dieses Problem derart präzise, daß seine Überlegungen vollständig zitiert gehören:
»Der gnostische Denker begeht in der Tat einen intellektuellen Schwindel, und er weiß, daß er es tut. Drei Stadien lassen sich in der Bewegung des Geistes unterscheiden. An der Oberfläche liegt der Akt der Täuschung selbst. Er könnte Selbsttäuschung sein; und sehr oft ist er es auch, wenn die Spekulation eines schöpferischen Denkers in der Form des Dogmas einer Massenbewegung zum abgesunkenen Kulturgut wird. Wo aber das Phänomen in seinem Ursprung zu fassen ist, wie bei Marx und Nietzsche, liegt tiefer als die Täuschung das Wissen um sie. Der Denker gibt sich nicht aus der Hand; die libido dominandi wendet sich gegen ihr eigenes Werk und will auch die Täuschung noch beherrschen. Diese gnostische Rückwendung gegen sich selbst entspricht geistig der philosophischen Umkehr, wie ich sagte, der periagogé im platonischen Sinn. Aber die gnostische Bewegung des Geistes führt nicht zur erotischen Öffnung der Seele, sondern zu dem tiefsten Punkt des Beharrens in der Täuschung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revolte gegen Gott enthüllt.«
Wenn Voegelin recht hat, steht es ärger als befürchtet um Hegels »dämonische Verlogenheit«. Dann widersetzt sich Hegels Denken nicht nur dem aufrichtigen individuellen Erkenntniswillen (Iljin), sondern will auch noch bewußt in die Geschichte eingreifen (Lübbe) und zuletzt in einem Akt der Hybris Gott überwinden. Ich frage mich allerdings, ob dies alles der Gnosis anzulasten ist, wie Voegelin meint.
Seine Vorstellung, die Gnosis als solche (also sowohl die spätantike als auch die moderne) wolle die Wirklichkeit zerstören, läßt sich mit Kaltenbrunner und Ball jedenfalls nicht halten. Voegelins Kontinuität unterstellender Satz »Gnosis will Herrschaft über das Sein« deutet diese rückwirkend von ihrer »revolutionären Phase« aus. Die gnostische Geisteswissenschaft war, wenn man so will, im alten Orient normal science. Als Arkandisziplin war sie jedoch nie auf weltlichen Umsturz aus. Insofern wäre in Hinblick auf Hegel, Marx und die Folgen von »politischem Gnostizismus« zu sprechen, in welchem aus der Erkenntnis des Bösen in der Welt dessen politische Überwindung erzwungen werden soll. »Wichtig bleibt nur, niemandem zu gestatten, den Platz der Vorsehung einzunehmen« (Hermann Lübbe) – und zwar weder der Politik, noch der Medizin, bei welcher der Philosoph Giorgio Agamben kürzlich eine horrende gnostische Anmaßung diagnostiziert hat, noch Philosophen, die die »wahre Gestalt, in der die Wahrheit existiert« ihrem eigenen System vorbehalten.