Abstand von Hegel

PDF der Druckfassung aus Sezession 97/ August 2020

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Vor fünf­zig Jah­ren gab der gro­ße Bewah­rer des Kon­ser­va­tis­mus Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner im Frei­bur­ger Rom­bach-Ver­lag einen Sam­mel­band mit dem Titel Hegel und die Fol­gen (1970) her­aus. Zeit­ty­pisch dreh­te sich so man­ches um den Links­he­ge­lia­nis­mus und Hegels mar­xis­ti­sches Erbe im Ost­block und in der dama­li­gen »Neu­en Lin­ken«. Doch irgend­wie woll­ten sei­ne Bei­trä­ger selbst nach erfolg­ter Ent­mar­xi­fi­zie­rung Hegel nicht reha­bi­li­tie­ren. Was hielt sie so auf Abstand? Es hät­te doch nahe­ge­le­gen, daß Kon­ser­va­ti­ve sich auf Hegel rück­be­zie­hen: Er war es gewe­sen, der den preu­ßi­schen Staat als den nach dem Durch­gang durch die Welt­ge­schich­te in Deutsch­land zu sich selbst gekom­me­nen Welt­geist sah. Er war es gewe­sen, der mit sei­nen Tübin­ger Stifts­kol­le­gen Höl­der­lin, Fich­te und Schel­ling ein letz­tes Mal den Deut­schen Idea­lis­mus als heroi­schen Ver­such, den ent­frem­de­ten moder­nen Men­schen mit sei­nem Ursprung zu ver­söh­nen, in die Welt gesetzt hat­te. Er war es gewe­sen, der die »Sitt­lich­keit der Sit­te« dem Kant­schen Uni­ver­sa­lis­mus ent­ge­gen­ge­setzt hat­te. Und er war es gewe­sen, der das Chris­ten­tum mit dem ver­nünf­ti­gen Den­ken wie­der zusam­men­füh­ren wollte.

Liegt es also tat­säch­lich an Marx’ Umset­zung der Hegel­schen Phi­lo­so­phie in die kom­mu­nis­ti­sche Dok­trin, daß Kon­ser­va­ti­ve Hegel nicht über den Weg trau­en? Armin Moh­ler hat die­sen Vor­be­halt kon­se­quent durch­ge­dacht: »kon­ser­va­tiv« zu sein bedeu­tet für ihn, wie­der Anschluß an ein Den­ken zu suchen, dem zufol­ge Geschich­te nicht line­ar, also fort­schritt­lich und auf Erlö­sung aus­ge­rich­tet, ver­läuft, son­dern die »ewi­ge Wie­der­kehr des Glei­chen« erken­ne. Moh­lers Ver­ständ­nis der »Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on« zielt dar­auf, das linea­re christ­li­che Geschichts­bild zu spren­gen, auch in sei­ner säku­la­ren Erschei­nung, dem Libe­ra­lis­mus. Auf den Schul­tern von Nietz­sche ste­hend, dekre­tiert Moh­ler: Geschichts­phi­lo­so­phie gibt es nicht! Auch Odo Mar­quard for­mu­lier­te 1973 ful­mi­nant sei­ne Schwie­rig­kei­ten mit der Geschichts­phi­lo­so­phie: Die Phi­lo­so­phen hät­ten die Welt nur ver­schie­den ver­än­dert, es kom­me dar­auf an, sie zu verschonen.

Kön­nen wir Heu­ti­gen also Hegel end­gül­tig in den Sack stop­fen und zubin­den? Selbst wenn wir es täten – der Teu­fel wür­de sich wie­der frei­stram­peln und uns ins Genick sprin­gen. »Den Teu­fel spürt das Völk­chen nie // und wenn er sie beim Kra­gen hät­te« läßt Goe­the den Mephis­to zu Faust sagen. Soll hei­ßen: Hegels Phi­lo­so­phie wirkt in der Geschich­te, gera­de wenn und weil sie oft­mals kein direkt erkenn­ba­res Pro­gramm irgend­wel­cher Akteu­re ist. Es ist mit­hin wich­tig, die Spu­ren rück­zu­ver­fol­gen und zu schau­en, was genau an Hegels Phi­lo­so­phie es ist, das Eric Voe­gel­in gar von sei­ner »dämo­ni­schen Ver­lo­gen­heit« hat spre­chen las­sen. Ich neh­me bei mei­ner Spu­ren­su­che die­je­ni­gen mit, die wis­sen wol­len, wo die labi­le Gren­ze von auf­rich­ti­gem phi­lo­so­phi­schen Stre­ben nach höhe­rem Bewußt­sein und des­sen mani­pu­la­tiv her­bei­phi­lo­so­phier­ter Illu­si­on ver­lau­fen könnte.

»Ein Ver­dacht schafft sich Grün­de« (Boris Groys). Wenn ich mit Mani­pu­la­ti­ons­ver­dacht an einen Den­ker her­an­tre­te, wer­de ich ihn auch als Trug­geist vor­fin­den. Um dem Bestä­ti­gungs­feh­ler zuvor­zu­kom­men, griff ich also zu einem von mir geschätz­ten christ­li­chen Autor, der in Hegels Den­ken ein »ehr­li­ches Rin­gen nach­Wahr­heit und Klar­heit« sieht. Der rus­si­sche Phi­lo­soph Iwan Iljin hält in sei­ner Phi­lo­so­phie Hegels als kon­tem­pla­ti­ve Got­tes­leh­re (1946) den Mani­pu­la­ti­ons­ver­dacht für eine Anfän­ger-Denk­blo­cka­de. Wer Hegel ver­ste­hen wol­le, müs­se bereit sein, den »nie­de­ren Gesichts­punkt« der kon­kre­ten Wirk­lich­keit hin­ter sich zu las­sen und sich auf ein radi­kal ande­res »spe­ku­la­ti­ves Schau­en« der wah­ren Wirk­lich­keit ein­zu­las­sen – um »›hege­lisch‹ zu den­ken und das von Hegel Gemein­te rich­tig und selb­stän­dig zu gewah­ren«. Die dua­lis­ti­sche Zer­ris­sen­heit und Ent­frem­dung von der wirk­li­chen Welt, unter der der moder­ne Mensch mit sei­nem »unglück­li­chen Bewußt­sein« (Hegel) lei­de, kön­ne und müs­se allein durch das Den­ken selbst voll­stän­dig über­wun­den wer­den. Der Speer, der die Wun­de schlug, kann sie hei­len. Nur muß das Den­ken dazu völ­lig umge­baut wer­den. Dar­um, so Hegel in sei­ner Logik, »ist es die ers­te Auf­ga­be der Phi­lo­so­phie, das Wesen die­ses nied­ri­gen Gesichts­punkts zu ent­hül­len und zu über­win­den, von ihm los­kom­men heißt aus dem unauf­ge­schlos­se­nen Reich der Fins­ter­nis tre­ten, die Fes­seln der End­lich­keit und der Ver­damm­nis abwer­fen und den Weg der Läu­te­rung durch das Feu­er des Den­kens betre­ten.« Ver­laßt die Welt und folgt mir nach …

Mein Ver­dacht Hegel gegen­über wur­de durch Iljin nur grö­ßer. Selbst wenn die­ser nach der Initia­ti­on in den »Weg der Läu­te­rung« für sich rekla­miert, kein Hege­lia­ner gewor­den zu sein und die »Bril­le« die­ses Den­kens jeder­zeit wie­der abneh­men zu kön­nen, setzt eine sol­che Ein­wei­hungs­zu­mu­tung kri­ti­sches Den­ken matt.

Es bleibt also wenig ande­res übrig, als Hegel genau­er zu beleuch­ten. Da es den Rah­men die­ses Bei­trags bei wei­tem spren­gen wür­de, und außer­dem wei­ter weg statt näher hin zur genann­ten Pro­ble­ma­tik füh­ren wür­de, unter­las­se ich die Dar­stel­lung von Hegels Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes (1807), der Wis­sen­schaft der Logik (1812 – 1816), sei­ner Enzy­klo­pä­die (1817) sowie sei­ner Vor­le­sun­gen zur Geschich­te (gehal­ten 1805 / 06–1830) und der Vor­le­sun­gen über die Phi­lo­so­phie der Reli­gion (gehal­ten 1821 – 1831). Der Vor­teil des Sys­tem­den­kers ist es, daß alles mit allem zusam­men­hängt, und wenn man einen Gedan­ken genau­er betrach­tet, man alle ande­ren um die Ecke her­vor­lu­gen sieht. Aus die­sem Grun­de dürf­te es weit­aus sinn­vol­ler sein, sich zwei Grund­be­grif­fe Hegels vor­zu­neh­men, näm­lich »Geist« und »Geschich­te«. Mei­ne Schluß­fol­ge­rung dar­aus wird sein, daß Hegel ein »poli­ti­scher Gnos­ti­ker« (Eric Voe­gel­in) ist, was stär­ker gegen Hegel als gegen die Gno­sis spricht.

1. Geist – Hegels Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes erzählt gewis­ser­ma­ßen die Bio­gra­phie Got­tes in der Welt: der Geist, der sich in der »man­nig­fal­ti­gen« (ein bei den Deut­schen Idea­lis­ten aus­ge­spro­chen belieb­tes Attri­but) Natur zeigt, kommt im Men­schen zu bewuß­tem Aus­druck. »Geist« ist das, was sich stets und stän­dig aus­zu­drü­cken sucht – in Mate­rie, For­men und beseel­tem Leben­di­gen. Der Mensch ist das Vehi­kel, mit­tels des­sen der kos­mi­sche Geist schließ­lich sei­nen Aus­druck zur Voll­endung bringt. Denn der Mensch kommt eben dadurch erst zur Voll­endung, daß er sich als Vehi­kel eben­die­ses umfas­sen­den Geis­tes begreift, faßt der Hege­lia­ner Charles Tay­lor (Hegel, dt. 1978) die­se Wech­sel­sei­tig­keit zusam­men. Bei­der­sei­ti­ge Voll­endung also.

In der Hegel­for­schung fiel an die­sem mit bezwin­gen­der Logik her­ge­lei­te­ten Inein­an­der­auf­ge­hen auf: Haben wir es nicht eigent­lich mit zwei Geist­be­grif­fen zu tun, einem theo­lo­gi­schen und einem anthro­po­lo­gi­schen? Auf der Men­schen­sei­te objek­ti­viert sich das Sub­jek­ti­ve nach und nach – sowohl in der Mensch­heits­ge­schich­te als auch in jeder Lebens­ge­schich­te: Von ihren frü­hes­ten Ent­wick­lungs­stu­fen über die Hoch­kul­tu­ren, die Anti­ke usw. wird die Mensch­heit immer selbst­be­wuß­ter, bis die­ses Selbst­be­wußt­sein in der sei­ner­zei­ti­gen Gegen­wart kul­mi­niert. Das Indi­vi­du­um voll­zieht die­se Geschichts­ent­wick­lung eben­falls nach: Es ent­wi­ckelt bis zum Erwach­se­nen­al­ter immer mehr Ich­be­wußt­sein (»Sub­jek­ti­vi­tät«), zu der als höchs­te Stu­fe die reli­gö­se Refle­xi­on (das »Zusich­selbst­kom­men«) gehö­ren muß. Dies ist der zwei­te Geist­be­griff, der anthropologische.

Und nun die Ver­knüp­fung: »Gott soll ich mich gemäß machen; dies ist mei­ne, die mensch­li­che Arbeit. Die­sel­be Arbeit ist Got­tes von sei­ner Sei­te; er bewegt sich zum Men­schen und ist durch Auf­he­bung des Men­schen; was als mein Tun erscheint, ist Got­tes Tun und umge­kehrt Gott nur durch mei­ne Tätig­keit.« (Hegel, Enzy­klo­pä­die) Der deut­sche Mys­ti­ker Ange­lus Sile­si­us hat­te einen ganz ähn­li­chen Zau­ber for­mu­liert: »Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu leben kann, // werd ich zunicht, muß er vor Not den Geist auf­ge­ben«. In der Ein­lei­tung zu den Vor­le­sun­gen zur Geschich­te der Phi­lo­so­phie kommt Hegel zu dem Schluß: »Was das Den­ken sucht, ist voll­bracht: eine ver­söhn­te Welt, eine gött­li­che Welt, die rea­li­sier­te geis­ti­ge Welt, das Reich Got­tes auf Erden.« Der Gegen­auf­klä­rer Franz von Baa­der nann­te dies eine »got­tes­leug­ne­ri­sche Vor­stel­lung«, zu glau­ben, Gott erlan­ge erst im Men­schen sein voll­kom­me­nes Dasein. Karl Albert bezeich­ne­te Hegels Phi­lo­so­phie dage­gen als »Got­tes­dienst« (Vom Mythos zum Logos, 1983). Die aus­ge­spro­che­ne Absicht der Hegel­schen Vor­le­sun­gen sei näm­lich, »Gott zu erken­nen«. »Mensch­li­che Ver­nunft«, mit­hin ein anthro­po­lo­gi­scher Begriff, den Hegel »sub­jek­tiv-kon­kret« nennt, soll Gott durch Her­vor­brin­gung von ein­an­der über­win­den­den – »dia­lek­ti­schen« – Begrif­fen erken­nen, und zwar an sei­nem geschicht­li­chen Wir­ken, und ihn dadurch mit sei­ner Schöp­fung am Ende ver­söh­nen. Was für ein gigantischesProgramm!

Mar­tin Puder, einer der Bei­trä­ger des Kal­ten­brun­ner-Ban­des, zeigt, daß Hegel mit der Hil­fe eines wei­te­ren Wort­spiels eben­die­se Bewe­gung in die Welt- und Heils­ge­schich­te bringt: »offen­bar« (= das der Ver­nunft Ein­sich­ti­ge) und »geof­fen­bart« (= das von einer höhe­ren Macht Ver­kün­de­te und der Ver­nunft Inkom­men­sura­ble). Durch das Wort­spiel »sol­len zwei extrem ent­ge­gen­ge­setz­te Got­tes­be­grif­fe gezwun­gen wer­den, inein­an­der umzu­schla­gen«. Das hat Fol­gen, und nicht gerin­ge. Hegels gesam­te Phi­lo­so­phie läuft auf den Gedan­ken zu, daß Wider­sprü­che, die durch das Den­ken erkannt wer­den, des­halb erkannt wer­den kön­nen, weil sie real sind – weil es sie in der Geschich­te wirk­lich gibt, weil ihre von Hegel »dia­lek­tisch« genann­te Auf­he­bung tat­säch­lich pas­siert. Weil der Geist sich suk­zes­si­ve ver­wirk­licht (Offen­ba­rung), muß die­ser Pro­zeß nur noch vom Men­schen ein­ge­se­hen (ihm offen­bar) wer­den. Der Geist wird in einem not­wen­di­gen Pro­zeß Wirk­lich­keit, und wir kön­nen dabei zugucken!

2. Geschich­te – Der Wie­ner Phi­lo­soph Ernst Topitsch bemerk­te, daß sowohl satt­sam bekann­ter­wei­se Karl Marx und die mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schen Theo­re­ti­ker und Staa­ten­len­ker, als auch bei­spiels­wei­se der NS-Rechts­phi­lo­soph Juli­us Bin­der sahen, wie her­vor­ra­gend sich die­se Denk­for­men für die eige­nen Absich­ten und Zwe­cke gebrau­chen lie­ßen: »Wir müs­sen den Staat begrei­fen als Wirk­lich­keit des Geis­tes und kön­nen ihn dann begrei­fen als Wirk­lich­keit der Frei­heit« (Bin­der 1935, Der Idea­lis­mus als Grund­la­ge der Staats­phi­lo­so­phie).

Sobald die in einem bestimm­ten Lan­de zu einer bestimm­ten Zeit an der Macht Befind­li­chen sich anschi­cken, ihre eige­ne bestehen­de Herr­schafts­ord­nung als einen Schritt in einem not­wen­di­gen Pro­zeß zu deu­ten, und die nach der Macht Stre­ben­den sich auf die näm­li­che Wei­se als Akteu­re der Geschich­te ver­ste­hen, schlägt die Dia­lek­tik des Geschichts­ver­laufs in Mani­pu­la­ti­on der Zukunft um.

Der kon­ser­va­ti­ve Phi­lo­soph Her­mann Lüb­be stimmt Topitschs Kri­tik zu, hält aber Hegels Geschichts­phi­lo­so­phie nicht für eine Theo­rie, aus der sich über­haupt akut poli­ti­sche Pra­xis begrün­den und legi­ti­mie­ren lie­ße. Wenn also kon­kre­te his­to­ri­sche Gestal­ten ihren Hegel zur Hand neh­men, um ihren eige­nen Ort in der Geschich­te zu legi­ti­mie­ren, ver­feh­len sie des­sen Grund­ge­dan­ken, so Lüb­be, und ernen­nen sich selbst zu »Geschichts­plan­ver­wal­tern«: Die Beru­fung auf den nach Her­kunft und Zukunft angeb­lich durch­schau­ten Gang der Geschich­te gehö­re zu den wich­tigs­ten ideo­lo­gi­schen Herr­schafts­mit­teln. Wer aus erfolg­reich prä­ten­dier­ter Kennt­nis des welt­ge­schicht­li­chen Ziels der Mensch­heit sei­ne Poli­tik zu begrün­den ver­mö­ge, habe ideo­lo­gisch jeg­li­ches Recht auf sei­ne Sei­te gebracht: »Er ist in der Lage, in der Feind­er­klä­rung des Geg­ners die­sen zum Mensch­heits­feind zu erklären.

«In der Online-Aus­ga­be des Nach­rich­ten­ma­ga­zins Focus las man im Mai die­ses Jah­res einen Gast­bei­trag des Autors Bill Gates. Dar­in warb die­ser für einen Impf­stoff zur Bekämp­fung künf­ti­ger Grip­pe­pan­de­mien. Die Schluß­pas­sa­ge sei­nes Bei­trags im Lich­te mei­ner bis­he­ri­gen Befun­de zu hege­lia­ni­schem Geschichts­ma­nage­ment zu lesen könn­te auf­schluß­reich sein.

»Die Geschich­te folgt kei­nem fest­ge­leg­ten Kurs. Die Men­schen ent­schei­den, wel­che Rich­tung sie ein­schla­gen wol­len, und kön­nen auch falsch abbie­gen. Die Jah­re nach 2021 mögen den Jah­ren nach 1945 ähneln. Die bes­te Ana­lo­gie für heu­te könn­te aber der 10. Novem­ber 1942 sein. Groß­bri­tan­ni­en hat­te gera­de sei­nen ers­ten Land­sieg des Krie­ges errun­gen, und Win­s­ton Chur­chill erklär­te in einer Rede: ›Dies ist nicht das Ende. Es ist noch nicht ein­mal der Anfang vom Ende. Aber viel­leicht ist es das Ende des Anfangs‹.

«Gates hat­te im Vor­spann die­ses Zitats den Staa­ten der Welt ver­hei­ßen oder ange­droht, daß sie »aus der Geschich­te ler­nen« und in Zukunft an Seu­chen-Plan­spie­len teil­neh­men, die Durch­imp­fung der Welt­be­völ­ke­rung finan­zie­ren, nicht ein­mal die »iso­la­tio­nis­tischs­te Regie­rung« außen vor las­sen und sich glo­bal auf einen Bio­waf­fen­an­griff vor­be­rei­ten soll­ten. Zuerst sug­ge­riert er nun die völ­li­ge Offen­heit des Geschichts­ver­laufs, demen­tiert also vor­aus­ei­lend jeden mög­li­chen Ein­wand gegen etwa­ige Pla­nungs­ab­sich­ten. Dem gegen­wär­ti­gen his­to­ri­schen Ereig­nis (Coro­na­pan­de­mie) und den offen­kun­dig nur auf bestimm­te Wei­se his­to­risch rich­ti­gen (»die Men­schen kön­nen auch falsch abbie­gen«) Ent­schei­dun­gen wird sodann ihr welt­ge­schicht­li­cher Ort bestimmt. Für Lüb­be ist sol­che »per­ma­nen­te Epo­cha­li­sie­rung« ein typi­sches Motiv tota­li­tä­rer Ideo­lo­gen. Wenn Gates den neu­en Mensch­heits­feind in per­fek­ter Ana­lo­gie zum Kriegs­geg­ner Nazi­deutsch­land, den zu über­win­den erst der Beginn einer neu­en bis heu­te andau­ern­den Epo­che der Frei­heit gewe­sen sein soll, bestimmt, indem er »das Virus« und poten­ti­el­le his­to­risch lei­der falsch abbie­gen­de »Virus­leug­ner« mit­ein­an­der iden­ti­fi­ziert, macht er sich selbst zum– fast gro­tesk offen­sicht­li­chen – Sach­wal­ter der Vorsehung.

Es ist nicht anzu­neh­men, daß Bill Gates Hegel­le­ser ist. Er ist aller­dings wie alle Ange­hö­ri­gen der glo­ba­len Eli­te ver­traut mit dem Arse­nal meta­po­li­ti­scher Metho­den des Geschichts­ma­nage­ments. Rudolf Stei­ner hat in einem Vor­trag 1920 bemerkt: »Hegels Phi­lo­so­phie ist in einer gewis­sen Wei­se der Grund­nerv der Geheim­leh­re des Wes­tens«. Stei­ner hat­te den ame­ri­ka­ni­schen Eli­te-Orden Skull and Bones vor Augen, kann­te aber auch die Fabia­nis­ten, die Euge­nic Socie­ty (die 1945 umbe­nannt wur­de in Plan­ned Paren­thood und der Bill Gates’ Vater vor­stand) und eine Anzahl ein­fluß­rei­cher okkul­ter Ver­ei­ni­gun­gen des fin de siè­cle in Groß­bri­tan­ni­en und den USA, deren Geist­leh­ren spä­ter ins New Age und in den Trans­hu­ma­nis­mus mün­de­ten. Hegels Idee, daß die Welt nichts ande­res sei als eine Emana­ti­on von Gedan­ken, und auch nur durch Gedan­ken erfaßt und beherrscht wer­den kön­ne, woll­te Marx hand­fest auf die Füße stellen.

Die ame­ri­ka­ni­schen Okkul­tis­ten hiel­ten sich womög­lich fein zurück, weil sie wuß­ten, daß man mit die­sem Gedan­ken viel bes­ser die Welt­ge­schich­te mana­gen könn­te als durch offe­nen Klas­sen­kampf. Die Revo­lu­ti­on, so schrieb der His­to­ri­ker Jacob Bur­ck­hardt wei­se, hät­te näm­lich »nur dann ein Recht, wenn sie unbe­wußt und unbe­schwo­ren aus der Erde steigt«. Es ist frei­lich mög­lich, das bewuß­te Her­auf­be­schwö­ren im Unbe­wuß­ten der Öffent­lich­keit zu lassen.

Der bri­ti­sche His­to­ri­ker Antho­ny Sut­ton ver­öf­fent­lich­te in den 1980er Jah­ren eine Rei­he von Publi­ka­tio­nen über Skull and Bones und behaup­te­te dar­in unter ande­rem: »Die ope­ra­ti­ve Geschich­te des Ordens kann nur ver­stan­den wer­den im Rah­men der Hege­lia­ni­schen Dia­lek­tik. Das ist ganz ein­fach die Vor­stel­lung, daß Geschich­te durch Kon­flik­te ent­steht. Aus die­sem Axi­om folgt, daß ein künst­lich kon­trol­lier­ter Kon­flikt eine vor­her­be­stimm­te Geschich­te erzeu­gen kann.« Aller­dings ver­zerrt Sut­ton hier Hegels Phi­lo­so­phie. Der Orden wen­det nicht des­sen Logik an, der zufol­ge Begrif­fe not­wen­dig pola­re Wider­sprü­che her­vor­brin­gen, son­dern benutzt Hegels Denk­ope­ra­ti­on, um ganz ober­fläch­lich erwünsch­te – und oft gar nicht pola­re – Gegen­sät­ze her­vor­zu­ru­fen, und sie zu geplan­ten Ent­wick­lun­gen gegen­ein­an­der zu füh­ren, wie Her­bert Lud­wig 2016 in einem Blog­ar­ti­kel mit dem Titel Mit Hegel die Welt unter­wer­fen hervorhob.

Als der His­to­ri­ker Heinz-Die­ter Kitt­stei­ner in sei­nem Buch Out of Con­trol – Über die Unver­füg­bar­keit des his­to­ri­schen Pro­zes­ses 2004 beob­ach­te­te, daß die nach­he­gel­sche Geschichts­phi­lo­so­phie sich mit dem Anspruch, Geschich­te »machen«zu müs­sen, von der pro­zes­sua­len Geschich­te (im Sin­ne Bur­ck­hardts) abwen­det, präg­te er dafür den Begriff der »heroi­schen Moder­ne«. Kitt­stei­ner setzt post­mo­dern die bei Hegel abge­straf­te »roman­ti­sche Iro­nie« dage­gen, die nur noch erzäh­lend beob­ach­tet, wie Men­schen unbe­wußt in den Geschichts­pro­zeß ein­ge­glie­dert agie­ren. Her­mann Lüb­be hält bei glei­cher Dia­gno­se wie Kitt­stei­ner die poli­ti­schen Kon­se­quen­zen aus Hegels Den­ken indes für letzt­lich libe­ra­le: »Ihre [i. e.von Hegels Geschichts­phi­lo­so­phie] poli­ti­sche Libe­ra­li­tät besteht dar­in, daß sie nie­man­den auf­for­dert oder ermäch­tigt, tota­li­tär die Mensch­heit der Zukunft als Par­tei der Gegen­wart zu repräsentieren«.

Ich glau­be, daß es sich anders ver­hält. Hegel ist weder in Wirk­lich­keit ein Libe­ra­ler, noch ein post­mo­der­ner Iro­ni­ker avant la lett­re, son­dern ein »poli­ti­scher Gnos­ti­ker«, wie Eric Voe­gel­in in sei­ner Münch­ner Antritts­vor­le­sung (Wis­sen­schaft, Poli­tik und Gno­sis, 1959) begrün­det hat.

Außer eini­gem weni­gem Erhal­te­nen ist die spät­an­ti­ke Gno­sis der Nach­welt nur durch die Geg­ner­schrif­ten bekannt­ge­wor­den. Hugo Ball hat in sei­nem selt­sa­men Spät­werk Byzan­ti­ni­sches Chris­ten­tum (1923) genau­so wie Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner in sei­nem eben­falls min­des­tens genau­so selt­sa­men Spät­werk über den Hei­li­gen Dio­ny­si­us vomAreo­pag (1995) die Gno­sis ohne jede vor­ein­ge­nom­me­ne Geg­ner­schaft dar­ge­stellt. Taucht man in die­se bei­den Bücher ein, merkt man bald, wie stark gnos­tisch beein­flußt man­cher viel spä­te­re Phi­lo­soph doch ist, ohne daß man es von ihm dach­te. Wor­um geht es also im gnos­ti­schen Den­ken? Ball resü­miert, Gno­sis sei »die gehei­me Ein­sicht in das gehei­me Ver­hält­nis Got­tes zur Welt«. Durch rei­nes Den­ken (nichts ande­res bedeu­tet das Wort gnō­sis) gewinnt der Mensch Ein­sicht in die ver­bor­ge­nen Mit­tel, derer sich der »Über­ver­nünf­ti­ge« bedient, um die Men­schen mit sich zu ver­bin­den. Zu die­sen Mit­teln gehört zuvör­derst das Wir­ken des Bösen (die spät­an­ti­ke Gno­sis kennt hier gan­ze Heer­scha­ren und Ord­nungs­sys­te­me von Dämo­nen und »Satansen­geln«) in der ver­ruch­ten Welt. Doch der Logos wird aus­ge­sandt, um die »gefal­le­ne Weis­heit« zu erlö­sen. Der Phi­lo­so­phen­pries­ter oder Mys­t­ago­ge kann im Grun­de nicht an die Ein­zig­ar­tig­keit Chris­ti glau­ben, weil er sel­ber an des­sen Gött­lich­keit teil­hat. Die Auf­ga­be der Mensch­heit ist es nach gnos­ti­scher Auf­fas­sung, schließ­lich Gott zu erlö­sen, indem sie ihn abso­lut erkennt. Der Weg dort­hin ver­läuft über Stu­fen, deren nächst­nied­ri­ge über­wun­den wer­den muß, indem sie in der nächst­hö­he­ren auf­geht. Gott und der Mensch sind radi­kal getrennt wor­den und müs­sen durch Erkennt­nis wie­der ver­söhnt wer­den, all­die­weil die geschicht­li­che Erden­welt vom abge­fal­le­nen Engel beherrscht wird. Genau auf dem Höhe­punkt, wo der Mensch »die Herr­lich­keit die­ses Dämons auch äußer­lich geschicht­lich ver­wirk­lich­te«, kom­me »der Zeit­punkt, wo die­ses Selbst­be­wußt­sein der Unend­lich­keit end­lich erwa­chen soll­te« (E. H. Schmitt, Die Gno­sis, 1903). Bei die­sem Neo­gnos­ti­zis­ten namens Schmitt weiß man nicht mehr, ob die­ser Hegel oder Hegel die Gnos­ti­ker gele­sen hat. Aber genau das ist der sprin­gen­de Punkt: es gibt eine ver­teu­fel­te Nähe der beiden.

Eric Voe­gel­ins The­se ist, daß die Ver­schüt­tung der alten Gno­sis so gründ­lich war, daß die gnos­ti­sche Bewe­gung, als sie in der Moder­ne ihre revo­lu­tio­nä­re Pha­se erreich­te, in ihrem Wesen nicht mehr erkannt wer­den konn­te. In der moder­nen Gno­sis wird die Erlö­sung aus der Ano­mie gesi­chert durch die Annah­me eines abso­lu­ten Geis­tes, der in der dia­lek­ti­schen Ent­fal­tung des Bewußt­seins aus der Ent­frem­dung zu sich selbst kommt: »Die Gno­sis als das Wis­sen um die Ver­fal­len­heit an die Welt ist in einem das Mit­tel, ihr zu ent­flie­hen« – wir erin­nern uns an den Speer, der die Wun­de schlug … Die Wirk­lich­keit muß zer­stört wer­den – dies sei, so Voe­gel­in, das gro­ße Anlie­gen der Gno­sis. An die Stel­le der Wirk­lich­keit tritt der Gnos­ti­ker selbst, der die Unab­hän­gig­keit sei­nes Daseins durch die Spe­ku­la­ti­on erzeugt.

Auch Voe­gel­in ent­deckt in der Vor­re­de zur Phä­no­me­no­lo­gie des Geis­tes ein kei­nes­wegs harm­lo­ses Wort­spiel. Wenn Hegel die Phi­lo­so­phie auf­for­dert, »ihren Namen der Lie­be zum Wis­sen able­gen zu kön­nen, und wirk­li­ches Wis­sen zu sein« dann ver­deckt Hegel »den Sprung dadurch, daß er Phi­lo­so­phie und Gno­sis ins Deut­sche über­setzt, um durch das Wort­spiel mit dem Wis­sen von der einen in die ande­re zu gleiten«.

Wir haben bereits drei Wort­spie­le­rei­en Hegels gefun­den: ein dop­pel­ter Geist­be­griff, ein dop­pel­ter Offen­ba­rungs­be­griff und ein dop­pel­ter Wis­sens­be­griff. Wozu die­nen die­se Äqui­vo­ka­tio­nen? Offen­sicht­lich als Aus­lö­ser der Geschichts­be­we­gung, der eben dadurch unab­weis­li­che Not­wen­dig­keit ver­lie­hen wer­den kann. Ist mit­hin schon Hegels Denk­akt selbst mani­pu­la­tiv oder erst das dar­aus abge­lei­te­te Geschichts­ma­nage­ment? Hüte man sich vor Hegel oder vor den selbst­er­nann­ten Plan­ver­wal­tern? Voe­gel­in zer­legt die­ses Pro­blem der­art prä­zi­se, daß sei­ne Über­le­gun­gen voll­stän­dig zitiert gehören:

»Der gnos­ti­sche Den­ker begeht in der Tat einen intel­lek­tu­el­len Schwin­del, und er weiß, daß er es tut. Drei Sta­di­en las­sen sich in der Bewe­gung des Geis­tes unter­schei­den. An der Ober­flä­che liegt der Akt der Täu­schung selbst. Er könn­te Selbst­täu­schung sein; und sehr oft ist er es auch, wenn die Spe­ku­la­ti­on eines schöp­fe­ri­schen Den­kers in der Form des Dog­mas einer Mas­sen­be­we­gung zum abge­sun­ke­nen Kul­tur­gut wird. Wo aber das Phä­no­men in sei­nem Ursprung zu fas­sen ist, wie bei Marx und Nietz­sche, liegt tie­fer als die Täu­schung das Wis­sen um sie. Der Den­ker gibt sich nicht aus der Hand; die libi­do domi­n­an­di wen­det sich gegen ihr eige­nes Werk und will auch die Täu­schung noch beherr­schen. Die­se gnos­ti­sche Rück­wen­dung gegen sich selbst ent­spricht geis­tig der phi­lo­so­phi­schen Umkehr, wie ich sag­te, der peri­ago­gé im pla­to­ni­schen Sinn. Aber die gnos­ti­sche Bewe­gung des Geis­tes führt nicht zur ero­ti­schen Öff­nung der See­le, son­dern zu dem tiefs­ten Punkt des Behar­rens in der Täu­schung, an dem sich als ihr Motiv und Zweck die Revol­te gegen Gott enthüllt.«

Wenn Voe­gel­in recht hat, steht es ärger als befürch­tet um Hegels »dämo­ni­sche Ver­lo­gen­heit«. Dann wider­setzt sich Hegels Den­ken nicht nur dem auf­rich­ti­gen indi­vi­du­el­len Erkennt­nis­wil­len (Iljin), son­dern will auch noch bewußt in die Geschich­te ein­grei­fen (Lüb­be) und zuletzt in einem Akt der Hybris Gott über­win­den. Ich fra­ge mich aller­dings, ob dies alles der Gno­sis anzu­las­ten ist, wie Voe­gel­in meint.

Sei­ne Vor­stel­lung, die Gno­sis als sol­che (also sowohl die spät­an­ti­ke als auch die moder­ne) wol­le die Wirk­lich­keit zer­stö­ren, läßt sich mit Kal­ten­brun­ner und Ball jeden­falls nicht hal­ten. Voe­gel­ins Kon­ti­nui­tät unter­stel­len­der Satz »Gno­sis will Herr­schaft über das Sein« deu­tet die­se rück­wir­kend von ihrer »revo­lu­tio­nä­ren Pha­se« aus. Die gnos­ti­sche Geis­tes­wis­sen­schaft war, wenn man so will, im alten Ori­ent nor­mal sci­ence. Als Arkan­dis­zi­plin war sie jedoch nie auf welt­li­chen Umsturz aus. Inso­fern wäre in Hin­blick auf Hegel, Marx und die Fol­gen von »poli­ti­schem Gnos­ti­zis­mus« zu spre­chen, in wel­chem aus der Erkennt­nis des Bösen in der Welt des­sen poli­ti­sche Über­win­dung erzwun­gen wer­den soll. »Wich­tig bleibt nur, nie­man­dem zu gestat­ten, den Platz der Vor­se­hung ein­zu­neh­men« (Her­mann Lüb­be) – und zwar weder der Poli­tik, noch der Medi­zin, bei wel­cher der Phi­lo­soph Gior­gio Agam­ben kürz­lich eine hor­ren­de gnos­ti­sche Anma­ßung dia­gnos­ti­ziert hat, noch Phi­lo­so­phen, die die »wah­re Gestalt, in der die Wahr­heit exis­tiert« ihrem eige­nen Sys­tem vorbehalten. 

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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