Wenn sich etwas nicht gut anfühlt, besteht heute Grund zur Klage. Motto: Man wird sich ja noch wohlfühlen wollen dürfen! An dieser Haltung ist mancherlei neu.
Erstens der fokussierte Blick auf die ganz persönliche Gefühlslage. Ihn gab es die längste Zeit der Menschheitsgeschichte nicht. Lassen wir dabei die elitäre Gestimmtheit der »Empfindsamkeit« (frühes 18. Jahrhundert) und der gesamten späteren Romantik beiseite. Nichts daran war ernsthaft im Volkstum verwurzelt. Ja, es gab – sogar überbordende – kollektive, politisch befeuerte Gefühlslagen. Der leidenschaftliche Nationalismus oder die Arbeiterkämpfe wären prominente Beispiele. Dabei ging es aber nie um das ganz individuelle Behagen.
Heute ist das »persönliche Gefühl« hingegen Grundschullehrstoff: Angeleitet wird der Blick ins eigene, bisher meist kindlich-phantastisch verdunkelte Innere. Es geht um die Entdeckung des subjektiven Empfindens und das Wissen um die Geltung desselben. Aufgabe (meist in »Sachkunde«, oft in ein »Projekt« ausgelagert): »Du sollst der Tante lieb die Hand geben. Du magst die Tante überhaupt nicht. Wie geht es Dir damit? Was tust Du? Was könntest Du tun?« Der Appell an die »eigenen Gefühle« und folglich die Ableitung eines Verhaltensmaßstabs daraus wird zeitig laut. Und es ist ein Appell, eine scharfgestellte Alarmglocke, ein überwaches, nahezu allergisches Immunsystem.
Zweitens: Das speziell moderne Making of von Gefühlen. Es wird heute paradigmatisch anders inszeniert als zuvor. Gefühle werden und wurden gemacht. Wir kennen viel- und zugleich einfältige Gefühlsnormen. Es gibt gewissermaßen (kulturell unterschiedliche) Gefühlspflichten. Wir wissen meist von Kindesbeinen an, was uns eigentlich aufregen, freuen oder ärgern oder zum Trauern bringen sollte. Es wird uns eingetrichtert und unter die Haut geschoben. Der Prozeß heißt: Sozialisation. Gefühle waren selten archaisch determiniert. Wie wir fühlen, ist großenteils sozial erlernt und kulturell tradiert. Diese Feststellung und diese Praxis sind also nicht neu.
Neu sind allerdings die Steuerungsinstanz (nämlich, geschichtlich gesehen, brandneu: eine innerweltliche Instanz, nicht mehr Gott und seine Gebote), und zweitens die Multimedialität der Gefühlserzeugung. Denken wir bloß an die emotionale Potenz von Filmmusik, an die Wirksamkeit von Werbung (feel the taste, feel the beat, feel the message etc.), an Emotionskaskaden, die sich über soziale Netzwerke verbreiten – etwa an Gefühlsmitreißer wie anno 2014 die »Ice Bucket Challenge«. Erinnern wir uns noch? Wer sich einen Kübel Eiswasser über den Kopf stülpte und drei Mitmacher animierte, dasselbe zu tun, kam mit einer (freiwilligen) Spende von zehn Dollar an eine Stiftung zur Erforschung der Nervenkrankheit »Amyotrophe Lateralsklerose« davon. Wer sich nicht traute, sollte 100 Dollar spenden. Aus lauter Rührungsenthusiasmus kamen binnen weniger Wochen Dutzende Millionen zusammen. Geschickt eingefädelt ist es einfach, Tränendrüsen oder Portemonnaies zu öffnen.
Drittens: Neben der Gefühlserweckung (durch Appell und Suggestion von Kindesbeinen an) und der Gefühlsbewirtschaftung (vor allem durch Massenmedien) verfügen wir nun über ganz phantastische Gefühlsstabilisatoren. Das sind betonierte Anker für den Gefühlsstrom des Alltags. Spätestens seit den 1980er Jahren (Stichwort: »Männergruppen«) sprechen wir vom Emotional Turn. Wer je mit dem Modethema »Gewaltfreie Kommunikation« (GfK) konfrontiert war, weiß, wovon die Rede ist. Kanalisierte Gefühle (oft sogar anti-instinktiv) sind längst ein wesentlicher politischer Faktor. Es gibt felsenfeste Gefühlsnormen. Wer abweicht, ist verdächtig.
Diese drei Thesen zur modernen Gefühlsideologie sind in ihrem Zusammenklingen paradigmatisch für unsere Gegenwart. Entscheidend ist die übergeordnete Stellung des Individuums. Gefühlspolitik wurde hingegen seit langem betrieben. Bereits Gustave Le Bon hatte in seiner Psychologie der Massen (1895) das »Weibische«, Hysterisierbare an kollektiven Aufständen markiert. Auch Hitler stellte in Mein Kampf (1925) fest, daß die Masse der Deutschen in ihrer überwiegenden Mehrheit so feminin veranlagt und eingestellt« sei, »daß weniger nüchterne Überlegung als vielmehr gefühlsmäßige Empfindung sein Denken und Handeln bestimmt.«
Die Soziologen Max Weber und Norbert Elias gingen hingegen vor etwa hundert Jahren mit guten Gründen noch davon aus, daß die Menschen im Zuge der Modernisierung ihre bis dato ungeordnet hausierenden Gefühle kontrollieren und ihr Handeln der Rationalität unterwerfen müßten und würden – ein preußisches (und womöglich fragwürdiges) Relikt, das nicht lange vorhielt. Oder?
Gehorchen wir heute (und fraglos gehorchen wir!) der Ratio oder dem Gefühl? Das ist eine komplexe Frage: Zählt heute wirklich das neumodische, egoman wirkende, tatsächlich aber kollektiv manipulierte »Bauchgefühl«? Gemäß zahlreichen Gefühlsexperten gilt doch heute, im »Neoliberalismus«, allein das Zählbare, die möglichst exakte Zumessung, die umfassende Polung auf das erfolgreiche Funktionieren.
Was nun, Bauch oder Zahl? Tatsächlich dürften wir es in der heutigen Zurichtung mit einer perfiden Kopf-Bauch-Mischung zu tun haben. Nolens volens sehen wir uns mit klammheimlichen, doch rigiden Gefühlsanordnungen konfrontiert. Wir müssen gar nicht mehr selbst fühlen: Ein numinoses »Es« »fühlt sich« heutzutage an. Das klingt so allgemeingültig wie ungefähr. So soll es auch sein. Unsere Gefühlsspäne sind dressiert genug, sich artig auszurichten. Ein nahezu diktatorischer Affekt: Fühlt mal! Fühlt mal richtig rein! Fühlt mal tiefer! Kanalisierte Gefühle sind längst ein wesentlicher politischer Faktor. Emotionsbewußtsein ist heute ein Querschnittsphänomen. Wir sind geradezu süchtig nach großen, überwältigenden Gefühlen; und zwar nach kollektiven Ausbrüchen ebenso wie nach individuellen. Die Zeitalter der Disziplin und Selbstbeherrschung sind längst vorbei. »Let it flow!«, laß es raus – nur führte gerade diese Devise eben nicht zu geistiger Gesundheit. Gängige (das heißt: seit wenigen Jahrzehnten enorm verstärkt auftretende) Phänomene wie Depressionen, Angststörungen, Manien oder posttraumatische Belastungsstörungen sind ernste Krankheiten. Und sie sind Modeerscheinungen. Was heute massenhaft unter diesen medizinischen Klassifikationskriterien abgelegt wird, zeigt an, daß es um den Gefühlshaushalt unserer Gesellschaft schlecht bestellt ist.
Wer gewieft genug ist (wo es aus welchen Gründen auch immer darum geht, den Opferstatus hochzuschrauben), weiß unbewußt, welche Gefühlslagen heute als besonders betätschelnswert gelten. Das persönliche Psychodrama (also: zu einer Opfergruppe zu gehören, traumatisiert oder aus je aktuell ermittelten Fiesheitsgründen zukurzgekommen zu sein) ist mittlerweile ein Statusanzeiger und direkt geldwert. Das Rationalitäts‑, das Nachvollziehbarkeitsgebot hat sich verflüssigt. Rational ist, was Du als rational empfindest, nachvollziehbar ist es, weil Du es spürst, und Punkt. Gefühlsmoden lassen sich komponieren, lenken, instrumentalisieren. Als Deutsche kennen wir das geschichtlich bedingt bekanntermaßen besonders gut. Unsereins hat das eloquente Switchen zwischen Gefühlszuständen perfektioniert.
In den Leitmedien nun geht seit langem die Rede und Klage vom »postfaktischen Zeitalter«. Es heißt dort, daß »gefühlte Wahrheiten« die Oberhand gewonnen hätten. Wutbürger und – intellektueller betrachtet – Typen auf der Suche nach einer verlorengegangenen »Thymosspannung« (Peter Sloterdijk / Marc Jongen) trieben heute ihr Unwesen und damit die Politik vor sich her. Diesen Leuten ginge es schimpflicherweise darum, »mit Gefühlen Politik« zu machen, wo doch »Fakten« zählten.
Das wäre nun die Frage: Leiden wir »Rechten« an einem Zuviel an Gefühl (im Slang sozialer Netzwerke: das weinerliche »mimimi« oder, andererseits, das Superpathos) oder, im Gegenteil, an zu wenig? Das heißt: Ist unsere Hornhaut einfach zu wenig trainiert? Sind wir zu empfindlich? Oder: Sind wir (Rechten) unseren Instinkten entfremdet? Braucht es rechtes »Achtsamkeitstraining«? Ich neige zu letzterem. Die Rechte hat ein Plus im Denken und ein Minus im Fühlen. Das eine wurde an‑, das andere abtrainiert.
Wir leben jedenfalls in einer therapeutisch begleiteten Gesellschaft. Es gibt eine Norm des Sichgutfühlens, die zum psychohygienischen Standard geworden ist. »Schlechte Gefühle« werden nicht nur privat behandelt (etwa im Rahmen einer Psychotherapie), sondern auch gesellschaftlich, also öffentlich verhandelt und instrumentalisiert. Die Therapie der Wahl ist allemal linkslastig – so sind die Zeiten. Es gibt kaum rechte Seelenpflege. Wäre dergleichen überhaupt denkbar? In Zeiten, wo selbst milde »Konversionstherapien« (Versuche, bei Homosexuellen per Redekur heterosexuelle Potentiale zu entwickeln) vor den Kadi kommen und hingegen sogar medikamentisierte Geschlechtswechsel gesamtgesellschaftlich befördert werden: gewiß nein.
Der »spirituelle Beistand«, der sich etwa während der jüngsten »Anti-Corona-Demonstrationen« per Mantra-Meditation und dergleichen zeigte, erweist, daß es ein immenses therapeutisches, seelenwiegendes Bedürfnis gibt. Der therapeutische Nutzen kommt allerdings nur – das ist wichtig – jenen zugute, die sich zu artikulieren wissen oder die über entsprechende Mittelsleute / Lautsprecher verfügen. Was wissen wir als Nutzer der Leitmedien beispielsweise über die Gefühlslage von Scheidungskindern? Über den emotionalen Haushalt von Frauen, die nach einer Abtreibung leiden? Über die seelische Gesundheit von Kindern, die fertiggemacht werden, weil sich ihre Eltern in der AfD engagieren? Rein gar nichts. Hingegen wissen wir eigentlich alles über die psychische Gestimmtheit von Migranten der dritten Generation oder über Menschen, die sich aufgrund ihres Transgendertums diskriminiert sehen. Es gibt eine Hierarchie der Gefühle. Der Rechte hat hier definitiv den Schwarzen Peter gezogen. Sich fremd im eigenen Land zu fühlen zählt nicht zu den abrechenbaren Ängsten. Das fällt raus.
Der vorherrschende Affekt in unserer Gesellschaft scheint heute zu sein, sich beleidigt bzw. gekränkt zu fühlen – und, möglichst öffentlich, auf Satisfaktion zu schielen. In alten Zeiten gab es etwa folgende Möglichkeiten, sein Gegenüber zu beleidigen: Verbal (als »Armleuchter«, »Vollidiot« uvm.), mittels diverser Gesten oder durch üble Nachrede. Zahlreiche solcher Schmähungen finden sich in den »sozialen Netzwerken«, Anonymität und Virtualität fördern die Enthemmung. Das Strafgesetzbuch ahndet sie. Meistens jedenfalls. »Faschist« wird man sachbegründungslos stets sagen dürfen.
Die heute modischen Kränkungsgründe sind hingegen oft nicht klar, wenigstens nicht durchs Strafgesetzbuch erfaßt. Es braucht einen gewissen Erklärungsaufwand, um Menschen (außerhalb der verletzungsaffinen Blase) das jeweilige Kränkungsgefühl zu erläutern. Die gängigen üblen Gefühlszustände sollten möglichst komplex, auch kompliziert sein und am besten eine »Geschichte« ( meist: die langen Unterdrückungsjahrhunderte zu Lasten der Frauen, Farbigen, Gehandicapten, Kinder, Schwangeren, Gebärenden, Kranken, Alten, Drogennutzer, Andersliebenden etc.) aufweisen, damit sie ernstgenommen werden können und als schwerwiegend erscheinen.
Die heute üblichen Kränker gehen – nach Ansicht der Gekränkten – subtil vor. Sie beleidigen nicht zwangsläufig verbal: Sie gucken unfreundlich. Sie gucken weg. Sie gucken hin. Sie schauen durch einen durch. Sie lachen. Sie atmen durch. Sie tun nur freundlich. Sie ziehen die Augenbrauen hoch. Kränkung ist, was sich »für mich so anfühlt.«
Schlimmstenfalls kleiden die Kränker ihre Kränkungsabsicht in gemeine Fragen. »Woher stammst Du eigentlich?«, gegenüber einer farbigen Person geäußert, dürfte der Renner sein. Empfindsame Leute (wer nicht hypersensitiv ist, zählt ohnehin zu den Barbaren) sehen darin keine freundlich-interessierte Frage, sondern (hundertfach belegt in den Leitmedien, eine Art running gag seit etwa 15 Jahren) folgende Unterstellung: »Du bist ja offenkundig fremd hier in Deutschland. Du gehörst nicht hierher. Was machst Du hier eigentlich? Wohin könnten wir Dich deportieren?«
Unter sämtlichen »Mikroaggressionen« (der Begriff tauchte 1970 erstmals im sozialwissenschaftlichen Diskurs in den USA auf und ließe sich gut mit einem »fiesen, kleinen, subkutanen Stich« übersetzen) die es zu beklagen gibt, sind jene am weitesten verbreitet, die man im anglophonen Sprachraum als »racial« einordnet. Die Übersetzung ins Deutsche ist schwierig: »Rassisch« verbietet sich (als ob es Rassen gäbe!), auch »ethnisch« ist zweifelhaft, da hier ein mittlerweile ominös geltender Volksbegriff zur Sprache käme. Merke: Wo immer wir uns bewegen: dünnes Eis, schwieriges Terrain!
All die grassierenden Mikroaggressionen lassen sich gemäß einer bis heute vielzitierten Studie (»Racial microaggressions in everyday life: Implications for clinical practice« hrsg. von Derald Wing Sue u. a., in: American Psychologist, Vol 62 (4), 2007) in dreierlei Vergehen aufteilen: erstens den microassault, den Mikroangriff; zweitens den microinsult, die Mikrobeleidigung, drittens die microinvalidation, die Mikroherabsetzung. Das Dezimalpräfix »micro« ist mathematisch wirklich winzig klein. Es rangiert noch unterhalb von »centi« und »milli«und kennzeichnet: ein Millionstel. Falls wir im Bilde bleiben wollen: Ein Schlag ins Gesicht wäre »tera«. Ein Anrempeln »giga«, ein Ausruf »hekto«. Eine Milliaggression wäre die ruhige, aber bestimmte Ansage: »Laß es einfach.« Mikroaggressionen hingegen geschehen absichtslos. Und schlimmer noch, sie unterlaufen gerade diejenigen, die sich eigentlich Mühe geben! Am bekanntesten dürfte diese Definition sein: Wer (als weiße Person) behauptet, kein / e Rassist / in zu sein, ist es wohl erst recht, denn dann kann er / sie sich nicht ausreichend reflektiert haben – und leugnet dies zudem. Diese Behauptung ist mittlerweile hundertfach perpetuiert worden.
Einige Aussagen und Ansinnen, die bei Derald Wing Sue et al beispielhaft zu finden sind und die als mikroaggressive Rassismen zu werten sind, wenn sie gegenüber nichtweißen Leuten ausgesprochen werden, lauten: »Du bist total wortgewandt!« (Heißt nämlich angeblich eigentlich: normalerweise sind Farbige weniger intelligent als Weiße.) Oder: »Ich denke, daß die am besten qualifizierte Person den Job bekommen sollte.« (Heißt eigentlich: Sprecher kapiert nicht, daß Farbigsein automatisch ein anzurechnendes Minus ist.) Oder: »In unserer Gesellschaft kann jeder erfolgreich sein, der bereit ist, hart zu arbeiten.« (Eigentlich: Menschen mit Farbe sind nur zu faul.) Oder, besonders fies: »Warum regst Du Dich so auf? Beruhig Dich mal!« (Gemeint: Gleiche Dich sofort der herrschenden Kultur an!) Mikroaggressiv sei es demnach auch, eine asiatische Person um Hilfe bei einer mathematischen oder naturwissenschaftlichen Aufgabe zu bitten. Gemeiner Subtext: Diese Asiaten können »doch eh nur sowas.«
Wer nun denkt, er wäre fein raus, weil er behauptet, keine Rassen zu kennen außer der ubiquitären »human race«, hat sich geschnitten: Er leugnet ja blindlings wie frech die ganz individuelle rassische Bedingtheit. Wir, die wir das sogenannte N‑Wort vor Jahren aus unserem Sprachgebrauch getilgt haben, werden heute zu extremer Vorsicht ermahnt. Jede Bemerkung gegenüber PoC, den People of Colour (»Echt: tolles Abi!« oder, extrem unfair: »Warst Du eigentlich je in Afrika?«) könnte »re-traumatisieren«. Psychologen und Psychiater haben zwar einen deutlich engeren Definitionsrahmen von »Trauma«. Aber – will man beckmessern, wo es um Gefühle geht?
Was bedeutet das heute für uns? Herz oder Kopf? Was »fühlt sich richtig an«? Ist es zu pathetisch, den Wahlspruch der eisernen Patriotin Sophie Scholl zu bemühen, die (mehrfach) Jacques Maritain zitierte: Il faut avoir l’esprit dur et le cœur tendre: Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben. Ja!