SETZUNG
Die Geschichte des Konzepts der »Setzung« ist eine Aufbietungsgeschichte: gegen Auflösung wird Ordnung aufgeboten. Sie beginnt mit Thomas von Aquins Gottesbeweis: Das Universum ist zweckmäßig geordnet, also muß es auch einen Setzer solcher Zwecke geben. Gerät diese Zweckmäßigkeit nun historisch am Beginn der Neuzeit in Zweifel, muß gegen den Zweifel eine neue Ordnung aufgeboten werden: das Naturrecht. Doch die Auflösung schreitet weiter fort, und mit ihr entsteht die Notwendigkeit zur nächsten Setzung: »Wenn die Natur den Handlungsmöglichkeiten und der Zerstörungsmacht des Menschen keine Grenzen mehr setzt, dann kann einzig der Mensch dies selbst noch tun – künstlich, im Kunstwerk seiner politischen Kultur. (Christian Graf v. Krockow)«.
Wird nun dieses Kunstwerk seinerseits nach und nach ausgehöhlt, kann sich also der Staatsbürger nicht mehr auf den selbstgesetzten künstlichen Souverän verlassen, muß er als Individuum selber Ordnung erzeugen. Diese letzte Stufe der Geschichte der Setzung, mit Niklas Luhmann könnte man vom Endpunkt einer historischen Semantik sprechen, verlegt die Aufbietung in die Entscheidung des einzelnen: »Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.« (Rainer Maria Rilke). Hier beginnt die Existenzphilosophie: in Søren Kierkegaards Entweder – Oder muß der moderne Typus des Ästhetikers sich in einem existenziellen »Sprung« am eigenen Schlafittchen hochreißen und hinein in die Sphäre des Ethischen hieven. Das Ethische ist weder unmittelbar gottgegeben, noch naturgegeben, noch institutionell gegeben, sondern muß in einem Akt der Entscheidung selbst – gesetzt werden. Von einem noch späteren Punkt aus können dann spornstreichs alle historischen Ordnungen als »bloße« Setzungen erledigt werden. Doch hier wie überhaupt gilt das ewige Gesetz der Entropie: Ordnung aufzulösen ist wesentlich leichter, als Ordnung gegen die Auflösung aller Dinge aufzubieten. Setzung ist Negentropie, und das bedeutet: sie ist harte Arbeit. (CS)
DER BLICK DES KÖNIGS
Es ist ein Unterschied, ob einem jemand im Nacken sitzt oder über die Schulter schaut. Ersteres wird als Druck empfunden, dem man unwillig folgt, letzteres ist der helfende Blick, der achtgibt. Der Ursprung dieses Blicks liegt in der Religion, die ursprünglich nichts anderes bedeutet als das Beachten der Vorschriften und Vorzeichen, und damit die Rückbindung des menschlichen Handelns an das göttliche Walten. Im Römerbrief wird der Zusammenhang zwischen Staat und Religion hergestellt: »es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt«. Von dieser Überzeugung, die von Luther in der Reformation noch einmal erneuert wurde, zehrte auch das preußische Königtum, obwohl die Erlangung seiner Königswürde alles andere als göttlicher Wille war. Um so höher ist die Leistung zu beurteilen, die erbracht wurde, bis dieser Ursprungsmakel ganz in den Hintergrund trat und der Blick des preußischen Königs zu einem Synonym für ein funktionierendes Gemeinwesen wurde.
Dieser Blick hat zwei Jahrhunderte dafür gesorgt, daß jeder, der nicht pathologisch oder kriminell veranlagt war, wußte, was er zu tun hatte. Kein Polizist mußte neben ihm stehen, keine Manipulation war nötig. Im Gegenteil: Der Blick ruhte auf einem zunehmend gebildeten, aber auch erzogeneren Bürger, der sich durchaus seines Geistes zu bedienen wußte. Es war eine Frage der Ehre, die Basis der Spitze zu sein – nicht nur, weil das Gottesgnadentum das verlangte, sondern auch, weil Einsicht das nahe legte. Selbst Kant versuchte mit seinem kategorischen Imperativ, nach dem mein Handeln sich an der Maxime orientieren soll, die allgemeines Gesetz sein könnte, an diesen Blick anzuknüpfen. Der Unterschied lag darin, daß der Imperativ jedem die Last auferlegte, selbst der königliche Blick zu sein. Diesem Anspruch, für alle zu denken, kann nicht jeder entsprechen. Außerdem wird dabei gleichzeitig der königliche Blick hinterfragt und schließlich zu einer Belastung, die einem im Nacken sitzt und die Freiheit bindet. (EL)
DEN VERFASSUNGSSCHUTZ IM NACKEN
Alle politischen Bewegungen, die auf nachhaltige Veränderung gesellschaftlicher Zustände abzielen, sehen sich mit dem Spannungsverhältnis von Nah- und Fernziel konfrontiert. Die einzelnen Schritte (realpolitischer Natur) in Richtung Nahziel sind bereits auf der Ebene der bestehenden Verhältnisse möglich, und die Perspektive, das Fernziel, gilt einem neuen Zustand, der bisherige Verhältnisse überwunden haben wird. Daß dies dem Regierungs- bzw. Konkurrenz- bzw. Verfassungsschutz (VS) ein Dorn im Auge ist, wirkt er doch als den Innenministerien und damit den Altparteien verpflichtetem Geheimdienst, der die bestehende Ordnung ebenjener Altparteien verteidigt, ist selbsterklärend. Ebenso selbsterklärend ist es, daß es sich bei dem Streben nach rechtsalternativen Nah- und Fernzielen, welche die weiten Spielraum offerierenden Regeln des Grundgesetzes und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung peinlich genau ernstnehmen, um keine »verfassungsfeindlichen« Vorhaben handelt. Dies – um ein Beispiel anzuführen – den Wählern und Sympathisanten der AfD gelegentlich zu verdeutlichen, auch durch PR-Maßnahmen, ist statthaft; sein durch Mitgliederabgaben und Spenden genährtes Budget in desolate Ergebnisse erzielende Kampagnen wie »Wir sind Grundgesetz« zu investieren, hingegen nicht. Als problematisch erweist sich, daß entsprechende Manöver keineswegs an die eigene Klientel gerichtet sind, sondern primär an den Verfassungsschutz und seine Weisungsbefugten. Die teure wie mißglückte Kampagne (bei YouTube und Co. ein brutaler Flop) erweist sich nach dem Motto aufgebaut: Seht her, wir vertreten diese und jene Eckpunkte des Grundgesetzes besonders nachdrücklich, eure (»unfaire«) Einschätzung unsererseits erweist sich damit als kritikwürdig, wo nicht rundheraus unvernünftig. Doch Vernunft ist im bundesdeutschen Parteienbusiness des Jahres 2020 keinesfalls eine Kategorie der Auseinandersetzung. Wer mit dem VS im Rücken sein Denken und Handeln entsprechend ausrichtet und bei jeder Aussage oder Tätigkeit die mögliche Reaktion des Regierungsschutzes abwägt, lähmt sich selbst, lenkt von wesentlichen Themen und Aufgaben einer authentischen Alternative ab, überschätzt die VS-Wahrnehmung im wichtigsten, Millionen Köpfe zählenden AfD-Neuwähler-Segment – den Nichtwählern – und versenkt Hunderttausende Euros aus dem notorisch klammen Etat in einem Meer aus politischer Irrelevanz und Unprofessionalität, die zu allem Übel auch noch wirkungslos bleiben muß. Ein Umstand, der zumindest jenen Akteuren schlagend erscheinen dürfte, die politisch-realistisch analysieren und die Logik des Gegners nicht als die eigene mißverstehen. Den VS im Rücken zu haben erfordert vielmehr, diese Logik von sich zu weisen, geistige Souveränität und Unbekümmertheit auszustrahlen und Verantwortungsbewußtsein angesichts der Stigmatisierung zu präsentieren – keinesfalls jedoch aus eigenem Antrieb zum Getriebenen eines politisch rührigen Geheimdienstes zu werden. (BK)
KRIMINALISIERUNG
Ein Alexander Solschenizyn zugeschriebenes Zitat besagt, daß man ein marxistisches System daran erkenne, »daß es die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert«. Auch im linksliberalen System der Bundesrepublik hat eine bedenkliche realexistierende Verschiebung der rechtstaatlichen Parameter stattgefunden. Während etwa außereuropäische Intensivtäter in der erdrückenden Mehrzahl der Strafprozesse moderate Urteile erhalten und linksextreme Gewaltstrukturen unbehelligt bleiben, spitzt sich die Repression gegen politisch Andersdenkende zu. Die Kriminalisierung politischer Oppositionsarbeit bedroht alle politisch regsamen Kräfte, die sich nicht an dem verordneten Konsensrahmen der tonangebenden Kreise orientieren wollen. Wer die Grenze des Sagbaren über die vom Hegemon anerkannten liberalen und linken Wahrheitssysteme hinaus zu verschieben beabsichtigt, muß in einer zunehmend antifaschistisch dominierten Ordnung der Bundesrepublik damit rechnen, daß seine Meinung, seine politische Struktur (so es eine gibt) und schließlich seine Person hors la loi gestellt wird. Die fortschreitende Ausweitung der Straftatbestände bei Meinungsdelikten in den letzten Jahren als juridische Komponente des allumfassenden »Kampfes gegen Rechts« sorgt für prinzipielle Rechtsunsicherheit, etabliert die »Scheren im Kopf« und unterminiert das Vertrauen in Behörden und Institutionen, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit als Grundrechte der Bürger zu schützen hätten, nachhaltig. Insbesondere die Kritik an der Preisgabe der ethnokulturellen Identität eines Staatsvolkes – mithin: des grundgesetzlich verbrieften Souveräns – sieht sich seit geraumer Zeit als Verstoß gegen die Menschenwürde auf eine Stufe mit der Aufstachelung zum Rassenhaß gestellt. Von dort ist es nicht weit zu diversen Strafverfahren oder gar zu Vereinsverboten auf Basis von ideologischen Annahmen und fragwürdigen Konstruktionen (ein lockerer ideeller Zusammenschluß reicht aus, um vereinsähnlich bewertet und verboten zu werden). Die Strategie der Kriminalisierung des rechten Lagers setzt auf den ewigen Herrschaftsfaktor »Angst« – und ist damit einstweilen erfolgreich. (BK)
SITTE
»Sitte« wurzelt in demselben althochdeutschen Wortstamm wie »Seil« und bedeutet ursprünglich nichts anderes als »Bindung«. Ferdinand Tönnies nennt die Gesamtheit der überlieferten geltenden Normen und Werte »Sitte«, die er seinerzeit (1909) unwiederbringlich verloren sieht. Von einer echten Sitte wird ein »festes, treues Muster« wiedergegeben. Glückliche Völker, so Tönnies, verfügen über eine Sitte, in der »Gleichheit«, »Einfachheit«, »Naivität«, »Wärme«, »Herzlichkeit« und »heimatliche Grobheit« der »Zähmung« des Menschen dienen. Die Sitte erfordert Gehorsam, sie erwartet, daß der Einzelne sich dem fügt, was für alle unausweichlich ist. Hegels gesamte Philosophie widmet sich der Lösung des Dilemmas, die Fülle der Autonomiebestrebungen seiner Zeit mit dem Gedanken der Wiedergewinnung jener sittlichen Gemeinschaft zu verbinden. Er rekonstruiert den Begriff einer umfassenden Ordnung, die er »Sitte« nennt, auf dem Fundament der Autonomie: denn von einem Gesetz beherrscht zu werden, das aus uns selbst entsteht, bedeutet, frei zu sein. Es geht ihm um eine »Entwicklung der Verhältnisse, die durch die Idee der Freiheit notwendig, und daher wirklich in ihrem ganzen Umfange, im Staat sind.« Der Staat, namentlich der preußische Staat, verkörpert diese Freiheit, und zwar über das Individuum hinausgreifend. Diese »sittliche Substanz, als das für sich seiende Selbstbewußtsein mit seinem Begriffe geeint enthaltend, ist der wirkliche Geist einer Familie und eines Volks.« Auf diese Weise schließt Hegel den Kreis zur göttlichen Ordnung wieder, der das Individuum aus Freiheit zustimmt, weil es in ihr es bereits unhinterfragt aufgehoben ist. Die »Sittlichkeit der Sitte« ist Hegels Formel dafür, daß der Mensch nur in einer ihm vorausgehenden Ordnung frei (und damit ein moralisches, »sittliches« Wesen) ist. Die Sitte bindet den Menschen und macht ihn dadurch erst frei. (CS)
EINBAU
Es ist evident, daß das Parteienkartell verschiedene Taktiken anwendet, um unliebsame Formationen zu bekämpfen, damit die eigene ideologisch-strukturelle Ordnung bewahrt wird. Funktioniert das klassische Ausgrenzen situativ nicht, sprich: ist ein Gegner zu stark geworden, versucht man einen kollaborationsbereiten Flügel herauszulösen oder gar eine opportunistische, »verständigungsbereite« Clique an die Parteispitze zu hieven, um mögliche authentische Oppositionsarbeit zu unterminieren. Johannes Agnoli hob 1967 in seiner Schlüsselschrift Die Transformation der Demokratie hervor, daß es dem bürgerlich-liberalen Denken innewohne, den »Lockvogel der politischen ›Verantwortung‹« gegenüber noch ungezähmten widerständigen Kreisen einzusetzen, das heißt sie verhandlungsbereit zu machen, um ihnen die entscheidenden, tatsächlich alternativen Ideen für eine vermeintliche »Regierungsfähigkeit« auszutreiben.
Die Vorgehensweise hierbei ist einleuchtend; Agnolis Theorie wurde hinlänglich in der Praxis bewiesen, wobei das Vorgehen bei aller Verschiedenheit Konstanten kennt: Das etablierte Kartell von Kräften aus Politik und Medien arbeitet daran, jede sich bildende Fundamentalopposition abzuschwächen und Gesprächsbereitschaft in Richtung der »gemäßigten« bzw. gesprächsbereiten Insurgenten zu signalisieren. Wenn für Teile der jeweiligen Protestpartei die Gefühle des Widerspruchs parlamentarisch (oder: koalitionär) vertreten zu sein scheinen, wenn für Teile dieser Opposition immerhin einige Ziele durch Annäherung an die sog. Mitte – das sind im Regelfall die hegemonialen Kräfte eines Landes – durchsetzbar und schließlich einige Forderungen verhandelbar zu sein scheinen, erhöht sich, so Agnoli, »die Bereitschaft zur Untätigkeit«, denn man ist scheinbar angekommen (inhaltlich, »diskursiv«, nicht zuletzt: monetär). Der etablierte Parteienblock stabilisiert seine Herrschaft, indem die Opposition beginnt, Teil des – einst aus guten Gründen befehdeten – falschen Ganzen zu werden.
Die FPÖ beispielsweise hat dieses doppelte Vereinnahmungs- und Spaltungsprojekt überlebt; es hat die Partei aber um Jahre zurückgeworfen und markante Teile der Wählerschaft pulverisiert. Daraus könnte eine Alternative für Deutschland lernen und vorbeugende Konsequenzen ziehen. Derzeit scheint sie aber dem Negativvorbild aus Österreich zu folgen und sich selbst zu paralysieren. Der sukzessive Einbau respektive die Integration als systemstabilisierende Ergänzungspartei vollzieht sich. (BK)
STRUKTURELLE MACHT
Ich kann mich gut an einen institutionellen Streit erinnern, den ich vor Jahren erlebte. Es ging damals um die Frage, wer sich durchsetzen und im Vorstand jener Institution die Mehrheit hinter sich bringen würde. Zwischen den beiden Protagonisten des Streits gab es ein letztes, auf Vermittlung und Kompromiß angelegtes Gespräch, dem ich beiwohnen konnte. Das Gespräch scheiterte. Es gipfelte in einem bemerkenswerten Satz: »Spar Dir jedes weitere Wort. Du wirst mit mir leben müssen.« Geäußert hatte ihn derjenige, der letztlich verlor. Er schätzte seine Lage und die tatsächlichen Machtverhältnisse völlig falsch ein, weil er sich für unverzichtbar hielt und seinem Gegner weder Härte noch Kälte zutraute. Wenige Tage später erlebte er das Gegenteil: Abstimmungsniederlage, Entmachtung, Abgang mit leeren Händen.
Sobald es wirklich um etwas geht, um Geld, Posten, Mehrheiten, sind Inhalt und Richtung zweitrangig. Wirklich hart wird nur dann gekämpft, wenn es um Machtpositionen und ihren Ausbau innerhalb von Strukturen geht. Der ideelle Anteil mag zunächst groß sein, der gute Wille etliches überbrücken, der Zauber des Anfangs die Konkurrenz verschleiern, die Begeisterung den Moment beherrschen: Je länger etwas währt und je mehr es zu verteilen gibt, desto wichtiger wird die strukturelle Macht: Nur sie ist die Garantie dafür, daß man diejenigen dauerhaft versorgen kann, deren Loyalität man braucht, um selber stabil zu stehen. (GK)
BEFEHL UND AUFTRAG
Die Grenze zwischen Befehl und Auftrag ist fließend. Beides meint die Erledigung einer übertragenen Aufgabe. Der Unterschied liegt in der »sozialen Beziehung«, in der Befehl oder Auftrag erteilt werden. Den Auftrag gibt es in allen Lebensbereichen, den Befehl nur in Bereichen, in denen die Hierarchie auf Befehl und Gehorsam beruht und Zuwiderhandlungen entsprechend sanktioniert werden. Zum Militär gehört der Befehl, zu dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland der Auftrag kam. Unter dem Stichwort der Auftragstaktik etablierte sich ein Verfahren der Befehlsgebung, das dem Befehlsempfänger vor allem das Ziel vorgab und ihm den Weg dorthin, die Durchführung (unter Auflagen) freistellte. Das Verfahren setzte ein hohes Maß an Vertrauen in die Fähigkeiten der untergeordneten Führer voraus und konnte daher erst etabliert werden, als die Ausbildung des Offizierskorps festen Regeln unterworfen war.
Bewährt hat sich die Auftragstaktik in den Einigungskriegen, festgeschrieben wurde sie zuerst im Exerzierreglement für die Infanterie von 1888. In Reichswehr und Wehrmacht erfolgte auch die Ausbildung von Mannschaften und Unteroffizieren so, daß sie in der Lage waren, einen Auftrag mit einem selbständig gefaßten Entschluß umzusetzen. Seither ist sie deutsches Charakteristikum, das trotz der zwei verlorenen Weltkriege als das Maß aller Dinge in der Befehlsgebung gilt. Im Gemeinsinn erzogene und schulisch gebildete Soldaten sind die Voraussetzung zu ihrer Umsetzung, da nur diese zwischen Lage und Auftrag eine Beziehung herstellen können, die sie zum selbständigen Handeln befähigt. Durch die Wehrpflicht war in Deutschland (ausgenommen die NVA) fast zweihundert Jahre lang die Qualität der Soldaten sichergestellt. Mit deren Abschaffung steht auch die Auftragstaktik zur Disposition, auch wenn an ihr als »Führen mit Auftrag« weiterhin festgehalten wird, weil man in ihr den militärischen Ausdruck der »Inneren Führung« zu erkennen meint, die damit weder historisch noch strukturell irgendetwas zu tun hat. (EL)
TABUS/ TABUBELEGTE ZONEN
Die Situation in der bundesdeutschen »Diskurs«-Ordnung ist strikt aufgeteilt: Es gibt grundlegende tabubelegte Zonen und es gibt lebendige Streitgespräche in eher abgelegenen Themenbereichen. Die grundsätzlichen Widersprüche einer Gesellschaft werden nicht ausgefochten, sondern jeder Diskussion entzogen, als moralpolitisch aufgeladene Tabus behandelt. Gleichzeitig wird der Popanz der »deliberativen«, offenen Gesellschaft kultiviert. Das Konsensdenken der BRD verspricht auf eine redundante Art und Weise Beratung und Austausch – aber nur in einem festgezurrten Rahmen, jenseits der entscheidenden Lebens- und Organisationsfragen eines Volkes. Eben dies macht den Zustand der postpolitischen Ordnung im Spätmerkelismus aus: Diskurs in Ablenkzonen, Ende der weltanschaulichen Auseinandersetzung in den Kerngebieten: Wie wollen wir leben? Mit wem wollen wir leben? Wem schulden wir Solidarität? Wer ist »Wir«? usf. – von geschichtspolitischen Fragen ganz zu schweigen.
Statt wesentliche Probleme auszudiskutieren herrscht ein Durchregieren falsch verstandener Eliten und dienen moralistisch verbrämte Letztbegründungen ihrem Handeln. Dieses von oben herab agierende Verhalten des herrschenden Juste Milieu vollzieht sich nicht nur in voller Übereinstimmung mit den wichtigsten Interessengruppen des bundesdeutschen Kapitals. Es vollzieht sich in selbem Maße in harmonischer Zusammenarbeit mit der vereinigten Linken. Das einende Ziel ist die offene, bunte Gesellschaft, deren wesentliche Paradigmen – Freiheit bzw. Vorrang des Individuums, des Marktes, der Migration – außerhalb der Diskussion stehen, eben als Tabu ausgewiesen sind. Wer gegen das Tabugebot verstößt, wird zivilgesellschaftlich geächtet, ökonomisch ruiniert, zum Paria. Doch es sind just diese drei Paradigmen, die man zur Disposition stellen muß, weil es Fragen der Wirtschaft und der Migration sind, die unsere Lebenswirklichkeit im Zeitalter der Auflösung aller Dinge substantiell verändern. Durch hypermoralische Setzungen wird aber diese Infragestellung herrschender Glaubenslehren erschwert; es erscheint schlichtweg als unmoralisch, als »böse«, eben als Tabu, den politisch-korrekten Konsens der offenen Gesellschaft, der Liberale und Linke in eine gemeinsame Front stellt, auch nur in Frage zu stellen. (BK)