Frank Lisson, promoviert, war über lange Jahre Antaios-Autor. Gleichsam ein Mann der ersten Stunde! Sein kaplaken Widerstand: Lage-Traum-Tat ist leider vergriffen und wird hoffentlich neu aufgelegt. Sein (sehr fundiertes) Buch Die Verachtung des Eigenen ist in 2. Auflage ebenso lieferbar wie die Bände 2 und 3 seiner „Homines“- Trilogie, nämlich der Homo Viator und der Homo Creator. Band 1 hingegen, Homo absolutus. Nach den Kulturen erebte zwei Auflagen und ist vergriffen.
Wir kennen uns also lange, aber trotzdem hat Lisson den Verlag gewechselt. Gegenüber seinen Manuskripten hatten wir nämlich zuletzt deutlich Widerspruch geäußert. Lisson sah sich verkannt, mißverstanden, sah uns politisch verengt und kanalisiert, vermißte Breite. Das machte den Umgang wenig ersprießlich. Lisson streift, als Solitär, das Genialische, wir hingegen haben nicht immer die Kraft für jde Extravaganz. Das bekennen wir aufrichtig.
In seinem neuen Buch Die Natur der Dinge. Über das Wesentliche geht Frank Lisson der Frage nach… nun ja, was eigentlich los ist. Er ist ein fraglos tiefer Denker, äußerst belesen hinzu. Bis in die Antike hinein – und das ist nicht ironisch gemeint.
Was weiß der Mensch über den Menschen? Was weiß Natur über sich selbst?
Das sollen so die Grundfragen des neuen Buches sein. In neun Kapiteln (etwa: „Natürliches“, „Welt-Räume“, „Ding unter Dingen“, „Seiendes“, „Dezendenzen“) schürft Lisson so ziemlich allem nach, was je gedacht wurde. Dies geschieht vornehmlich im nachahmenden Stil Schopenhauers und Nietzsches. Es gibt hier viele Kursivierungen, eine Menge nachdenklicher – Gedankenstriche und insgesamt sowohl viel Geraune („…“) als auch echt markige Aussagen. Hier will jemand als markanter, provokanter Nach-Denker wahrgenommen werden!
Für mich erscheint ver-rückt, wie hier insgesamt völlig profane, gar boomerske Einsichten (über Gender-Mainstreaming, Windradmonster oder den Konsumterror, der uns unter zwanzig verschiedenen Kartoffelchipssorten, schrecklich, entscheiden läßt) mit ausgefuchsten Theorien Hand in Hand gehen. Ausgefuchst sind vor allem seine Einlassungen über menschliche Fortpflanzung.
Sie werden aufgeführt unter dem einleitenden (und in seinem epigonalen Nietzscheduktus beispielhaften) Eingangsausruf:
„Wer also hätte sich je soweit zusammengenommen, um mit aller Entschlossenheit der Frage nachzugehen, was Natur eigentlich ist!“
Wer? Nun, ein echter „Kultur- und Geistesmensch“ namens Frank Lisson versucht es wenigstens. Nämlich so:
„Leibliche Elternschaft ist das unheimlichste und deshalb schrecklichste Los, das zumindest einem echten Geistesmenschen zufallen kann; und nicht selten entscheidet dieses Los über die Qualität seines Werkes.“
Lisson hält es in der Tat für eine Art “Rache” (“Weitergabe des Leids”), wo Menschen ein Abbild ihrer selbst zeugen. Man möge nur die “animalischen Handlungen” und “Peinlichkeiten” eines Kleinkindes anschauen! Nur Hormone, diese “großen Manipulierer”, sorgten dafür, die “Reihe des Übels”, des Natalistischen, fortzusetzen.
„…[!] Denn wie verstörend-schaurig müsste doch jedem freien Individuum und weltdurchdringenden Geiste zumute sein, plötzlich ein selber gezeugtes Menschenwesen vor sich zu sehen und von diesem mit ‘Mama’ oder ‘Papa’ gerufen zu werden! Was für eine grotesk-bizarre Begebenheit, deren ungeheuerliche Dimension sich offenbar kaum jemand bewusst zu machen wagt, während der Philosoph bei jeder Geburt denken mag: noch ein Geschöpf, das man eines Tages wird beerdigen müssen; schon wieder also hat man einen weiteren kommenden Tod in die Welt gesetzt…“
Lisson, definitiv mit „feineren Nerven“ ausgestattet, beklagt, „was bereits von Demokrit bis Schopenhauser immer wieder beklagt worden war“, nämlich, das ein “quengelndes oder krakeelendes Kind jeden klaren Gedanken verhindert.“ Noch schlimmer: „Die Schneidetonhöhe von Kinderstimmen“ verursache „manchem geradezu physische Schmerzen – und daraufhin Verärgerung über diese Schmerzen.“ Zumal heutzutage „erstmals in der Gattungsgeschichte körperliche Züchtigungen“ verboten seien, müsse das Kind „nur plärren, um seinen Willen durchzusetzen.“
Noch ärger als die eigene Geburtlichkeit und der furchtbar fruchtbare Natalismus der Menschheit setzen Lisson „Katholizismen wie der christliche oder muslimische zu“. Religion, diese „wahnhafte, primitive und unfreie“ Erfindung, ist unserem Freidenker seit je ein Greuel. Politische Maßnahmen wie Gender-Studies, Inklusion etc. sind für ihn – er wirft das mal so ein, darf man ja – bloß eine „Art instinktive Fortsetzung des Christentums mit anderen Mitteln“.
Die zwei Schandübel des (nicht reinen Geistes-) Menschen, nämlich : Borniertheit und Elternschaft (Kursivierung im Original) finden laut Lisson übrigens im katholischen Glauben zusammen, wo man in Gott nicht nur den Vater, sondern in Maria sogar die Gottes-Mutter sieht.
Man möchte Lisson gern den von ihm heißgeliebten & vielbeschworenen europäischen „enormen Reichtum, diese Fülle an Musik, Architektur, Malerei und Literatur“ gern bereinigt von jeglichem Christglauben vorhalten. Viel Spaß schonmal! Vermutlich wird es eng.
Über ein dritten „Knaller“, Lissons Misogynie, mag ich an der Stelle lieber schweigen. Auf eine Art habe ich hierbei fast Respekt vor seinem traurigen Mut. Anders als bei der Hatz gegen Elternschaft und gegen Religion (beides wahrlich sperrangelweitoffene Türen) setzt er sich hier nämlich wirklich empfindlich in die Nesseln. Weiberschelte ist definitiv out – Lisson praktiziert sie.
Zum Nachtisch nun noch zwei Beigaben aus Lissons „Miniaturen“, die das letzte Kapitel bilden und offenkundig, nur eben trist getüncht, an Nietzsches Fröhliche Wissenschaft angelehnt sind:
„Späteste Reife.- Wie alt muß man werden, um sich selber endlich nicht mehr peinlich zu sein?“
„Bitterste Erfahrung. – Kein Mensch da, für den es sich zu leben lohnt – Und man selber ist eben auch kein solcher Mensch.“
Schreibt ein 51-jähriger. Amen.
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Frank Lisson: Die Natur der Dinge – hier einsehen und bestellen.
Frank Lisson: Die Verachtung des Eigenen – hier unbedingt einsehen und bestellen.
tearjerker
„Wie alt muß man werden, um sich selber endlich nicht mehr peinlich zu sein?“ 52. Es gibt noch Hoffnung.