Die NZZ (v. 21.9.2021) titelt auf ihrer Seite 1 dramatisch: »Kommunisten legen in Russland zu«.
Und tatsächlich gewannen Oppositionelle zu, dagegen
lag die Kremlpartei Einiges Russland bei mehr als 48 Prozent, wie die Wahlkommission am Montag in Moskau mitteilte. Die Kommunisten (KPRF) landeten demnach bei mehr als 20 Prozent, die Rechtspopulisten der LDPR des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski bei knapp 8 Prozent und die Partei Gerechtes Russland bei etwas mehr als 7 Prozent. Knapp über der Fünf-Prozent-Hürde lag auch die neue Partei Nowyje Ljudi (Deutsch: Neue Leute).
Daß Rußlands Kommunisten explizit volksverbunden, antiwestlich und gegnerisch zu linksliberalen One-World-Ideologien wie LGTBQ+, BLM und Co. ausgerichtet sind, dürfte ihnen nicht schaden, hinzu kommt das Protestelement, das Schirinowski nicht mehr umfassend bedienen kann:
Als einzige parlamentarische Kraft, die gelegentlich Widerstand gegen Gesetzesvorlagen aus dem Kreml leistete, bekam sie viele Stimmen von Protestwählern,
weshalb Putin, knapp unter 50 Prozent der Stimmen und damit immer noch ein Volkstribun im Vergleich zu den Spitzenkandidaten von SPD, CDU/CSU und Grünen, in Zukunft mit einer stärkeren, linksnational ausgerichteten Opposition klarkommen muß.
Aber die Frage, wer nun in Rußland zulegte und wer nicht, ist gar nicht der entscheidende Aspekt bei dieser Wahl. Interessant ist etwas anderes, nämlich der »russische Weg« in Fragen der digitalen Giganten. Diese könne man, so heißt es insbesondere in liberalen politischen Kreisen, staatlicherseits gar nicht an die kurze Leine legen, es widerspreche einerseits Marktfreiheitsprinzipien (eine Propagandathese, die man hier ignorieren kann) und werde andererseits von den Quasimonopolisten nicht geduldet.
Rußland zeigt, daß es auch anders gehen kann:
Die Internetgiganten Google und Apple beugten sich ebenso wie der Erfinder der Telegram-App, Pawel Durow, den Forderungen des Kremls, löschten Apps in ihren Stores, stellten Bots ab und blockierten Google-Dokumente und Youtube-Videos. Offenbar gelang dies auch durch massive Drohungen mit strafrechtlichen Konsequenzen für einzelne Mitarbeiter der Internetfirmen in Russland,
was belegt, daß den großen Konzernen auch im 21. Jahrhundert das Besteck eines souveränen Nationalstaates gezeigt werden kann.
Diesen Akt der Beschneidung der Allmacht der Digitalkonzerne zu würdigen bedeutet nicht, den Grund für die russische Staatsintervention auf die deutsche Lage zu übertragen oder diesen im Einzelfall zu verherrlichen. Aber er zeigt auf, daß die vermeintliche Alternativlosigkeit auch auf diesem Terrain eine Mär von jenen ist, die von der allseits akzeptierten Alternativlosigkeit von Entscheidungen profitieren. Rußland tritt dieser Mär ganz konkret entgegen und handelt.
In Westeuropa scheint eine solche Konstellation noch weit entfernt. Der Staat als autonomes Subjekt, ja als Souverän erscheint vielmehr als Getriebener der digitalen Mächte, weshalb es so aussehe, »als sei der Staat im Grunde der große Verlierer des digitalen Kapitalismus«, wie Philipp Staab in seinem Standardwerk Digitaler Kapitalismus formulierte.
Statt des Staates (wie ganz aktuell in Rußland) dominieren erfolgreiche Konzerne das kommerzielle Internet (und damit die dort erfolgende Wertschöpfung); die Machtkonzentration an der obersten Spitze erfolgt primär bei den mit dem Akronym GAFA bezeichneten Akteuren Google, Amazon, Facebook und Apple.
Diese Konzerne stellen nicht nur ebensolche dar, sondern sind selbst Plattformen für andere Wirtschaftssubjekte – sie sind teilautonome Märkte mit beträchtlicher Kapitalmasse. Da sie aber nicht, wie »normale«, staatlich bereitgestellte oder geschützte Märkte allen zugänglich sind, sondern jenen, die sie bezahlen (ob mit Geld oder Daten etc.), werden sie von Staab als »proprietäre Märkte« bezeichnet.
Sie befinden sich folglich im Eigentum eines dominierenden Marktteilnehmers. Mehrere proprietäre Märkte, definiert Staab, bilden ein System ab, und dieses System stellt wiederum den »operativen Kern des digitalen Kapitalismus« dar. Agierten »alte« bzw. klassische (große) Unternehmen noch auf relativ offenen Märkten als konkurrierende Teilnehmer ebendieser Märkte, sind die Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus nun selbst die Märkte.
Das ist einstweilen auch in Rußland so, aber daß dort der Staat mittlerweile mutig genug ist, in diese vermeintlich naturgesetzliche Entwicklung situativ einzugreifen, zeigt, daß es einzig und allein von bewußten Entscheidungen politisch verantwortlicher Akteure abhängt, wie weit man die absolute Verfügungsmacht der digitalen Riesen staatlicherseits duldet.
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Zurück nach Deutschland, zurück zur Bundestagswahl. Das neue Compact-Titelblatt kommt im schreienden Rot daher; es springt dem Kunden am Bahnhofskiosk schon aus einigen Metern Entfernung ins Gesicht.
Hat man das Monatsmagazin, das man als publizistische Brechstange des Populismus bezeichnen könnte und das Unterstützung als Solitär unter linken und linksliberalen Magazine verdient, aufgeblättert, fallen gleich zwei Beiträge des Chefredakteurs Jürgen Elsässer auf, die eine kurze Betrachtung erfordern.
Zunächst ist der Leitartikel »Die Höllen-Wahl« anzuführen. Man lasse sich von der Einführung nicht abschrecken, sie lautet so:
Heute sind Parteien und Parlamente selbst zum Puff geworden, in dem sich die Bonzen dem Meistbietenden zum Volksverrat andienen.
Auf diesen steilen Vergleich folgt eine durchaus lesenswerte Analyse, die im Zwischenfazit mündet, daß jede Altpartei
ihre Klientel verraten habe, die auf sie vertraute: die Grünen die Friedensbewegung, die Union die Christen, die SPD die Arbeitnehmer, die FDP die Besserverdienenden, die Linken die Ossis. Rot, Schwarz, Gelb, Grün – es gibt keinen Unterschied mehr. (…) Entstanden ist die «virtuelle Einheitspartei», vor der Johannes Agnoli schon in den 1960er Jahren – also zu früh, aber hellsichtig – warnte. Einig sind sich alle Formationen in der Politik des Great Reset: Volksaustausch durch Masseneinwanderung, Verbot fossiler Brennstoffe, ökologisch kostümierte Abschaffung der traditionellen Industrien, internationale Klima-Kommandowirtschaft, Förderung der Frankenstein-Technologien (Genmanipulation, Verschmelzung von Mensch und Computer, Big Pharma, Transhumanismus).
Elsässer bringt, sich erneut in Agnolis Begriffswelt bedienend, die Problematik der momentanen Phase des bundesdeutschen Parteienregiments auf folgende These:
In diesem System werden keine Politiker mit eigenen Idealen und Visionen mehr gebraucht, sondern nur noch Charaktermasken.
Kanzler Scholz, Laschet, Baerbock – egal, die großen Zeittendenzen wirken ohnehin weiter, man ist sich in den großen Fragen, siehe oben, einig. Keiner der Genannten wendet sich etwa gegen die mutwillige und fahrlässige Aufgabe der Versorgungssicherheit Deutschlands auf dem Energiemarkt.
Und so kann Elsässer mit der Empirie im Rücken düster prophezeien:
Der Blackout droht. Spätestens 2022 werden die letzten sechs verbliebenen Atomkraftwerke abgeschaltet sein. Damit fehlt die zuverlässige Grundversorgung, die die schwankende Energieeinspeisung der wetterabhängigen Sonnen- und Windkraft ausgleichen kann. Über- und Unterspannungen führen zwangsläufig zu Netzzusammenbrüchen.
Wie man dem begegnen könnte, hat René Springer (MdB) in einem Polittalk auf den Punkt gebracht:
Umweltfreundliche Energie mit moderenen Technologien? Klimaaktivistin sprachlos!
In der RBB-Wahlarena habe ich deutlich gemacht, dass wir über moderne Kernkraftwerke sprechen müssen.
Energie aus #Kernkraft ist mittlerweile absolut sicher, günstig und CO2-neutral.#btw21 pic.twitter.com/hukrYkj7hW
— René Springer (@Rene_Springer) September 22, 2021
Doch zurück zu Elsässers Fundamentalkritik:
Das Programm der neuen Regierung ist der Untergang Deutschlands. Jetzt wird der Sack zugemacht. Wer das noch verhindern will, darf jedenfalls nicht bis zur nächsten Bundestagswahl 2025 warten.
Alleine, es ist zu befürchten, daß weit über 85 Prozent der Bundesdeutschen die Aufregung Elsässers und des gesamten patriotischen Milieus gar nicht nachvollziehen werden können. Immerhin: Aus einer verkürzt akzelerationistischen Sicht könnte man darauf hoffen, daß eine offene Linksregierung rascher Widerstandshaltungen ausprägen würde als das Weiterwursteln im Rahmen des Bestehenden.
Realistisch betrachtet wird es dann aber doch eher eine erneute Große Koalition mit womöglich getauschten Rollen (Scholz als Kanzler, Laschet Vizekanzler?), bevor 2025 schließlich Söder und Habeck die schwarz-grüne Vermählung feiern dürfen. Was ändert es?
Es überrascht nicht, daß Jürgen Elsässer eher auf andere Formen der Demokratie zu setzen bereit ist. »Die plebiszitäre Alternative« ist daher sein zweiter, kürzerer Grundlagenbeitrag im Oktober-Heft von Compact überschrieben.
Elsässer berührt, wie so oft, die geschundene Seele seiner Leser, wenn er im Kern folgenden Standpunkt postuliert:
Das Fehlen plebiszitärer Möglichkeiten kastriert das Volk, das in einer Demokratie der einzige Souverän ist. Wenn wir nur über weniger Wichtiges mitbestimmen können, aber über die Schicksalsfragen von nationaler Bedeutung die Bundestagsabgeordneten vier Jahre lang ganz allein entscheiden, sitzen wir Bürger am Katzentisch.
Das trifft eine Stimmung, man hört es selbst oft, nicht nur im AfD-Umfeld: Das Volk müsse endlich gehört werden, man wird ja nur alle vier Jahre befragt, ansonsten aber ignoriert!
Nur: Ist Elsässer nicht bewußt, daß Volksabstimmungen wie in seinem idealisierten Modellstaat Schweiz unter bundesdeutschen Auspizien etwas ganz anderes bedeuten würden?
Erstens hätte die patriotische Seite in keiner Schlüsselfrage eine Mehrheit auf ihrer Habenseite. Man könnte in der BRD vermutlich sogar über den Entzug von Grundrechten für »Rechtsradikale« abstimmen lassen, und das Wahlvolk vermutete darin nichts Negatives, sieht man doch tagtäglich, wohin »Rechtsradikalismus« (das heißt hier, in der bunten Republik: Migrationskritik, Medienschelte, Heimatliebe u. dgl. mehr) führt – in den Terror, in politische Gewalt, in die »Spaltung der Gesellschaft«.
Zweitens würde die massenmediale Dauerpropaganda eher noch mehr an Fahrt aufnehmen als bisher. Das ist keine besonders gewagte Aussage. Denn würde tatsächlich alle zwei, drei oder vier Monate über Grundfragen des Zusammenlebens in Deutschland abgestimmt, könnten jene, die Meinungen setzen und verbreiten lassen, noch stärker gewillt sein, ebendies 24/7 zu tun; eine unglaubliche Dauerberieselung mit Argumenten für die Abstimmungsempfehlungen der herrschenden Klasse wäre die Folge, die sogar das derzeitige Propagandaarsenal von Konzern- und GEZ-Medien bescheiden aussehen lassen könnte.
Nein: Die plebiszitäre Alternative ist, unter den Bedingungen des bundesdeutschen Realität des Jahres 2021, alles andere als eine tatsächliche Alternative. Das Problem ist: Wir haben jenen, die auf diese Karte setzen, keine positive Gegenerzählung zu präsentieren.
Im realpolitisch-populistischen Segment mag daher Elsässers Strategiethese des ungehörten und übergangenen Volks einige Stimmen und Emotionen mobilisieren; im metapolitischen Segment hat die Suche nach anderen, nach tragfähigen Alternativen für das eigene Milieu wiedermal neu begonnen.
Maiordomus
Dass die Schweiz in ihrer direkten Demokratie "idealisiert" wird, kann ich bestätigen, wiewohl im Einzelfall da noch echter Dampf abgelassen werden kann und die Regierenden bei uns noch eher irritiert werden können. Ohne parlamentarische Mehrheiten werden jedoch Volksentscheide von tatsächlicher Bedeutung nicht vollzogen.