Ja sicher, auf den Freisitzen der Cafés und Restaurants zwischen Berliner Mitte und Prenzlauer Berg, also in der linksgrünen Lifestyle-Kultur der „neuen urbanen Schichten“.
Wo aber auf dem Lande, wo im befriedeten Osten? Man entdeckt das Milieu der Mitte, wenn man morgens mal nicht durch die Natur, sondern durch eines der gepflegten Eigenheimgebiete joggt, die sich um die Städte des Beitrittsgebietes gelagert haben.
In diese so künstlich wie sauber anmutenden Siedlungen zogen jene, die schon als sozialistische Plattenbau-Bewohner arbeitsam, fit und selbstdiszipliniert gut zurechtkamen und erfolgreich waren.
Sie überstanden die Konversion des kollektivistischen Sozialismus zum durchindividualisierten Kapitalismus nicht nur, sondern waren als besonders engagierte Kräfte gut am Markt zu plazieren; sie hatten Familie und Kredit, beauftragten nach genauer Durchrechnerei eine schlüsselfertig bauende Firma und warteten geduldig ab, bis die mit gartenbaulichem Geschick erfolgten Anpflanzungen den spröden Charme der Anlage etwas eingrünten, so daß ihr Familiendomizil nicht mehr ganz so geplant, sondern schon beinahe naturgeworden anmutet.
Während sich draußen die Bäumchen im Wechsel der Jahreszeiten Jahresring auf Jahresring stülpen, sorgen die Bewohner für das Abzahlen ihrer Raten. Sie tragen das System so, wie der Schuldner nun mal den Gläubiger trägt. Immerhin bindet ein Kreditvertrag fester als jede Ehe und sorgt zuverlässig dafür, daß man sich diszipliniert in den großen Reproduktionsprozeß einordnet, und zwar an möglichst ertragreicher Stelle. Und auch kulturell ist man nicht subversiv. Warum auch? Es besteht keine Veranlassung.
Wer in einem Eigenheim lebt, der funktioniert so sicher wie seine eigene Gasheizung oder Wärmepumpe. Keine Experimente! Eher als der Widerstand gegen den Konsumismus erfolgt der Selbstmord der Privatinsolventen.
Hier draußen, hinter Buxbaumhecken und gestutztem Rasen, ist verklinkert jene politische Mitte zu Hause, mit der, wie man hört, die Wahlen gewonnen werden. Keine Radikalen, keine Waldgänger, keine Querulanten oder intellektualistischen Antaios-Käufer. Insbesondere die im ideologiefest verklammerten öffentlichen Dienst quasisosozialistisch Versorgten können sich weniger denn je eine kritische Haltung leisten.
Man lebt hier als Bürger, klar, eher als Kleinbürger, maßvoll auf engem Geviert, weil jeder Quadratmeter ja kostet. Ist man noch nicht zum ausgewiesenen Leistungs- und Entscheidungsträger aufgestiegen, so doch aber zum Profi-Verbraucher.
Im Sinne der letzten DDR-Plakate aus der Zeit der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ kann gelten: Man leistet was, und man leistet sich was: Carport, Grillplatz, Pergolaecke mit Plasterutsche und Gummibecken für die Kleinen. Alles sehr praktisch, so für das Treffen mit Freunden und die neuerdings üblichen Familienevents: gemeinsames Kochen, Spieleabende, kleine artige Partys, bei denen man ein paar Bonmots austauscht und sich gegenseitig ein bißchen beguckt.
Bei denen mit noch etwas schickeren, nicht ganz so konfektioniert wirkenden Häuschen reicht es vielleicht gar zu einer legal eingestellten und anständig mit Mindestlohn bezahlten Putzfrau, bei allen aber zu Mehrfacheinkäufen bei den besseren Discountern oder Bio-Märkten und zum andauernden Nachtanken. Das Auto ist wichtig, sonst kommt man aus dem Wohlstandsbezirk gar nicht heraus.
Als erstes muß ein Eigenheimer mit seinem Verbrenner- oder Elektromobil die Lösung aller Transport- und Logistikprobleme der familiären Haushaltung beherrschen: Waren reinholen, Trennmüll und Rasenschnitt wegschaffen, Kinder zu deren vielfältigen Verpflichtungen chauffieren – Pferdehof, Musikschule, Physiotherapie, Förderunterricht.
Weil in Bezug auf Mengen und Personen viel zu bewegen ist, avancierte erst der Van, dann der SUV zum bevorzugten Vehikel der saturierteren Familien. Beliebt sind mitten im Zivilen Fahrzeuge, mit denen man die Kalahari durchqueren könnte. Verdrängte Militanz? Man sieht jedenfalls augenfällig oft Fahrzeuge von bulliger Ranger-Anmutung, aber Familienväter tragen heutzutage ja auch dicke Fliegeruhren wie F 16-Bomberpiloten.
Es geht um Fitneß, Resilienz, Durchkommen, Stehvermögen. Und selbst wenn man das alles naturgemäß im Alterungsprozeß verliert, kann man diesen Anspruch immer noch unter die Motorhaube verlagern und sich symbolisch und wirkungsästhetisch vitalistische Symbole und Fetische zulegen. Und so zeigen, daß man in der Nahrungskette weiter hinten unterwegs ist. Etwas Held muß man schon bleiben.
Auf meiner morgendlichen Trainingsrunde laufe ich, aus dem Plattenbauviertel der sozial Schwachen und Migranten kommend, die geometrisch so sinnig angelegten Straßen und Wege der neuen Trabantenbezirke entlang, mitten durch fremdes Leben, am liebsten, wenn der unsere demokratische Gesellschaft tragende Mittelstand gerade seinen Tag beginnt und seine genau katasterten Grund-Stücke verläßt, um zu neuer Wertschöpfung aufzubrechen.
In scheckheftgepflegten Karossen, vorzugsweise dunkel und poliert, rollen Männer mit sorgfältig getrimmten Bärten an mir vorbei; in Kleinwagen, gern kindlich bunt oder mit witzig aufgeklebten Blüten- oder Schmetterlingsdekor aufgepeppt, folgen ihnen die Gattinnen, sehr geschmackvoll zurechtgemacht, dezent geschminkt, die Haut straff, nur mitunter etwas durchgetrocknet, was am Streß oder am intensiven Training liegen mag: früher noch Aerobic, dann Zumba, jetzt eher Yoga, stets begleitet von sehr, sehr bewußter Ernährung.
Hinter den Damen sitzt häufig ein TÜV-sicher verschnalltes und einer Ganztags-Bildungseinrichtung zuzuführendes Kind, das im Fond des Wagens aufwachsen wird. Immer hinter Glas. Wenigstens die ersten Jahre. Der ältere Nachwuchs ist – obligatorisch mit Helm – durchaus mal mit dem Rad unterwegs oder wartet gestylt an den Bushaltestellen.
Selbstverständlich alles Abiturienten mit den „good genes“ des unteren und mittleren Mittelstandes. Mehr zu fordern als zu fördern. Schlaksige, etwas ungelenk wirkende Jungen mit weiten Hosen und hängenden Scheiteln, daneben Mädchen, die schon wie verheiratet oder wenigstens so glatt wie in Telenovelas oder in der Großdrogisten-Werbung aussehen.
Was für eine Zufriedenheit, denkt man beim Vorbeilaufen! Alles so beflissen regsam, urgesund, nichts Lautes, kein Zoff, nicht mal Zigarettenkippen irgendwo. Selbstverständlich nicht.
Überall die Verbotsschilder gegen am falschen Ort kackende Hunde. Hier ist man Vorbild, beschädigt sich nicht selbst und arbeitet beflissen an seiner Selbstoptimierung. Die Nachtruhe ist heilig, denn die Häuser, so viel jedes für sich auch hermacht, stehen eng beieinander, etwa so wie früher Zelte auf Camping-Plätzen.
Überhaupt erinnert der Grundriß durchaus an Lager. Nur sind die klaren Linien und Symmetrien plastisch-organisch gemildert. Handelte es sich nicht um eine contradictio in adiecto, könnte man soziologisch durchaus von einem Wohlstandghetto sprechen.
Wie lebt es sich wohl in solchen Häusern? Unten ein gemütlich weitläufiger Wohnbereich mit großer Küche, vermutlich von amerikanischer Anmutung. Wo soziale und politische längst durch Ernährungsprobleme abgelöst sind, avancierte das Kochen zur Lebensphilosophie. Intelligente Geräte, sinnige Utensilien, blankes Geschirr, Granitspüle als letztes archaisches Zitat darin.
Oben sicher ein großes Zimmer mit ergonomisch geprüfter Sitzgruppe und bodentiefen Fenstern, famos blattenden Grünpflanzen, an den Wänden expressiv farbaktive Bilder mit Nolde-Rot und rundum so einiges an edel nüchternem Design, elegant funktional wie Architekten-Tischleuchten, und selbstverständlich einer dieser alle cineastische Bedürfnisse zufriedenstellenden Flachbildschirme.
Apropos Bildschirme: Mit der Welt hat man so direkt ohnehin kaum mehr zu tun, man ist mit ihr über Medien verstöpselt. Fällt das Internet aus, ist man weitgehend allein.
Unterm Dach dann als Mansarde das Schlaf- und die Kinderzimmer, viel gelaugtes Naturholz, obligatorisch ein zweites Bad und aus dem Giebel heraus die Aussicht über die gesamte schnucklige Siedlung, hinter der am Horizont die alte Stadt liegt, der man glücklicherweise entrann.
Aussicht? Mehr noch als die Alten wird die Jugend von den Screens absorbiert und verschwand darin wie in ein Spiegelland. Einerseits sehnt man sich nach dem Echten und Unmittelbaren, andererseits lebt man weitgehend im Virtuellen. Was im Coworking-Space beginnt, kann in einer Hikikomori-Existenz enden, auch hierzulande.
Ist das ein Neidreport? Willst du hier wohnen, frage ich mich, hier, in der nouvelle-tristesse statt in deiner Plattenbau-Bude? Eher nicht.
brueckenbauer
Ja schön. Das sind eben Leute, die durch Veränderungen mehr zu verlieren als zu gewinnen haben und die daher "keine (sichtbaren) Experimente" wählen. Mit denen hatten schon die amerikanischen Kommunisten und ihre Hippie-Nachfolger Probleme (Pete Seeger, Little Boxes).Aber nicht vergessen: Der Mensch ist überall, auch in dieser Verpackung, ein kämpfendes und leidendes Wesen. Und ohne diese Leute ist ein deutsches Volk nicht denkbar. Man kann sie auch mal aus der Distanz und sezierend betrachten, aber man sollte dabei nicht stehen blieben.