Ralph Waldo Emerson zeigte sich erstaunt über den allzu großen Kontrast zwischen dem Genie der Werke und dem landläufigen Image des angenommenen Autors; Walt Whitman vermutete, nur einer von Shakespeares “wölfischen Earls” sei imstande gewesen, die Größe und Ruchlosigkeit der “mittelalterlichen Aristokratie” derart mustergültig darzustellen.
Henry James wurde von dem Verdacht geplagt, der “göttliche William” sei womöglich “der größte und erfolgreichste Schwindel, der jemals einer langmütigen Welt aufgetischt wurde.” Mark Twain publizierte 1909 ein ganzes Buch mit dem Titel Is Shakespeare Dead?, in dem er ausführlich seine Zweifel an der Autorschaft Shaksperes darlegte.
Eine amerikanische Schriftstellerin namens Delia Bacon begründete 1857 die Schule der “Baconianer”, die davon ausging, daß sich hinter “Shake-Speare” der Philosoph Francis Bacon verbarg und die sich mit besonderer Inbrunst der Entschlüsselung von Kryptogrammen widmete; 1892 folgte mit Christopher Marlowe ein weiterer Kandidat, der sich ziemlich hartnäckig hielt. Dieser Theorie zufolge hat das enfant terrible unter den elisabethanischen Dramatikern seinen Tod vorgetäuscht, um als “Shakespeare” wieder aufzutauchen und zur Meisterschaft reifen.
Andere, darunter ziemlich unwahrscheinliche Kandidaten, die im Laufe der Zeit genannt wurden, waren Elisabeth I. selbst, König James I., Edmund Spenser, Sir Walter Raleigh, Anne Hathaway (Shaksperes Ehefrau, die das “zweitbeste Bett” geerbt hat) oder gar Daniel Defoe (geboren 1660!). Es versteht sich von selbst, daß in jüngerer Zeit auch eine “schwarze Frau” ins Feld geführt wurde: Emilia Bassano, alias Emilia Lanier, die auf den überlieferten Portraits allerdings ziemlich weiß aussieht.
Der bei weitem wahrscheinlichste Kandidat, Edward de Vere, der 17. Earl von Oxford, wurde 1920 durch einen literarischen Sherlock Holmes und akademischen Außenseiter namens Thomas Looney ins Spiel gebracht. Looney war ein Englishlehrer aus der Provinz, dessen Nachname oft Anlaß zu billigem Spott bot (“looney” = “verrückt”).
Seine Methode war “deduktiv”: In seinem Buch “Shakespeare” Identified stellte er zunächst einige Kriterien auf, die der Autor Shakespeare plausiblerweise erfüllen müsse, und entdeckte auf diese Weise sein “Bingo”, den Earl of Oxford, in praktisch jeder Hinsicht ein episches Gegenbild zu dem bescheidenen “Nobody” aus Stratford. Ich habe diese Kriterien im ersten Teil dieses Beitrags so zusammengefaßt:
Der Autor des Shakespeare’schen Werkes jedoch muß nach allem Ermessen enorme Kenntnisse auf einer Vielzahl von Gebieten besessen haben: Seien es die Gepflogenheiten und Intrigen des königlichen Hofes, Latein, Griechisch, Französisch und Italienisch, die Klassiker der Antike (insbesondere Ovid) und die Bibel, sowie Geschichte, Rechtswissenschaft, Philosophie, Medizin, Falknerei, Navigation, Musik, militärische Taktik, Gärtnerei oder Heraldik. Sein detailiertes geographisches und kulturelles Wissen über Italien deutet darauf hin, daß sich der Autor dort längere Zeit aufgehalten haben muß.
All dies kann man nun bei Edward de Vere nachweisen: Aus einem alten und einflußreichen Geschlecht stammend, wurde er als Zwölfjähriger nach dem Tod seines Vaters “Mündel” (ward) der Königin Elisabeth und lebte fortan im Haus von Sir William Cecil, Baron Burghley, der mächtigen “grauen Eminenz” des Staates, die für die Erziehung etlicher adeliger junger Männer zuständig war.
In der Person William Cecils, später auch de Veres Schwiegervater und in vielerlei Hinsicht seine Nemesis, wurde oft das Vorbild von Hamlets Gegenspieler Polonius vermutet. Polonius’ Ratschläge zur klugen Lebensführung an seinen Sohn Laertes wurden offenbar teilweise aus einem Büchlein Cecils für seinen Sohn abgekupfert, das lediglich im privaten Kreis kursierte, und das Shakspere aus Stratford unmöglich gekannt haben kann.
Unter der Ägide Cecils wurde de Vere eine umfassende höfisch-aristokratische Ausbildung zuteil. Joe Sobran berichtet:
Ein typischer Unterrichtstag beinhaltete Französisch, Latein, Schreiben und Zeichnen, Kosmographie, Übungen mit seiner Schreibfeder und gemeinsame Gebete. Sein regelmäßiger Zeitvertreib bestand in Reiten, Schießen und Falknerei.
Auch an Dichtern und Literaten mangelte es in seiner Familie und Umgebung nicht: Sein angeheirateter Onkel Henry Howard, der Earl von Surrey, übersetzte Vergils Aeneis und schuf die später “shakespearisch” genannte englische Sonettform sowie den englischen Blankvers. Ein anderer Onkel, Arthur Golding, war Übersetzer der Metamorphosen des Ovid, die zu den wichtigsten Quellen des Shakespeare’schen Werkes zählen. Ezra Pound nannte diesen englischen Renaissance-Ovid “the most beautiful book in the language”. Etliche Oxfordianer vermuten, daß der jugendliche de Vere selbst der Übersetzer war und der trockene Calvinist Golding der Publikation lediglich seinen Namen geliehen hat.
In Cecils Haus hatte de Vere Zugang zu einer für damalige Verhältnisse riesigen Bibliothek, und zu seinen Tutoren zählte unter anderem der bedeutende Kartograph Laurence Nowell, der Entdecker des einzigen erhaltenen Manuskripts des angelsächischen Epos “Beowulf”, das vermutlich einige Stellen im “Hamlet” inspiriert hat. Aus de Veres Besitz sind Werke von Plutarch, Chaucer, Cicero und Plato nachgewiesen; es ist sogar eine Genfer Bibel mit seinen handschriftlichen Anmerkungen erhalten geblieben, wobei die angestrichenen Verse stark mit den Bibelzitaten in Shakespeares Werk korrespondieren.
Der junge Edward de Vere war ein extravaganter und schillernder Charakter. Sportlich und gutaussehend zeichnete er sich als erfolgreicher Turnierreiter aus und stieg am Hofe von Königin Elizabeth rasch zum Favoriten und “Insider” auf. Zu seinem ererbten Vermögen hatte er ein ziemlich lockeres und fatal “generöses” Verhältnis; in späteren Jahren war er hoch verschuldet und hatte ständig Geldsorgen. Auch seinen Status bei Hof sollte er verlieren und in Schmach und Ungnade verfallen.
In seinem Leben finden sich zahlreiche dramatische Anekdoten: Siebzehnjährig erdolchte er einen Koch aus William Cecils Haushalt, angeblich aus Notwehr. Wie Hamlet wurde er im Ärmelkanal von Piraten überfallen und nackt am Strand ausgesetzt. Er zeugte ehebrecherisch ein uneheliches Kind mit einer Hofdame Elisabeths und wanderte dafür in den Tower of London. Um die Schande zu rächen, attackierte ein Onkel dieser Dame den Verführer, tötete seinen Diener und verwundete ihn selbst schwer. Seine Feinde bezichtigten ihn unter anderem der Häresie, des Landesverrats, der Trunksucht und der Schändung minderjähriger Knaben. Am Ende seines Lebens war er vermutlich in den mißglückten “Staatsstreich” des Earl of Essex verwickelt.
Als echter “Renaissance-Mensch” war Edward de Vere aber auch ein Ritter des Geistes und der Feder. Im Gegensatz zu dem Bodenspekulanten aus Stratford sind von ihm etliche Gedichte und Briefe überliefert, in deren Stil und Wortwahl sich zahlreiche Shakespeare’sche Echos wiederfinden. Er ließ Baldassare Castigliones “Kultbuch” Il libro del Cortegiano (dt. Das Buch vom Hofmann) und einen philosophischen Traktat von Gerolamo Cardano übersetzen, der als Inspiration von Hamlets berühmten Monologen gilt. Innerhalb seiner Kreise genoß er ein enorm hohes Ansehen als Dichter und bedeutender Förderer der Literatur.
Sage und schreibe 28 Bücher wurden Edward de Vere gewidmet, mehr als irgendeiner anderen Person im elisabethanischen Zeitalter, abgesehen von der Königin selbst. Auch der Bühne war er zugetan: Wir wissen aus zeitgenössischen Quellen, daß er (nicht überlieferte) Stücke schrieb, zwei Theatertruppen unterhielt (die “Oxford’s Men” hatte bereits sein Vater gegründet) und zeitweilig Pächter des Blackfriars Theatre war. Etliche Dramatiker wie John Lyly, Thomas Nashe, Anthony Munday und Robert Greene standen als “Sekretäre” in seinen Diensten.
Textspuren und Einflüsse dieser Autoren lassen sich in erheblicher Anzahl in Shakespeares Stücken nachweisen, während “Shakespeare” selbst im weitläufigen Netzwerk de Veres nirgends zu finden ist. So erscheint die These plausibel, daß de Vere-Shakespeare wie die Meistermaler seiner Zeit mehrere Assistenten und Schüler beschäftigte und Kopf einer Theaterwerkstatt war, die als kreative Kraft hinter den großen Schauspieltruppen “The Queen’s Men” und “The Lord Chamberlain’s Men” stand.
Alexander Waugh (der Enkel von Evelyn und der Sohn von Auberon) schrieb:
Obwohl dokumentarische Aufzeichnungen beweisen, daß Oxford von seinen Zeitgenossen als erstklassiger Dichter, Dramatiker und Gelehrter verehrt wurde, der im verborgenen Herzen des literarischen Englands wirkte, besteht die heutige orthodoxe Lehre darauf, daß alle seine dramatischen Werke verschollen sind, während der einzige vollständige Kanon von sechsunddreißig erstklassigen Stücken, der aus dieser Zeit überliefert ist – und der sich intensiv mit Monarchen, Höfen, Adeligen, dynastischen Streitigkeiten, Italien, Sprache, Gelehrsamkeit usw. beschäftigt – Stratford-Shakspere zugeschrieben wird, der weder als Dramatiker noch als Gelehrter in Erscheinung getreten ist, dessen Ausbildung nicht belegt ist und der während seiner Lebenszeit in keiner literatischen Aufzeichung auftaucht.
Die naheliegende Schlußfolgerung ist, daß das Werk “Shakespeares” nichts anderes als das “verschollene” Werk de Veres ist.
Pseudonyme und anonyme Publikationen waren in der elisabethanischen Ära gang und gäbe. Sie empfahlen sich schon allein aufgrund der vorherrschenden strengen Zensur und der Härte, mit der der Staat gegen seine Kritiker vorging. Der anonyme Autor (vermutlich George Puttenham) des Buches The Arte of English Poesie berichtet 1589, daß es für Männer des Adels als unschicklich und diskreditierend galt, Lyrik zu publizieren:
So as I know very many notable gentlemen in the Court that have written commendably and suppressed it agayne, or els sufred it to be publisht without their own names to it…
So kenne ich viele namhafte Herren am Hof, die Vorzügliches geschrieben und es daraufhin wieder unterdrückt haben oder zuließen, daß es nicht unter ihrem eigenen Namen publiziert wurde.
Und er nannte (nebst einigen anderen) einen dieser noblen Herren beim Namen: Er sprach von
… Noble men and Gentlemen of her Majesties owne servauntes, who have written excellently well as it would appeare if their doings could be found out and made publicke with the rest, of which number is first that noble Gentleman Edward Earle of Oxford.
… edlen Herren und Gentlemen unter den Dienern ihrer Majestät, die Exzellentes geschrieben haben, wie zum Vorschein käme, wenn ihre Taten herausgefunden und mitsamt den anderen veröffentlicht werden könnten, deren erster dieser edle Gentleman Edward, Earl von Oxford, ist.
Besonders ins Gewicht fällt, daß Oxford ein großer Liebhaber Italiens war, das er in den Jahren 1575–76 ausgiebig bereist hat. Zehn Shakespeare-Stücke spielen in diesem Land, das der Autor, wie bereits erwähnt, enorm gut gekannt haben muß.
Das ist nur die Spitze des Eisberges und bei weitem nicht alles, was von den Oxfordianern ins Feld geführt wird. Freilich handelt es sich hierbei nur um Indizien (“circumstantial evidence”), keine direkten Beweise, aber sie tauchen in einer beispiellosen Häufung auf, wie sie kein anderer Kandidat der Shakespeare-Autorschaft vorweisen kann, insbesondere Mr. Shakspere.
Ich für meinen Teil bin ohne jeden Zweifel von der Richtigkeit der Oxford-Theorie überzeugt. Wer sich in die Beweisführung vertieft, wird erleben, wie es ununterbrochen auf verblüffende Weise klickt, klickt, klickt, bis man schier überwältigt ist. Als Einstieg empfehle ich das Buch von Joe Sobran, Genannt: Shakespeare. Wer kann, sollte es im englischen Original lesen, da Sobran ein wunderbar klarer und eleganter Autor war.
Kompakt und flüssig zu lesen ist auch diese dreiteilige Zusammenfassung von Alexander Waugh. Grundsätzlich ist leider nur sehr wenig Literatur zu diesem Thema übersetzt worden.
Bevor ich im letzten und dritten Teil allgemeine Schlußfolgerungen aus diesem “Fall” ziehe, komme ich nicht umhin, noch das Fortgeschrittenen-Level der Oxford-Schule zu erwähnen: Die “Prince Tudor Theory”, die auch Roland Emmerich in seinem Oxford-Film “Anonymus” verwurstet hat und die von vielen Oxfordianern als unseriös und absurd abgelehnt wird.
Ich kann nicht mit demselben guten Gewissen sagen, daß ihre Beweislage so eindeutig ist wie bei der “Basistheorie”. Ist man allerdings erst vom Oxford-Fieber gepackt worden, ist sie schier unwiderstehlich.
Diese “erweiterte” Theorie behauptet, daß Edward de Vere Vater eines verheimlichten Sohnes der “jungfräulichen” König Elisabeth war, mit anderen Worten also des potentiellen Thronfolgers und vermutlich letzten Erbens der Tudor-Linie. Dieses gemeinsame Kind “Shakespeares” und Elisabeths soll ein Mann namens Henry Wriothesly, Earl von Southampton (1573–1624) gewesen sein.
Diese Theorie, die erstmalig von Thomas Looneys exzentrischem Schüler Percy Allen vertreten wurde, wird vor allem texthermeneutisch begründet. Eine zentrale Rolle spielen dabei die geheimnisvollen 154 Sonette, die 1609 in kleiner Auflage erschienen sind, um kurz darauf für Jahrzehnte in der Versenkung zu verschwinden. Der Autor “Shake-Speare” wird im Widmungstext des Herausgebers Thomas Thorpe als “our everliving poet” bezeichnet, eine Wortwahl, die darauf hindeutet, daß er bereits verstorben ist. (Die Oxfordianer weisen außerdem darauf hin, daß das Wort “ever” von eingeweihten Zeitgenossen als Chiffre für Edward de Vere – “E.Ver” – benutzt wurde.)
Bedenkt man nun, daß die Rose das Symbol der Tudors war, bekommen die ersten Zeilen des ersten Sonetts eine erweiterte Bedeutung:
From fairest creatures we desire increase,
That thereby beauty’s Rose might never die…
Die Widmung Thorpes richtet sich an den „only begetter“ (den “einzigen Empfänger” oder auch “Erzeuger”) der Sonette, einen “Mr. W. H.”. Da sie überwiegend an einen “schönen Jüngling” (fair youth) addressiert sind, gehen viele Forscher davon aus, daß damit Henry Wriothesly gemeint war, dem Shakespeare bereits seine frühesten Veröffentlichungen, die epischen Gedichte Venus and Adonis (1593) und The Rape of Lucrece (1594), gewidmet hatte.
Letztere Widmungen sind in Shakespeares Werk einzigartig und haben ihrerseits kräftig den Zweifel an dem Gentleman aus Stratford genährt. Ihr sehr persönlicher und hingebungsvoller Tonfall scheint äußerst unziemlich für jemanden, der nicht selbst aus dem Adelsstand stammt und dem Adressaten auf Augenhöhe begegnen könnte. Das gilt erst recht, wenn man in Wriothesly sowohl “Mr. W. H.” als auch den “fair youth” der Sonette erkennen will. Jedenfalls hat bis heute niemand plausibel erklären können, wie Shakspere an den Earl von Southampton geraten ist und welche Beziehung die beiden ungleichen Männer zueinander hatten.
De Vere und Wriothesly hingegen bewegten sich im selben sozialen Umfeld und haben einander vermutlich sehr gut gekannt. Ihre Biographien weisen etliche Parallelen auf. Wie der Earl von Oxford war auch der dreiundzwanzig Jahre jüngere Earl von Southampton ein “Mündel der Königin” und verbrachte viele Jahre im Haushalt von William Cecil. Dieser drängte ihn zur Verehelichung mit seiner Enkeltocher Elizabeth de Vere – also der Tochter Edward de Veres -, was Wriothesly jedoch ausschlug.
Nicht minder schwierig ist es, Stratford-Shakspeare und den Inhalt der Sonette in irgendeiner Weise miteinander in Verbindung zu bringen. In ihnen scheint der Dichter, häufig das Wort “Ich” benutzend, in intimer Weise von sich selbst zu sprechen. In den ersten siebzehn Sonetten präsentiert er sich als Mann mittleren Alters, der den schönen Jüngling beharrlich beschwört, einen Erben in die Welt zu setzen (so mag vielleicht einst de Vere zu seinem Schwiegersohn in spe gesprochen haben). Andere an den jungen Mann gerichtete Sonette wiederum wirken wie homoerotische, aber platonisch abgefederte Liebeserklärungen. Die Sonette 127 bis 152 hingegen drehen sich um eine “Dark Lady” (diesen Namen gab ihr die Literaturwissenschaft), zu der der Autor offenbar eine selbstzerstörerische und abgründige erotische Beziehung pflegt. In den Sonetten 77–86 taucht schließlich ein unidentifizierter Dichter-Rivale auf.
Ein Amerikaner namens Hank Whittemore behauptet, das Rätsel der Sonette in seinem 900 Seiten starken Werk The Monument gelöst zu haben. Ich gestehe, daß mich seine Analysen ziemlich beeindruckt, wenn auch nicht restlos überzeugt haben. Hier war ein wahrhaft Besessener am Werk, der buchstäblich jedes einzelne Wort der Sonette zerkaut und durchleuchtet hat.
Whittemores Schlüssel sieht so aus: Der Dichter, dessen “Ich” in den Sonetten spricht, ist Oxford; der Jüngling ist “Henry Wriothesly” – nicht der Geliebte, sondern der Sohn des Dichters; die “Dark Lady” ist Königin Elisabeth; der “Rival Poet” ist das Alter Ego “William Shakespeare”, dessen Name de Veres eigenen ersetzen und auslöschen wird. Das zentrale Thema des bis ins kleinste Detail durchkomponierten Sonette-Zyklus sei die Frage der Thronfolge, ihr historischer Kern die “Rebellion” des Earl von Essex im Jahr 1601, die angeblich das Ziel hatte, die Herrschaft des Cecil-Klans zu brechen und Elisabeth zur Anerkennung Wriotheslys zu bewegen.
Folgt man der “Prinz Tudor”-Theorie, so lag das Motiv der Verschleierung der Identität Shakespeare-Oxfords viel tiefer als etwa in der Abwendung der Schmach einer nicht-standesgemäßen Betätigung oder einer homosexuellen Beziehung (was Joe Sobran annimmt). Edward de Vere als “Shakespeare” wäre demnach aufgrund einer hochpolitischen Intrige, in der das Königreich selbst auf dem Spiel stand, aus der Geschichte verschwunden.
Und das ist noch immer nicht alles. Es kommt noch dicker: Die nächste Stufe der Tudor-Theorie geht davon aus, daß auch de Vere ein Sohn Elisabeths war, mithin, daß Wriothesly durch Inzest gezeugt wurde.
Ich gebe zu: Das alles klingt auf den ersten Blick wie eine völlig abstruse “Verschwörungstheorie”, aber ich schwöre, daß sie immer plausibler wird, je tiefer man in den Oxford’schen Kaninchenbau hinabsteigt. Ich nehme es aber keinem Leser übel, wenn er mich jetzt für vollends bekloppt hält. Ich kann hierzu nur Shakespeare selbst zitieren: Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt!
Zum Schluß noch ein paar Worte zu den Sonetten.
Diese außerordentlich raffinierten und kunstfertigen Gedichte Shake-Speares sind mit wenigen Ausnahmen, die sich “universell” auslegen lassen, notorisch mysteriös, wenn nicht teilweise völlig unverständlich. Aus diesem Grund gibt es bis heute keine wirklich befriedigende deutsche Übersetzung: Allzu oft gewinnt man den Eindruck, daß sich die Übersetzer selbst nicht ganz im Klaren waren, was sie da eigentlich übersetzt haben.
Stefan George, der 1909 eine komplette “Umdichtung” veröffentlichte, nannte die “Anbetung vor der Schönheit und den glühenden Verewigungsdrang” im Zeichen der “weltschaffenden Kraft der übergeschlechtlichen Liebe” als eigentlichen “Gehalt” der Sonette. Diese Deutung entsprach freilich verdächtig seinem eigenen poetischen Programm.
Karl Kraus verabscheute Georges Fassung derart inbrünstig, daß er 1933 eine eigene Gesamtübersetzung der Sonette veröffentlichte, die er explizit als Antwort auf die “Denkmalschändung” des vermeintlichen “Hohepriesters” verstanden haben wollte.
Beide Übersetzungen haben ihre Vorzüge und Schwächen, so richtig überzeugend ist jedoch weder die eine noch die andere. Hier ist zum Beispiel der Anfang meines persönlichen Lieblings-Sonetts (II):
When forty winters shall besiege thy brow
And dig deep trenches in thy beauty’s field,
Thy youth’s proud livery, so gazed on now,
Will be a tattered weed, of small worth held.
George macht daraus:
Belagern vierzig winter deine brauen
Ziehn gräben tief in deiner schönheit flur:
Ist deiner jugend putz: heut ein gestaun
Dann eine wertlos rissige hülle nur.
Und nun Kraus (der das Wort “gestaun” besonders lächerlich fand):
Dir wird, wenn in die Jahre du gekommen
und Falten furchend durch dein Antlitz ziehn,
Erinnrung jener Schönheit wenig frommen,
die schneller als die Zeit dir ging dahin.
Kraus hat allen Ernstes das stärkste und schönste Bild des Sonetts, die “Belagerung durch vierzig Winter”, fallen gelassen, ebenso wie den Kontrast zwischen “proud livery” und “tattered weed”!
Der Punkt geht eindeutig an George!
– – –
Fortsetzung folgt im dritten und letzten Teil dieses Beitrags.
Koek Boeri
Anne Hathaway (Shaksperes Ehefrau, die das “zweitbeste Bett” geerbt hat)
Anne Hathaway? Will hatte sicherlich einen guten Geschmack.
ML: Das mußte ich jetzt gugeln!