von Frederik Holst und Erik Lehnert
Wir wissen, daß dort, wo es um »Große Erzählungen« und um Angstpolitik geht, das Argument ein Mauerblümchen ist. Verstehen wir das folgende also als Protokoll: Was konnte man im Frühjahr 2021 wissen, aus welchen Erfahrungen hätte man seit Monaten klug geworden sein können?
Ursprung und Vorbereitung
Im Dezember 2019 brach in der chinesischen Stadt Wuhan (Provinz Hubei) die Lungenkrankheit COVID-19 aus. Zu der Annahme, daß es sich bei dem Erreger SARS-CoV‑2, einem Coronavirus, um eine Zoonose handelt, die auf einem chinesischen Tiermarkt in der Stadt Wuhan übertragen wurde, kommen zunehmend Hinweise auf einen Unfall in einem biotechnologischen Labor im Zentrum von Wuhan. Für beide Hypothesen gibt es wissenschaftliche Argumente, die Labor-These ist bisher allerdings eine akademische Außenseiterposition, findet jedoch zunehmend Fürsprecher.
Aus epidemiologischer Sicht ist die Antwort belanglos, das Virus ist in der Welt. Am 30. Januar 2020 rief die WHO eine »gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite« aus. In China wurden bis dahin in diesem Ausmaß ungekannte Maßnahmen zum Infektionsschutz ergriffen. Die ganze Provinz Hubei mit 50 Millionen Einwohnern wurde abgeriegelt, Ausgangssperren verhängt, Quarantäne angeordnet, Kontaktverbote ausgesprochen und Kontaktverfolgung betrieben. Man war vorbereitet.
Zwei Monate vor dem Ausbruch in China fand am 18. Oktober 2019 in New York die Simulationsübung »Event 201« mit einem fiktiven Coronavirus statt. Das Planspiel wurde vom Weltwirtschaftsforum (WEF), der Johns-Hopkins-Universität und der Bill & Melinda Gates Foundation organisiert. In dem zugrundeliegenden Szenario einer globalen Pandemie durch die fiktive Lungenkrankheit »CAPS«, ausgelöst durch ein SARS-ähnliches Coronavirus, ging man von 65 Million Toten innerhalb von 18 Monaten aus. Das Ergebnis der Beratungen, an der auch der Generaldirektor der chinesischen Seuchenschutzbehörde CCDC teilnahm, wurde in Form einer Handlungsaufforderung publiziert. Das zentrale Anliegen war ein staatlich-privater Zusammenschluß (»public-private cooperation«) in der Seuchenbekämfung, der Aufklärungsarbeit und der angemessenen Reaktion auf die ökonomischen Folgen von Pandemien. Regierungen und Privatwirtschaft sollten Methoden zur Bekämpfung von »Fehlinformationen« (»mis- and disinformation«) entwickeln. Auch in pharmazeutische Produkte, wie etwa Impfstoffe, sollten Regierungen investieren.
Bereits 2010 hatte die Rockefeller-Stiftung ein pandemisches Szenario hypothetisch durchgespielt und publiziert. Als Folge der Pandemie wurde die Entwicklung einer strengeren staatlichen Obrigkeit mit autoritärem Führungsstil inklusive einer entsprechenden bürgerlichen Gegenwehr für plausibel gehalten. Auch extreme Maßnahmen und hermetische Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie unter anderem mit einer »weltumspannenden« Maskenpflicht wurden für möglich gehalten.
Bergamo und Angstpolitik
Nachdem dann im Februar 2020 die ersten COVID-19-Fälle in Norditalien gemeldet wurden, gingen, den entsprechenden Meldungen aus China ähnlich, Bilder von überfüllten Intensivstationen, überlasteten Krematorien und Militärfahrzeugen, die Leichen abtransportierten, um die Welt. Die »Bilder aus Bergamo« wurden zum Topos, mit dem Verweis auf sie konnte man Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus anschaulich rechtfertigen. Schnell wurde aber deutlich, daß in Norditalien die Altersstruktur der Bevölkerung, die Luftverschmutzung und vor allem der Zustand des Gesundheitssystems eine besondere Rolle spielten. Die Überlastung des italienischen Gesundheitssystems war bereits von der saisonalen Grippe her bekannt. Diese Umstände fanden jedoch kaum oder gar keinen Eingang in die Berichterstattung der Massenmedien. Durch panische Fehlentscheidungen wurde die Situation in Norditalien vermutlich noch verschärft. Menschen mit leichten Symptomen kamen in die Krankenhäuser und wurden von dort in Altenheime überwiesen. Solche Einweisungen stellten sich als eine tödliche Falle für viele der Betroffenen, inklusive des Personals, heraus. Später kam der mit klinischen Beobachtungen untermauerte Verdacht auf, daß die COVID-19-Patienten in Norditalien in der Panik etwa mit einer Intubation zur künstlichen Beatmung übertherapiert wurden und daran verstarben.
Die Massenmedien blieben, im Unterschied zur Schweinegrippe 2009, in erstaunlich gleichförmiger Weise unkritisch gegenüber dem offiziellen Narrativ der Regierungsorgane und ihrer Berater, die sozialen Medien wie Twitter, Facebook und YouTube zensierten kritische Beiträge. Erst mit dem Jahreswechsel 2020 / 21 wurde deutlichere Skepsis wahrnehmbar. Die Welt am Sonntag legte am 7. Februar dieses Jahres Vorgänge offen, die zu der anfänglichen Kritiklosigkeit beigetragen haben dürften. Die Zeitung berichtete über Dokumente aus dem Bundesministerium des Innern (BMI), die offenlegten, daß die Bundesregierung in Gestalt des BMI wissenschaftliche Einrichtungen im März 2020 dazu angehalten hatte, Daten zu generieren, mit denen Maßnahmen »repressiver Natur« gerechtfertigt werden könnten. Das Ergebnis war das zunächst vertrauliche Strategiepapier »Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen«, in dem man von über einer Million Toten im Jahre 2020 in Deutschland ausging. Dabei berief sich das BMI auf ein »Expertenteam«, auf welches das Amt unmittelbar zuvor selbst mit dem Ziel eingewirkt hatte, möglichst bedrohliche Einschätzungen abzugeben, damit diese wiederum für die entsprechenden politischen Zwecke eingesetzt werden könnten. Zur Strategie des BMI gehörte damit auch das gezielte Schüren von Ängsten, gerade auch bei Kindern.
Unklar ist, welche Rolle dabei eine Risikoanalyse zum epidemischen Bevölkerungsschutz aus dem Jahr 2012 spielte, in der eine fiktive Pandemie durch ein SARS-Virus angenommen wurde. Das Szenario einer »Pandemie durch Virus Modi-SARS« wurde unter fachlicher Federführung des Robert-Koch-Instituts (RKI) und Mitwirkung weiterer Bundesbehörden entwickelt. Es wurde dabei hervorgehoben, daß im Rahmen von notwendigen Schutzmaßnahmen Grundrechte (Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit) eingeschränkt werden könnten. Dabei veranschlagte man die Sterblichkeitsrate bei den Erkrankten mit zehn Prozent und sah eine entsprechende Kommunikation in Printmedien, Fernsehen, Social Media vor. »Nur wenn die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen (etwa Quarantäne) überzeugt ist, werden sich diese umsetzen lassen«.
Grundrechte und Krankenhauskapazitäten
Während die deutsche Regierung zu Beginn des Jahres 2020 die gesundheitliche Gefahr für die Bevölkerung als gering einschätzte und dies auf einer Pressekonferenz am 28. Januar durch Gesundheitsminister Spahn und RKI-Chef Wieler, der noch am 14. Februar von einer schweren Grippewelle sprach, auch öffentlich kommunizierte, wendete sich das Blatt Ende Februar mit der Einsetzung eines Krisenstabs. Seit dem 3. März 2020 einigt sich die Bund-Länder-Konferenz regelmäßig auf (verfassungsrechtlich umstrittene) Anordnungen, Verlängerungen, Lockerungen und Verschärfungen der bekannten Eindämmungsmaßnahmen nach chinesischem Vorbild (Lockdown), bestehend aus Zwangsmaßnahmen: von Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Quarantäne über die Schließung von fast allen Einrichtungen bis zur Maskenpflicht im öffentlichen Raum und dem sogenannten Verweilverbot an öffentlichen Plätzen. Dringend gebotene Operationen wurden verschoben, um Krankenhauskapazitäten für COVID-19-Patienten freizuhalten.
Begründet wurden die harten Einschnitte in das private und öffentliche Leben zunächst mit einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems. »Flatten the Curve«, die Infektionskurve flach halten, hieß die Parole, mit der man die Bevölkerung auf die Eindämmungsmaßnahmen einschwor. Als epidemiologische Parameter für eine flache Kurve galt zunächst eine Verdoppelung der festgestellten Neuinfektionen während eines Zeitraums von nicht weniger als zwei Wochen, später von nur noch zehn Tagen. Außerdem durfte der R‑Wert (wie viele andere Personen steckt ein Mensch durchschnittlich an?) nicht größer als eins sein – ein Parameter der auch bei niedrigen Inzidenzen schnell erreicht ist. Schließlich wurde die Anzahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner pro Woche zum epidemiologischen Parameter für die Rechtfertigung von Lockdown-Maßnahmen. Für diese Inzidenzen wurden Mitte November mit dem »Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite« absolute Schwellenwerte ins Infektionsschutzgesetz eingebracht; deren Überschreitung verband man mit gesetzlich verpflichtenden Schutzmaßnahmen, die je nach Schwellenwert eine Abschwächung, eine Kontrolle oder eine Eindämmung des Infektionsgeschehens zum Ziel haben. Diese Schwellenwerte sind insofern willkürlich, als daß die Inzidenzen von der Anzahl der Testungen abhängen.
Die Daten des zu Beginn der Corona-Krise eingerichteten deutschen Intensivbettenregisters (DIVI-Intensivregister) zeigen jedoch, daß das deutsche Gesundheitssystem sich seit Beginn der Krise zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd an der Grenze zur Überlastung befand. Auch die mutierten Varianten von SARS-CoV‑2 mit einer um 50 Prozent erhöhten Übertragbarkeit konnten daran nichts ändern. Angesichts der relativ unauffälligen epidemiologischen Daten stehen die Einschränkungen der Grundrechte aus Sicht vieler Bürger in keinem Verhältnis mehr zum Nutzen der Maßnahmen.
Letalität und Todeszahlen
Die anfänglich von der WHO kommunizierte Sterberate (Letalität) von über drei Prozent der Fälle (»reported cases«) ist wissenschaftlich irreführend: Während das RKI heute mit Hilfe von Modellierungen eine Letalität von ca. 1,1 Prozent angibt, ermittelte das Studienteam KoCo19 in einer Münchner Stichprobe auf Grundlage empirischer Daten 0,47 Prozent, die Forschergruppe um Professor Hendrik Streeck, ebenfalls durch empirische Untersuchungen, eine Infektionssterblichkeitsrate von 0,36 Prozent. Und der Professor für Epidemiologie und Bevölkerungsgesundheit an der Stanford-Universität, John Ioannidis, ermittelte empirisch 0,23 Prozent. Dieser Wert liegt knapp über der Spanne, die in der wissenschaftlichen Literatur mit 0,1 bis 0,2 Prozent für die saisonale Grippe angegeben wird. Unter Berücksichtigung der weltweit unterschiedlichen Altersstruktur der Bevölkerung errechnete Ioannidis eine Letalität (Infektionssterblichkeitsrate) von 0,15 bis 0,2 Prozent.
Der aktuelle Altersmedian der Verstorbenen mit positivem SARS-CoV-2-Testergebnis liegt bei 84 Jahren (»Täglicher Lagebericht« des RKI vom 9. März 2021). Das sind zwei Jahre über der allgemeinen Lebenserwartung (Altersmedian Verstorbener) in Deutschland im Jahr 2019. In der Grippesaison 2018 / 19 lag der Altersmedian der an Influenza Verstorbenen, den Meldedaten zufolge, bei nur 78 Jahren (RKI: »Bericht zur Epidemiologie der Influenza in Deutschland Saison 2018 / 19«). Demnach wirkte sich die Influenza bei jüngeren Bevölkerungsgruppen öfter tödlich aus als COVID-19. Entsprechend sind jüngere Menschen deutlich weniger von SARS-CoV‑2 betroffen als von Influenza. Die Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen sind im Vergleich zur Influenza in der Grippesaison 2018 / 19 gering. Die Altersgruppen null bis vier und fünf bis 14 Jahre machen nur 1,8 und 4,3 Prozent der gemeldeten Fälle aus. Bei Influenza der Grippesaison 2018 / 19 waren es in diesen Altersgruppen dagegen 13 und elf Prozent.
Auch eine ungewöhnliche Übersterblichkeit war im Corona-Jahr bisher nicht feststellbar. Eine abschließende statistische Analyse zur Beurteilung einer sogenannten Übersterblichkeit liegt zwar noch nicht vor (Statistisches Bundesamt: »Sterbefälle 2016 – 2021«, Sonderauswertung zu den Sterbefällen 2016 bis 2021, Stand 8. März 2021), bisher wurden jedoch lediglich temporäre Erhöhungen gegenüber den Vorjahren festgestellt, etwa im Dezember um 29 Prozent, ähnlich der Hongkong-Grippe 1969. Aber auch in den Jahren 2017 und 2018 gab es durch die saisonale Grippe im Frühjahr ebenfalls temporäre Häufungen von Todesfällen (Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 044 vom 29. Januar 2021). Schon der Altersmedian der Verstorbenen legt nahe, daß eine Infektion mit SARS-CoV‑2 vor allem bei ausgeprägt vorerkrankten Menschen zum Tode führt. Daraus entbrannte eine öffentliche Diskussion darum, ob die Todesopfer nun an oder nur mit Corona verstorben seien. Normalerweise wird jemand, der fünf Jahre lang mit einer Lungenkrebserkrankung rang und zuletzt eine Lungenentzündung nicht überlebte, den an Krebs Verstorbenen zugerechnet. SARS-CoV-2-Infizierte zählte das RKI hingegen auch ohne Kausalzusammenhang in die Sterbestatistik dieser Epidemie. Die Auswirkungen von COVID-19 auf die Mortalität in Deutschland blieben offensichtlich überschaubar. Der Anteil von COVID-19 an den Atemwegserkrankungen und die durch COVID-19-Patienten belegten Intensivbetten machten nur jeweils einen Bruchteil der Gesamtheit aus, und auch eine temporär aufgetretene Übersterblichkeit war vergleichbar mit vorigen Jahren.
Maskenpflicht und Hygiene
Gegen die PCR-Tests zur Feststellung von Infektionen mit SARS-CoV‑2 wurden schwere Bedenken geäußert. Der Test kann zwar spezifisches Virusmaterial feststellen, nicht jedoch im Einzelfall sicherstellen, ob das nachgewiesene Virusmaterial intakt und der Getestete erkrankt oder gar infektiös ist. Für das Schreckgespenst der »asymptotischen Infektionen« konnten bis heute kaum belastbare empirische Belege erbracht werden. Dadurch erscheint eine allgemeine Maskenpflicht fragwürdig, vor allem im öffentlichen Raum außerhalb von Gesundheitseinrichtungen.
Auch die geringe Anzahl gemeldeter Fälle von Influenza in der COVID-19-Saison 2020 / 21 sind nichts Ungewöhnliches und sprechen nicht zwingend für das Tragen von Masken: In den Saisonjahren 2011 / 12 und 2013 / 14 gab es auch ohne Maskenpflicht ähnlich geringe Meldezahlen für Influenza. Und gerade für diese Infektionskrankheit hatte die amerikanischen Seuchenschutzbehörde CDC eine Metaanalyse empirischer Daten aus randomisierten und kontrollierten Studien mit dem Ergebnis publiziert, daß diese keinen Nachweis für die Wirksamkeit von Masken im öffentlichen Raum erbringen konnten. Der Einbruch an gemeldeten akuten respiratorischen Erkrankungen (ARE) und Influenza-ähnlichen Erkrankungen erfolgte etwa ab der 36. Kalenderwoche 2020, also mitten im August, lange nach der Einführung des ersten Lockdowns im März oder der Maskenpflicht Ende April und lange vor Beginn der erneuten Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen im Februar 2021. Die Ursachen für den Rückgang der akuten respiratorischen Erkrankungen seit dem Sommer bleiben unklar. Möglich ist auch, daß die Besinnung auf ein seit Jahrzehnten bewährtes konventionelles Hygieneverhalten – wie etwa, Gesellschaft zu meiden, wenn man Krankheitssymptome aufweist – zu dem Rückgang beigetragen haben könnte.
Belege für die Wirksamkeit sogenannter nicht-pharmazeutischer Maßnahmen (Lockdown) stützen sich vor allem auf theoretische Modellrechnungen. Dies auch mit empirischen Analysen nachzuweisen erwies sich offenbar als schwierig. So wie die Auswertung der Meldedaten nach dem Infektionsschutzgesetz durch das RKI sich nur schwierig oder gar nicht direkt mit den Kontaktbeschränkungen in Zusammenhang bringen läßt, kommen internationale Analysen zu ähnlichen Ergebnissen. Demnach entwickelt sich das Infektionsgeschehen weitgehend unabhängig davon, ob und welche Maßnahmen ergriffen wurden.
Kollateralschäden und Ethik
Die Warnungen von Experten vor unverhältnismäßigen Kollateralschäden wurden weitgehend ignoriert, obwohl der Bundesregierung bereits im Mai 2020 die interne Evaluation des Corona-Krisenmanagements eines Regierungsrats aus dem für den Schutz kritischer Infrastrukturen zuständigen Referat KM4 im Innenministerium vorgelegen hatte. Die unter Beteiligung externer Expertise angefertigte Analyse diagnostizierte gravierende Fehlleistungen des Krisenmanagements und kam zu dem Ergebnis schwerwiegender gesundheitlicher Schäden durch die Maßnahmen zum Infektionsschutz: »Der Kollateralschaden ist inzwischen höher als der erkennbare Nutzen«, heißt es in dem Dokument. Damit wurden die Ergebnisse zahlreicher wissenschaftlicher Studien und Analysen vorweggenommen, die später zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen sollten. Dabei wurde auch die Warnung vor den Folgen der ökonomischen Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit und Armut von prominenter Seite wissenschaftlich gestützt. Die Ausarbeitung wurde vom Ministerium jedoch als Privatmeinung verworfen (Deutscher Bundestag: Drucksache 19 / 19928, 19 / 20309). Während man im März 2020 der Regierung noch eine allgemeine Verunsicherung und die möglicherweise empfundene Pflicht zugute halten konnte, im Zweifel die Gefahr einer unbekannten Seuche schwerer zu gewichten als mögliche Kollateralschäden, so fällt auf, daß nach dem Frühling 2020 eine fundierte Nutzen-Schaden-Abwägung und die Prüfung von Alternativen zur bisherigen Pandemie-Politik unterblieben. Unter anderem hätte der Ausbau der Intensivbettenkapazitäten, die personelle und materielle Ausstattung der Gesundheitsämter sowie ein Schutzprogramm für vulnerable Bevölkerungsgruppen nahegelegen. Statt dessen hatte die Führung Deutschlands immer noch kaum Kenntnis darüber, welche medizinischen Risiken ihre Politik für die Bürger des Landes barg: »Dezidierte Erkenntnisse zu den gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland, die in Zusammenhang mit den Pandemie-bedingten Veränderungen im Versorgungsgeschehen stehen könnten«, lagen der Bundesregierung Ende Juni nicht vor (Deutscher Bundestag: Drucksache 19 / 21298).
Durch Stellungnahmen aus dem deutschen Gesundheitssystem und Untersuchungen aus dem Ausland waren zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits Hinweise und Daten über die medizinischen Kollateralschäden der Maßnahmen bekannt, die eigentlich ergriffen wurden, um die Gesundheit der Bevölkerung vor COVID-19 zu schützen (Deutscher Bundestag: Drucksache 19 / 21015). Auch der Anstieg der Suizide bzw. Suizidversuche war seit Mai öffentlich dokumentiert (Abgeordnetenhaus Berlin: Drucksache 18 / 19026). Die Bundesregierung schien an den vorhandenen Informationen über Kollateralschäden nicht sonderlich interessiert. Im Gegenteil, ein ausgesuchter Kreis von Beratern aus der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina riet der Regierung, den bisherigen Kurs fortzusetzen und zu verschärfen (»7. Ad-hoc-Stellungnahme« vom 8. Dezember 2020).
Impfen und Vertrauen
Vor über einem Jahrzehnt initiierte Wolfgang Wodarg die Untersuchungen des Europarates zur Schweinegrippe-Pandemie H1N1 2009/10. Damit sollte der Einfluß von Pharmakonzernen auf internationale, europäische und nationale Gesundheitsbehörden aufgeklärt werden. In ihrer daraufhin verabschiedeten Resolution listete die Parlamentarische Versammlung des Europarates auf, wie verantwortungslos die H1N1-Pandemie gehandhabt worden war, und zwar sowohl von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch von den internationalen, europäischen und nationalen Gesundheitsbehörden. Kritikpunkte waren die Verzerrung der Prioritäten in der Gesundheitspolitik, die zu einer Verschwendung öffentlicher Gelder und zu ungerechtfertigten Befürchtungen hinsichtlich der Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung geführt habe, und gravierende Mängel in bezug auf die Transparenz der Entscheidungsprozesse im Zusammenhang mit der Pandemie, die zu Bedenken hinsichtlich des möglichen Einflusses der Pharmaindustrie auf einige der wichtigsten Entscheidungen im Zusammenhang mit der Pandemie führten. Die Versammlung befürchtete, daß dieser Mangel an Transparenz und Rechenschaftspflicht zu einem Vertrauensverlust in die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen führen könnte. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts wurden die Risiken verzerrter Prioritäten dieser Politik deutlicher. Bei einem der Impfstoffe gegen die Schweinegrippe, der zumindest für Teile der Fachwelt unerwartet schnell und nach dem Konzept der »Musterimpfstoffe« zugelassen werden konnte (»Pandemrix® vor der Markteinführung«, in: Deutsche Apotheker-Zeitung 41 / 2009), wurde eine seltene, aber schwere Nebenwirkung nachgewiesen. Das Präparat Pandemrix konnte Narkolepsie auslösen.
In der COVID-19-Pandemie setzte die Regierung erneut auf Impfstoffe als Lösung, womit sie in der Bevölkerung sowohl Hoffnungen weckte als auch Ängste schürte. Vorbehalte gegenüber den eilig entwickelten und bedingt zugelassenen Impfstoffen gegen SARS-CoV‑2 / COVID-19 sind naheliegend, vor allem, weil es sich bei manchem der Präparate um keinen konventionellen, sondern um einen neuartigen Typ von Impfstoff handelt, der den Mechanismus natürlicher Erreger nachahmt und das Erbmaterial des Virus mit künstlichen Nanopartikeln in die Zelle schleust. Die Zulassungsdaten ließen bei der untersuchten Studienpopulation in dem Untersuchungszeitraum auf keine ungewöhnlichen Impfreaktionen und Nebenwirkungen schließen.
Das Paul-Ehrlich-Institut meldete Mitte Januar 2021 »keine Sicherheitsbedenken bei Corona-Impfstoffen bisher« (Ärztezeitung, 2021), wobei mögliche Langzeitfolgen bei dieser Bewertung keine Rolle spielen konnten. Für Beunruhigung in der Öffentlichkeit sorgte zuletzt vor allem der Impfstoff von AstraZeneca, bei dem es sich nicht um Lipid-Nanopartikel mit RNS handelt, sondern um einen Vektorimpfstoff mit einem Adenovirus, das DNS enthält. Die gemeldeten und mit Besorgnis diskutierten Fälle schwerer Impfreaktionen heben die Notwendigkeit sorgfältiger Überwachung gesundheitlicher Folgewirkungen hervor. Viele europäische Länder, darunter am 15. März 2021 auch Deutschland, setzten die Anwendung daher zunächst aus. Auch durch diese Vorgänge wird die allgemeine Verunsicherung mit einhergehendem Vertrauensverlust in die Gesundheitsbehörden deutlich. Angesichts dieser Irritationen und der moderaten epidemiologischen Lage stellt sich auch hier die Frage der Verhältnismäßigkeit, ein ganzes Volk »durchimpfen« zu wollen. ¡