Spätere Wissenschaftler stimmten dieser Einschätzung zu. Samuel Schoenbaum (1927–1996), eine Koryphäe seines Fachs, sprach sogar von der “Shakespeare-Entdeckung des Jahrhunderts”. Worum handelte es sich?
Williams hatte nach jahrelanger Wühlarbeit durch (nach eigener Aussage) fünf Millionen Dokumente aus der elisabethanischen Zeit eine eidesstattliche Erklärung aus dem Jahr 1612 entdeckt, geschrieben in der dritten Person von einem Sekretär, unterzeichnet in einer krakeligen, kaum lesbaren Klaue mit dem Namen “Wilm Shakp”.
Der Fall, in den Stratford-Shakspere verwickelt war, drehte sich um einen Damenhutmacher namens Mountjoy, der von seinem Schwiegersohn verklagt wurde, weil er die versprochene Mitgift nicht bezahlt hatte. Shakspere, der eine Zeit lang bei den Mountjoys gewohnt hatte, hatte offenbar beim Arrangement der Ehe mitgeholfen, und wurde deshalb als Zeuge vor Gericht bestellt. Er konnte sich allerdings nicht mehr genau an die Bedingungen der Mitgift erinnern.
Dieses epochale Fundstück offenbart freilich nur wenig über den Menschen und rein gar nichts über den Dichter William Shakespeare. Auch zur Beantwortung der Autorschaftsfrage liefert es keinen Beitrag. Das hinderte die Biographen nicht, sich in ekstatische Rhapsodien hineinzusteigern. Joe Sobran zitiert einige davon:
“Daß Shakespeare mit einer hart arbeitenden Familie das Dach und das Alltagsleben teilte, und sogar seine Hilfe anbot, um zwei junge Menschen glücklich zu machen, läßt ihn als genau den Mann erscheinen, den die Welt gerne in ihm sehen möchte: unprätentiös, sympathisch und durch und durch menschlich.” (Charles William Wallace, der Entdecker des Fundstückes)
“Uns wurde das Glück zuteil, einen Blick auf den König der Dichter zu erhaschen, wie er sich unbefangen unter den bescheideneren Gegenständen seiner Kunst bewegt, was nicht nur die Berichte über seine weltläufige Menschlichkeit bestätigt, sondern auch darauf hindeutet, daß Shakespeare, weit davon entfernt, von dem unüberwindbaren Widerwillen befallen zu sein, sich eine andere Sprache als die eigene anzueignen, zu den Mountjoys gegangen sein könnte, um sein Französisch zu verbessern.” (Peter Alexander)
“Auch hier erkennen wir Shakespeares ureigene Besonnenheit; er ließ sich nicht zu einer möglicherweise ungenauen Aussage verleiten, sondern tat für beide Parteien sein Bestes.” (Peter Quennell)
“Von allen Shakespeare-Dokumenten zeigt nur der Belott-Mountjoy-Prozeß, daß er inmitten des Rohmaterials für bürgerliche Komödien lebte. Trotz seiner krämerhaften oder schäbigen Untertöne, offenbart das Gerichtsverfahren den Dichter-Dramatiker als einen etwas verwirrten Sterblichen.” (Samuel Schoenbaum)
“Sein Verstand arbeitete mit blitzartiger Geschwindigkeit und seine Sinne waren ständig in Bewegung. Er war überall dort anzutreffen, wo etwas Aufregendes passierte und wenn er genug hatte, schloß er die Tür und schrieb seine Gedichte. Im Mountjoy-Haus gab es immer so viel Aufregung, wie er brauchte.” (Robert Payne)
Viele Shakespeare-Biographien sind randvoll mit frei flottierenden Phantasien dieser Art, die sich an völlig trockenen und dürftigen Dokumenten entzünden. Sie zeigen die Intensität des Bedürfnisses, der Person Shakespeares habhaft zu werden und die eher enttäuschende Faktenlage zu kompensieren.
Die Ironie könnte nicht größer sein: Während die Stratfordianer wie hypnotisiert auf jeden nichtssagenden Fetzen Papier starrten, den sie nach mühseliger Suche in die Hand bekamen und wie eine Reliquie verehrten, weigerten sie sich stur, die zum Bersten gefüllte Schatzkammer, die Thomas Looney hinter ihrem Rücken aufgeschlossen hatte, auch nur wahrzunehmen.
Hier bot sich plötzlich ein greifbarer und scharf konturierter Mensch aus Fleisch und Blut an, über den ungleich mehr überliefert war als über Mr. Shakspere, alle Wünsche der frustrierten Shakespeare-Forscher der Jahrhunderte erfüllend, hätten sie sich nicht in das Bild vom stillen, spontan genialen “Barden” aus dem Volke verliebt.
So stark wirkte das 1623 von Ben Jonson und seinen Komplizen in die Welt gesetzte Paradigma, daß sie es nicht über sich brachten, es loszulassen und außerhalb seines Rahmens zu denken, obwohl der Wítz für alle, die Augen im Kopf hatten, seit Jahrhunderten offen zutage lag, im Hanswurst auf dem Kupferstich, den Martin Droeshout für die Titelseite des “ersten Folios” angefertigt hatte.
Sobran schreibt zu Recht:
Im starken Kontrast hierzu [den ernüchternden Erfahrungen der Oxfordianer], wird sich der Forscher, der die Aufzeichnungen über Oxfords Leben studiert, alles andere als enttäuscht fühlen. Ganz im Gegenteil wird er immer wieder schockhafte Momente des Wiedererkennens erleben.
Looney, ein fleißiger und passionierter Außenseiter, hatte somit der Zunft der etablierten akademischen Shakespearologen eine “narzisstische Kränkung” zugefügt, auf die sie mit entsprechender Aggression und Abwehr reagierte.
Der Mann, der letzteren psychologischen Begriff geprägt hat, Sigmund Freud, zählte übrigens zu den frühen Anhängern der Oxford-Theorie. 1935 schrieb er:
Ich glaube nicht mehr, daß der Schauspieler William Shakespeare aus Stratford der Verfasser der Werke ist, die ihm so lange zugeschrieben wurden. Seit der Veröffentlichung des Buches “Shakespeare Identified” von J. Th. Looney bin ich nahezu überzeugt davon, daß sich hinter diesem Decknamen tatsächlich Edward de Vere, Earl of Oxford, verbirgt.
Freud war bei weitem nicht der einzige prominente Kopf, der sich überzeugen ließ. Zuspruch kam vor allem aus den Reihen von Literaten und Schauspielern, darunter große Shakespeare-Darsteller wie Orson Welles, John Gielgud, Michael York, Kenneth Branagh oder Derek Jacobi. “Mainstream” wurde der Oxfordianismus 2011 mit dem Kostümspektakel “Anonymus” von Roland Emmerich, das leider nur halbgelungen ist und an den Kinokassen floppte.
Das Interesse an Edward de Vere hat allerdings seit dem Film gehörigen Auftrieb bekommen und hält bis heute an: So erschienen in den letzten Jahren gleich zwei Dokumentarfilme aus oxfordianischer Perspektive: “Nothing Is Truer Than the Truth” (2018) und “The Truth Behind the Name” (2021). Der beste Film ist aber immer noch die Dokumentation “Last Will. & Testament” (2011), die zusammen mit dem Emmerich-Schinken herauskam.
Der Kampf zwischen Stratfordianern und Oxfordianern währt nun schon über ein Jahrhundert, und obwohl letztere inzwischen erhebliches Gelände für sich gewinnen konnten, bleibt das Establishment der Shakespeare-Forschung stramm stratfordianisch. Der Stratfordianismus bestimmt nach wie vor “die Wahrheit” der Schulbücher, Literaturgeschichten und Wikipedia-Artikel.
Amüsant wird es, wenn man sich ansieht, mit welchen Mitteln die Anti-Stratfordianer seit eh und je bekämpft wurden. Das Establishment verweigerte lange jegliche Auseinandersetzung mit den oxfordianischen Argumenten, und sträubt sich bis auf den heutigen Tag, auch nur den kleinsten berechtigten Zweifel an der offenkundigen Wahrheit der Autorschaft William Shaksperes einzuräumen.
Hank Whittemore schrieb im Vorwort zu seinem Buch 100 Reasons Shake-speare was the Earl of Oxford (2016):
Diejenigen, die glauben, daß “William Shakespeare” ein Pseudonym für ein hochrangiges, vielseitig begabtes, etwas exzentrisches Mitglied der Aristokratie des elisabethanischen Englands war, werden als Verschwörungstheoretiker, Elitisten oder psychisch Labile verhöhnt. Diese Menschen, so sagt man, wollen nicht akzeptieren, daß der große Dichter und Dramatiker aus bescheidenen Verhältnissen stammte und sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat. Sie wollen nicht akzeptieren, daß Shakespeare ganz einfach ein “Genie” war, das seine Vorstellungskraft nutzen konnte, um seine Meisterwerke zu schaffen.
Exemplarisch für die Unterstellung eines narzisstischen Aristokratie-Komplexes ist etwa dieses Zitat von Samuel Schoenbaum:
In bestimmten typischen Merkmalen des antistratfordianischen Verhaltens lassen sich psychopathologische Muster erkennen. Die Abscheu des Ketzers vor dem Provinziellen und Gemeinen; die Überhöhung seines Helden (und, durch Identifikation, seiner selbst), indem er ihn mit einem aristokratischen, sogar königlichen Stammbaum ausstattet; seine paranoiden Denkstrukturen, die die klassischen Paraphernalia des Verfolgungswahns umfassen: Geheimnisse, Flüche, Verschwörungen; der Zwang, in Kirchen, Schlössern, Flußbetten und Gräbern zu graben; die Selbsthypnose, Geistererscheinungen und anderen halluzinatorischen Phänomene; in einigen Fällen das buchstäbliche Abgleiten in den Wahnsinn – all diese Manifestationen einer unruhigen Psyche legen nahe, daß die Bewegung weniger die Expertise des Literaturhistorikers als vielmehr die Einsicht des Psychiaters erfordert. Dr. Freud läßt grüßen.
Dr. Freud, der ironischerweise von der Oxford-Theorie “nahezu überzeugt” war!
Ähnlich wie Schoenbaum äußerte sich 2017 der orthodoxe Stratfordianer Sir Jonathan Bate, einer der angesehensten lebenden Shakespeare-Spezialisten, in einer öffentlichen Debatte (einsehbar auf Youtube) mit dem Oxfordianer Alexander Waugh, mit dem er privat eng befreundet ist:
Dies ist eine Debatte. Der Schlüssel zum Geist einer Debatte ist dieser: Sind Sie bereit, Ihre Meinung zu ändern? Glauben Sie an evidenzbasierte Argumente? Oder bevorzugen Sie Zufälle, Verschwörungen und Kryptogramme, versteckte Codes? Ich bin hier, um für historische Beweise, für die Wahrheit, für Fakten zu sprechen.
Ich weiß jedoch, daß ich in unserer post-faktischen Welt die Gläubigen der “Fake News”, daß Shakespeare nicht Shakespeare geschrieben hat, nicht umstimmen kann. Ich werde die Oxford-Kultisten, die Flugblätter auf Ihre Stühle gelegt haben, nicht überzeugen. Kultisten lassen Emotionen und Wunschdenken über Beweise und gesunden Menschenverstand siegen. Ich bin hier, um mich an die Agnostiker unter Ihnen zu wenden. Die wahren Gläubigen der verfälschten Geschichte sind ein hoffnungsloser Fall. Aber ich mag sie sehr gern. Sie tragen zur “Heiterkeit der Nationen” bei.
Zu den auch wirtschaftlich interessierten Verteidigern des Stratfordianismus zählen Institutionen wie die Stiftung “Shakespeare Birthplace Trust”, die 2013 ein Buch mit dem Titel Shakespeare Beyond Doubt herausgab, das den Anti-Stratfordianern ein für alle Mal den Garaus machen wollte. Diese antworteten unter Federführung von Alexander Waugh mit dem Gegenbuch Shakespeare Beyond Doubt?, das den treffenden Untertitel “Exposing an Industry in Denial” trug.
Der Ehrenpräsident des Birthplace Trust, der renommierte Shakespeareforscher Stanley Wells (*1930), fuhr schwere Geschütze auf, um die Oxfordianer zu diskreditieren: “It is dangerous and immoral to question history”, “Es ist gefährlich und unmoralisch, die Geschichte in Frage zu stellen”, soll Wells nach Auskunft von Alexander Waugh gesagt haben.
In meiner mehr als fünfzigjährigen Laufbahn habe ich Shakespeare ständig gelesen und wieder gelesen, sein Leben und seine Werke studiert und gelehrt, alle seine Stücke unzählige Male auf der Bühne, im Film und im Fernsehen gesehen, über ihre Bedeutung nachgedacht und geschrieben und sie alle sowohl für die Oxford University Press als auch für Penguin herausgegeben.
Es ist bezeichnend, daß er seine Stellungnahme mit einem “Autoritätsargument” beginnt. Dieses ist auch die wesentliche Grundlage seines strengen Verdikts:
Während dieser ganzen Zeit wurde ich, obwohl ich nie den geringsten Grund gesehen habe, seine Urheberschaft anzuzweifeln, häufig mit der Vermutung konfrontiert, daß sie nicht von William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon geschrieben wurden, sondern zum Beispiel von Francis Bacon, Christopher Marlowe, dem Earl of Oxford – übrigens ein wirklich schreckliches Werk! – und in jüngerer Zeit Sir Henry Neville, Lady Mary Sidney und, erst heute, Fulke Greville. (…)
Ich hoffe, daß ich noch imstande bin, vernünftig und (bis zu einem gewissen Grad) höflich mit diesem Thema umzugehen, aber die Zeit der Toleranz ist vorbei. Es gibt keinen vernünftigen Zweifel daran, dass William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon die Werke vefaßt hat, die ihm traditionell zugeschrieben werden.
Nun: Ich habe mich in die Autorschaftsfrage vertieft, und nach meinem Ermessen gibt es zuhauf “vernünftige Zweifel” an “William Shakespeare aus Stratford-upon-Avon”, und zwar völlig unabhängig davon, welchen Kandidaten man als Alternative in Betracht zieht. Das ist die allermindeste Erkenntnis, die man aus der anti-stratfordianischen Literatur mitnimmt. Und wie aus dieser Artikelserie hervorgehen dürfte, scheint mir die Evidenz zugunsten Edward de Veres überwältigend zu sein.
Was nun? Wer bin ich kleiner Amateur gegen hochangesehene Experten wie Jonathan Bate oder Stanley Wells, die das Werk Shakespeares mit Sicherheit viel besser kennen als ich? Muß ich nun an meinem Verstand und meiner Urteilskraft zweifeln, und mich demütig den Autoritäten fügen?
Hinzu kommt, daß ich als neurechter Publizist natürlich hochverdächtig bin, aristokratische Komplexe zu hegen. Daß berüchtigte Reaktionäre wie Enoch Powell oder Joe Sobran ebenfalls im de-Vere-Lager standen, kann doch kein Zufall sein! (Und auch Alexander Waugh ist als Enkel von Evelyn und Sohn von Auberon Waugh ziemlich suspekt.)
Der geneigte Leser wird allmählich kapiert haben, worauf ich hinauswill: Wir haben es auch hier mit einem Establishment aus “Experten” zu tun, das der Welt seine Lehre als dogmatische, unantastbare Wahrheit verkaufen will, und das Häretiker weniger mit Argumenten als mit Difffamierungen bekämpft: der “Shakespeare-Leugner” ist in ihren Augen ein Spinner, ein Dilettant, ein Geisteskranker, ein “elitistischer” Demokratie- und Wissenschaftsfeind, ein Verschwörungstheoretiker, mit anderen Worten das, was man heutzutage als “Schwurbler” bezeichnet.
Nun ist es freilich nicht so, daß Stratfordianer immer Unrecht und Oxfordianer immer Recht hätten. Die “orthodoxen” Gelehrten haben enorm viel Wissen über Shakespeares Werke und seine Zeit zusammengetragen, und die Geschichte der “Autorschaftsfrage” ist in der Tat voll mit Spinnern, Schwärmern, Romantikern, Exzentrikern und Irrlichtern.
Berüchtigt ist etwa Thomas Looneys Schüler Percy Allen (1875–1959), ein führender Oxfordianer und Urheber der “Prince Tudor Theory”, der in den vierziger Jahren Seancen abhielt, in denen er sich intim mit dem Geistern von Shakspere, Francis Bacon und Edward de Vere unterhalten haben will, die ihm die Antworten auf alle noch offenen Fragen einflüsterten. Diese “Gespräche” schilderte er ausführlich in seinem Buch Talks with Elizabethans (1945), das der Glaubwürdigkeit der Oxfordianer einen Bärendienst erwies.
Es kam auch häufig vor, daß sich die Oxfordianer mindestens genauso dogmatisch, sektiererisch, borniert und unfair verhielten wie ihre stratfordianischen Gegenspieler – denen umgekehrt Schwärmerei und Romantik auch nicht immer ein Fremdwort waren.
Wo aber steht geschrieben, daß Spinner, Schwärmer, Romantiker, Exzentriker und Dilettanten zwangsläufig falsch liegen müssen? Gerade die Geschichte der Autorschaftsfrage Shakespeares zeigt, daß “die Wissenschaft” immer wieder der leidenschaftlichen “Querdenker” bedarf, die außerhalb starrer Paradigmen zu denken imstande sind, und die oft Verblüffendes und Übersehenes zutage fördern, nicht selten vermischt mit den Schlacken von Irrtümern und persönlichen Schrullen. So hat gewiß auch die Schule der “Baconisten”, die in eine Sackgasse geführt hat, zur Klärung der Wahrheit beigetragen.
Der Oxfordianismus ist heute längst seinen Kinderschuhen entwachsen, und hat dickleibige, gelehrte Werke auf hohem Niveau hervorgebracht, verfaßt von erstklassigen Autoren, die ihren Shakespeare mindestens so gut kennen und so sehr lieben wie ein Schoenbaum, Wells oder Bate. Es ist auch nicht mehr “ehrenrührig”, ein Oxfordianer zu sein – man wird damit als Akademiker zwar keine große Karriere machen können, aber auch nicht seinen guten Ruf und seinen Job verlieren, im Gegensatz zu anderen kontroversen Meinungen, die über den literarischen Elfenbeinturm hinausweisen. Ich für meinen Teil kann den Leser nur dazu einladen, sich selbst ein Urteil zu bilden, wenn sein Interesse geweckt ist.
Was ist die Moral aus dieser Geschichte? Wie gesagt: Mein stärkstes Erlebnis war der Schock über die Diskrepanz zwischen den kategorischen, abwertenden Aussagen der Stratfordianer und der umwerfenden Fülle, Rationalität und Schlüssigkeit der Argumente ihrer Widersacher. Es gibt Dinge, die über Jahrhunderte, wenn nicht über Jahrtausende hinweg als Wahrheit akzeptiert werden können, und die doch auf tönernen Füßen stehen und in Frage gestellt werden können, sollen und müssen. Es liegt in der Natur der Sache, daß man hier stets auf Widerstand stossen wird, ob im Äußeren oder Inneren.
Wahrscheinlich hat jeder von uns die eine oder andere liebgewonnene Überzeugung, die in seinem innerseelischen Haushalt eine so große Rolle spielt, daß er es vorzieht, sie auch trotz gegenteiliger Evidenzen vor Zweifeln abzuschirmen. Manche Dinge werden wir niemals mit Sicherheit wissen können; und zuweilen müssen wir uns entscheiden, ob wir agnostisch bleiben oder Partei ergreifen wollen.
Diese Entscheidung wird häufig nicht von unserem Kopf getroffen, sondern von unserem Herzen oder auch unserem Bauch. Ich selbst werde meine oxfordianische Überzeugung wohl schon deshalb nicht mehr ändern, weil sie mir eine Quelle intensiven geistigen Vergnügens bietet. Es ist schlichtweg die spannendere Geschichte, für die ich mich entschieden habe, allerdings in völliger Kongruenz mit meinen rationalen Erwägungen. Ich denke nicht, daß ich meiner Vernunft hier ein Leid getan habe, ganz im Gegenteil.
Diejenigen, die eine überkommene Wahrheit oder ein angreifbares Dogma verteidigen, sind nicht immer Narren oder Unwissende oder gar bewußte Lügner. Die hartnäckige menschliche Fähigkeit zur Selbsttäuschung, häufig verbunden mit kryptoreligiösen Sentiments, ist immens. Diese Tatsache verblüfft mich immer wieder, mehr als irgendeine andere Eigenschaft der “conditio humana”. Vielleicht ist sie ein Schlüssel zur Weltgeschichte.
Vieles, was die Stratfordianer Böses über die Oxfordianer gesagt haben, wirkt wie eine psychologische Projektion, der offenbar erstaunliche blinde Flecken zugundeliegen. Beweise, evidenzbasierte Argumente und gesunder Menschenverstand finden sich weitaus häufiger im Oxford- als im Stratford-Lager, auch wenn Jonathan Bate das Gegenteil behauptet. Gegnerische Parteien ähneln einander oft wie Spiegelbilder, aber sie haben nicht immer gleichermaßen an der Wahrheit teil (z. B. denke ich nicht, daß die Befürworter eines bestimmten, zur Zeit vieldiskutierten medizinischen Eingriffs auch nur “ein bißchen” Recht haben).
Als denkender und reflektierter Mensch sollte man sich stets bewußt sein, daß man auch selbst von der Fähigkeit zum Irrtum und zur Selbsttäuschung nicht ausgenommen ist. Wie aber demütig bleiben, ohne sich vor einer Entscheidung zu drücken? Ein russisch-orthodoxer Priester sagte einmal zu mir, daß uns Gott neben der Liebe auch die Wahrheit als höchstes Gut anvertraut hat. Der Kampf für die Wahrheit erfordert den Mut zum Irrtum. Man muß sich entscheiden. Übertriebene Skepsis kann auch ein Zeichen von Feigheit sein.
Damit wäre ich wieder beim Earl of Oxford angelangt. Sein Familienname “Vere” kann auf das lateinische verus = “wahr” zurückgeführt werden. Edward de Vere leitete daraus das Motto seines Wappens ab: Vero Nihil Verius, “nichts ist wahrer als die Wahrheit”. Nun: Ist diese Aussage nicht genauso ein Unsinn wie “nichts ist gelber als gelb selber”? Oder ist hier eine schmeichelhafte Anspielung auf die Identität des Earls versteckt (“Nichts ist wahrer als Vere”)?
Vielleicht bedeutet dieses Motto die ultimative Ironie für das Leben eines Mannes, dessen Gestalt weit über seinen Tod hinaus von Theater, Trug und Täuschung umschattet war, und dessen wahre Identität erst nach Jahrhunderten ans Tageslicht gekommen ist.
Ich für meinen Teil nehme es als Mahnung, der Wahrheit verpflichtet zu bleiben, so gut mir dies mit allen meinen Schwächen möglich ist.
Weiterführende Links zu Shakespeare/Edward de Vere:
The De Vere Society of Great Britain
Shakespeare Oxford Fellowship
Shakespeare Authorship Sourcebook
Hank Whittemore’s Shakespeare Blog
Neue Shake-speare Gesellschaft (deutschsprachige Seite)
Alexander Waugh (Youtube-Kanal)
Oxfraud – Anti-Oxford-Seite
Empfehlenswerte Bücher:
Mark Anderson: Shakespeare by Another Name: The Life of Edward de Vere, Gotham 2005.
Charles Beauclerk: Shakespeare’s Lost Kingdom: The True History of Shakespeare and Elizabeth, Grove Press 2011.
Kurt Kreiler: Der Mann, der Shakespeare erfand, Insel-Verlag 2009.
J. Thomas Looney: “Shakespeare” Identified, Veritas Publications 2019 (EA 1920).
Charlton Ogburn jr: The Mysterious William Shakespeare: The Myth and the Reality, Dodd & Mead 1984.
Richard Paul Roe: The Shakespeare Guide to Italy, Harper Perennial 2011.
Joseph Sobran: Genannt: Shakespeare. Die Lösung des größten literarischen Rätsels, Dumont 2002.
Hank Whittemore: 100 Reasons Shake-speare was the Earl of Oxford, Forever Press 2016.
Maiordomus
Banalitäten im Umgang mit Kleinbürgern lassen sich auf ganz ähnliche Art für den 26 Wochen währenden Aufenthalt von Paracelsus in St. Gallen 1531 nachweisen, bei dem es zu einem Streit um die Anwendung einer Kur mit aufgelegten lebenden Regenwürmern gegenüber dem Sohn des St. Galler Koches Kaspar Tischmacher kam, aufgezeichnet vom Tagebuch schreibenden Kaufmann Johannes Rütiner, einsehbar in der Bibliothek Vadiana St. Gallen. Dort steht auch, der im Ruf eines Magiers stehende Heiler habe seine Künste von Zigeunern erlernt, was man ihm aber zur Rufschädigung angehängt hat und was man nicht zum Nennwert nehmen darf. Fast die ganze Lebensgeschichte von Faust aus Knittlingen und Paracelsus aus Einsiedeln drohte bzw. droht über die längste Zeit der Rezeptionsgeschichte in allerlei Legenden zu ertrinken. Man könnte über diese beiden die deutsche Geistesgeschichte mitprägenden Persönlichkeiten eine ähnliche Serie hier publizieren wie es Lichtmesz gegenüber Shakespeare unternimmt. Die Unklarheiten erlauben fast jedwedes Szenario.