Handgranaten ins Blaue – Romane und Kunst (1)

Wenn wir über literarische und künstlerische Projekte des rechten Milieus nachdenken, ist es sinnvoll, daß wir sie von der Kulturpflege abgrenzen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Alles, was wir an tra­di­tio­nel­ler Dis­zi­plin üben (Klas­si­ker lesen, Instru­men­te spie­len, Lie­der sin­gen, Muse­en besu­chen, Land­schaf­ten erwan­dern, Gerich­te genie­ßen, Sti­le pfle­gen), wird von Mil­lio­nen ande­ren eben­so gemacht, und dort, wo es zum Aus­druck kommt, sogar mit Ergeb­nis­sen von einer Qua­li­tät, an die unser über­schau­ba­res Milieu nicht heranreicht.

Jede Debat­te über die nach­ah­men­de Kunst, also über das Tra­die­ren durch Kön­nen, wird albern, sofern man sie ideo­lo­gisch ein­engt und den Punkt nicht trifft. Über die zeit­geist­ab­hän­gi­ge Inter­pre­ta­ti­on klas­si­scher Stü­cke auf Thea­ter- und Opern­büh­nen müs­sen wir kein Wort ver­lie­ren, bloß eines: Wird’s rich­tig ideo­lo­gisch, ist’s unter jeder Fah­ne kaum zu ertra­gen – egal also, ob Sozis, Nazis oder Demo­kra­zis Regie führen.

(Unemp­find­li­cher sind Orches­ter­wer­ke: Was soll­te bes­ser am Gewand­haus­or­ches­ter oder an einer Mozart-Mes­se sein, wenn die­je­ni­gen, die sie zu Gehör zu brin­gen über­haupt im Stan­de sind, zusätz­lich noch die aus unse­rer Sicht rich­ti­ge Gesin­nung mit­bräch­ten oder aber das glat­te Gegenteil?)

Wenn wir also über lite­ra­ri­sche und künst­le­ri­sche Pro­jek­te des rech­ten Milieus nach­den­ken, dann geht es um “auf­ge­la­de­ne” Wer­ke, um “enga­gier­tes” Schaf­fen, nicht aber um die neu­tra­le, neu­er­li­che Aus­for­mung einer tra­dier­ten Form auf hohem Niveau. Zwei­er­lei Meß­lat­te also: Ist der Roman, den unser Milieu vor­le­gen könn­te, ers­tens gut genug, um ver­legt und emp­foh­len zu wer­den? Trans­por­tiert er zwei­tens eine Bot­schaft, die in unse­rem Sin­ne ist, die unser Enga­ge­ment unterstützt?

Bevor das an eini­gen Bei­spie­len kon­kret wird, sei noch fol­gen­de Über­le­gung vor­aus­ge­schickt: Da ich unse­re eige­ne, klei­ne Ver­lags­land­schaft über­bli­cke, weiß ich, daß es dar­in kei­ne Mög­lich­keit gibt, Wer­ke von gro­ßer lite­ra­ri­scher Qua­li­tät zu ver­öf­fent­li­chen, die ohne Bot­schaft aus­kom­men. Uns fehlt zum einen der Zugang zu den Märk­ten, die not­wen­dig sind, damit man so etwas pla­zie­ren könnte.

Zum ande­ren täte man einem sol­chen Werk kei­nen Gefal­len mit sei­ner Ver­or­tung in unse­rem Raum, und kein leben­der Autor wür­de sich zu uns bege­ben, wenn es für ihn eine Alter­na­ti­ve gäbe. Eine sol­che Ver­or­tung wäre näm­lich nur dann ein Vor­teil, wenn unse­re Rich­tung die ästhe­tisch und gesell­schaft­lich kom­men­de Rich­tung wäre, eine von immer stär­ker wer­den­den Mei­nungs­ma­cher­krei­sen getra­ge­ne Rich­tung: Die Anrü­chig­keit wür­de in das Güte­sie­gel vor­sto­ßen­der, gewag­ter, befrei­en­der Expe­ri­men­te umgeprägt.

Aber so ist es nicht, und von einer ande­ren Rich­tung her beschrie­ben bedeu­tet das: Jedes lite­ra­ri­sche Werk, das bei einem im wei­te­ren Sin­ne zu unse­rer welt­an­schau­li­chen Rich­tung gehö­ren­den Ver­lag erscheint, ist mit dem Stem­pel “Bot­schaft” mar­kiert – ob es nun eine ent­hält oder nicht. Es wird als “rech­tes” Buch gele­sen, es wird nach sei­ner rech­ten Sicht auf die Din­ge abgesucht.

Wir geben die­ser Erwar­tung dadurch Nah­rung, daß wir manch­mal das Enga­ge­ment eines Autors stär­ker gewich­ten als sein Kön­nen, die Bot­schaft also auf bana­le­ren Wegen trans­por­tie­ren las­sen. Die­ser Vor­gang ist Teil einer Auf­bau­pha­se. Selbst nach zwan­zig Jah­ren ver­le­ge­ri­scher Arbeit und Anstren­gung ist es bei Antai­os nicht ohne wei­te­res mög­lich, lite­ra­risch inter­es­san­te und gelun­ge­ne Wer­ke soli­de zu kal­ku­lie­ren: Jede Sys­tem­fra­ge scheint inter­es­san­ter zu sein als eine blaue Insel.

Den­noch ist heu­te mehr mög­lich als vor zehn Jah­ren. Rei­hen wie Mäan­der, die sich an einen bei sechs­hun­dert Abon­nen­ten ziem­lich tref­fend abge­schätz­ten Leser­kreis rich­ten und dadurch lite­ra­risch hoch­wer­ti­ge Nach­dru­cke und Neu­erschei­nun­gen ver­wirk­li­chen kön­nen, sind seit Ver­lags­grün­dung viru­lent, sind Ver­le­ger­traum, konn­ten aber erst im letz­ten Jahr ver­wirk­licht wer­den: Jetzt erst ist näm­lich die Leser­schaft für sol­che Pro­jek­te vorhanden.

Erfah­run­gen sam­meln wir auch mit unse­ren online-For­ma­ten, die der Kanal Schnell­ro­da bün­delt: Ellen Kositza ist eine der weni­gen inner­halb der Publi­zis­tik der Rech­ten, die das lite­ra­ri­sche Deutsch- und Aus­land ziem­lich genau im Blick hat. Ihre Bel­le­tris­tik-Vlogs aber wer­den im Schnitt von zwei­ein­halb­tau­send Lesern geschaut, ihre Bespre­chun­gen zeit­ge­schicht­li­cher und poli­ti­scher Lite­ra­tur deut­lich öfter.

Erik Leh­nerts und mei­ne lite­ra­ri­schen Gesprä­che nut­zen den Trans­mis­si­ons­rie­men unse­rer weit jen­seits der Schö­nen Lite­ra­tur erwor­be­nen Bekannt­heit: Es scheint noch immer kuri­os für unse­re Leser und Zaun­gäs­te zu sein, daß wir weit jen­seits der Jün­gers, Schmitts, Moh­lers und Speng­lers nicht nur zu lesen ver­mö­gen, son­dern es seit Jahr­zehn­ten tun, als Ger­ma­nis­ten zumal, ohne die­sen Ertrag je so expli­zit auf den Tisch gelegt zu haben, wie wir es jetzt tun.

Dies alles ist kei­ne Kunst, son­dern Rezep­ti­on und Prä­sen­ta­ti­on. Aber der Exkurs war not­wen­dig, um den Reso­nanz­raum zu skiz­zie­ren, in dem sich Schöp­fe­ri­sches aus unse­ren Rei­hen aus­brei­ten könn­te. Künst­le­ri­sche Mar­kie­run­gen tref­fen nicht mehr auf Brach­land, soviel ist sicher.

Um sol­che Pro­jek­te wird es im 2. Teil gehen, unter ande­rem um Vol­koffs Erzäh­lung Die Hand­gra­na­te und um Vol­ker Zier­kes neu­es Buch: Ins Blaue.

– – –

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Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (22)

quarz

20. Februar 2022 16:16

"Unempfindlicher sind Orchesterwerke ... "

Finde ich nicht. Auch abseits vom Plakativ-Programmatischen fungiert Orchestermusik oder allgemeiner Instrumentalmusik als Scheinwerfer, der in verschiedenen Ausrichtungen unterschiedliche Werte deutlich macht und andere im Dunkeln lässt (um ein Bild Nicolai Hartmanns zu bemühen). Bei aller "Qualität", die ein virtuoser Interpret einer Darbietung zu verleihen vermag, ist es stets ein Gesichtspunkt, den er hervorhebt. Und ein bestimmter Gesichtspunkt ist oft das, was einem Werk seinen Rang verleiht. Wenn ich dem Klavierspiel von Wilhelm Backhaus zuhöre, dann eröffnen sich mir völlig andere Einblickschneisen in Wertlandschaften und ganz andere Werte rufen zur Verwirklichung auf, als wenn ich Ohrenzeuge der akrobatisch eindrucksvollen aber auch seltsam leeren Kunststücke vieler heutiger Instrumentalisten werde.

antwort gk:
das stimmt schon, aber dazu brauchen Sie viel feinere ohren als im theater. ich weiß nicht aus dem stand, in welchem hesse-roman es um einen feingeist geht, der sich musik nicht durchs radio vorspielen lassen will: zuviel gerausche. er wird darüber belehrt, daß man ein wagner-vorspiel auch durch dieses rauschen erfassen könne. so ähnlich sollten Sie das sehen, und auf's theater ist es eben nicht übertragbar: dort kann der dramaturg alles in seinem sinne umschreiben (und das geschieht). eine symphonie jedoch kann man nicht kürzen.

Gracchus

20. Februar 2022 19:15

Interessante Gedanken. Ich meine:

1. Es könnte sich zukünftig in dem Maße, in dem der Mainstream sich weiter geistig verengt, etwas öffnen. Gerade eben gehört, wie Beuys von seinem Biographen HP Riegel als "völkisch" und "rechts" geschmäht wird, weil er anthroposophisch (= rassisch, völkisch) dachte und zeitweise an Kameradschaftsabenden von Weltkriegsveteranen teilnahm.

2. Engagierte Literatur sehe ich kritisch. Ich glaube, es war Nabokov, der auf die Frage, was er für eine Botschaft in seinen Werken vermittle, sagte, er sei Schriftsteller, kein Briefträger. Allerdings empfinde ich l'art pour l'art ebenfalls als ungenügend. Mein Lösungsansatz: Kunst muss autonom sein, sollte aber zugleich über sich hinausweisen.

3. Im Übrigen kann man politisch konservativ, künstlerisch aber experimentell oder avanciert sein. Der sozialistische Realismus war ja künstlerisch nicht progressiv. 

4. Etwas Anderes als engagierte Literatur wäre, wenn man rechts als etwas Geistiges sähe, das bestimmte Lebensformen, aber auch Kunstformen hervorbrachte. Solche Kunst hätte keine Botschaft, trüge aber etwas Rechtes als geistige Haltung wie ein Art Wasserzeichen, es wäre präsent im Wie, nicht im Was.

Gracchus

20. Februar 2022 19:27

5. Seit Hegel muss man sich mit der Frage rumschlagen, warum und wozu noch fiktionale Literatur. (Dass die Klickzahlen von EKs Vlogs geringer ausfallen bei fiktionaler Literatur, liegt wohl am geringeren weiblichen Anteil.) Die Wirklichkeit zeigt sich selbst kontingent und wird so erfahren, wozu braucht man dann fiktive Alternativersionen? Postmoderne Romane (aber es findet sich schon bei Cervantes, Sterne, Jean Paul) spielen ja mit der Grenze von Fiktion und Wirklichkeit. Es gibt auch Formate wie Dokufiktion. Anders gesagt: Die Wirklichkeit ist spannend genug. Aber wieso muss man bei konventionellen Darstellungsformen stehenbleiben und bedient sich nicht Verfahren des modernen Romans? Es ist also doch so, dass die Darstellung oder eine dichterische Sprache einen anderen Zugang zur Wirklichkeitsbetrachtung eröffnet.

RMH

20. Februar 2022 22:17

Auch von mir Dank an Antaios, dass sie bewusst auch noch anderes, als Sachbücher auflegen, auch wenn ich selber schon länger nichts mehr davon bestellt habe. Aber mir geht's ähnlich wie vielen. Da sind noch so viele Bücher ungelesen oder auf nochmals Lesen gesetzt in der Hausbibliothek, dass es eher Voratskäufe wären.

Gracchus

20. Februar 2022 22:47

@Laurenz

Es wird ja massenhaft Fantasy-Literatur produziert, nicht alles davon wird zum Bestseller. Eskapismus, sagen die Gefängniswärter. Ich vermute, dass wie bei Mythen Archetypisches angesprochen wird. 

---

Tolkien, der Katholik, wollte übrigens HdR nicht zum Vehikel der christlichen Botschaft machen, es sollte allenfalls zwischen den Zeilen durchschimmern. Darüber geriet er mit C. S. Lewis in die Haare. 

Vergleichbar ist das Problem der Rechten vielleicht mit katholischen Schriftstellern. Es gibt darüber einen guten Essay von Mosebach, warum er es ablehnt, sich als katholischer Schriftsteller zu bezeichnen. Seinem erzählerischen Werk merkt man auch nicht unbedingt an, dass es von einem Katholiken, und dann noch von einem vorkonziliaren, stammt, ausser vielleicht ästhetisch: in der Bilder- und Sinnesfreudigkeit. 

Gracchus

20. Februar 2022 23:04

Generell würde ich meinen, dass ernsthafte Literatur antiglobalistisch ist, selbst oder gerade wenn es sich um Weltliteratur im Goethe'schen Sinne handelt, und zwar weil sie sich an konkreten Personen und an konkreten Orten orientiert. Kann natürlich sein, dass derlei Literatur im Aussterben begriffen ist, ich glaube, es aber nicht. Das Konservative liegt in dem Willen, bestimmte Ereignisse vor dem Vergessen bewahren zu wollen. Prototypisch: Marcel Proust. Auch der Schreibimpetus von W. G. Sebald war davon geprägt, wobei sich bei ihm ein starker Vergeblichkeitston bemerkbar macht.

Uwe Johnson sehnte sich wohl zeitlebens in seine mecklenburgische Heimat zurück; im Westen kam er nie an. Er war ein Fluchtkind wie Peter Kurzeck, der alles schreibend aufbewahren wollte, gegen die Furie des Verschwindens. Gerhard Meiers Tetralogie spielt hauptsächlich in Amrain, einem kleinen Schweizer Dorf, dennoch nicht provinziell. 

Ich meine, solche Literatur steht, ohne in irgendeiner Weise ideologisch zu sein, quer zum Globalismus.

Franz Bettinger

21. Februar 2022 01:29

@Kubitschek: Zu Ihrer Frage bzgl. Hesse und Wagnermusik im Radio: Das war im Steppenwolf.

quarz

21. Februar 2022 11:04

@gk

"er wird darüber belehrt, daß man ein wagner-vorspiel auch durch dieses rauschen erfassen könne. so ähnlich sollten Sie das sehen"

Der Vergleich überzeugt mich nicht. Es geht mir nicht um die eingeschränkte Wahrnehmung der Töne durch technische Unzulänglichkeiten (sonst hätte ich nicht Backhaus gegen die Heutigen ins Treffen geführt), sondern um die eingeschränkte Wahrnehmung der Werte durch interpretatorische Lenkung der Aufmerksamkeit. Diese Unterscheidung mag man für Haarspalterei halten, mir erscheint sie wesentlich. 

Übrigens: Kürzungen von Symphonien waren früher gang und gäbe. Brucknersymphonien z.B. wurden mitunter arg zurechtgestutzt von Leuten, die glaubten, die Werke dadurch zu verbessern.

Darin gebe ich Ihnen aber freilich Recht, dass in der Literatur bzw. im Schauspiel breitenwirksamere Hebel zur Manipulation zur Verfügung stehen als in der klassischen Musik, deren kundiges Publikum im Aussterben begriffen ist.

Niekisch

21. Februar 2022 11:42

"mir geht's ähnlich wie vielen. Da sind noch so viele Bücher ungelesen oder auf nochmals Lesen gesetzt in der Hausbibliothek, dass es eher Voratskäufe wären".

@ RMH 20.2. 22:17: Gerne gestehe ich ein, zu den Vielen zu gehören. Freuen Sie sich, daß Sie die Bücher finden, die Sie nochmals lesen wollen. Mir ist es bis heute nicht gelungen, gezielt zu suchen, es geht fast nur nach Gefühl. Ich bin manchmal neidisch, wenn ich ganze Zimmer umspannende Bücherregale sehe. Mein Trost: Dostojewski, die eigenen Lebenskatastrophen samt Umfeld und die Erkenntnis, daß die Menschen sich immer aufs Neue gleich natur- und vernunftentfernt verhalten, genügen, um den Bücherfraß zu beenden, zumindest stark einzuschränken.

Umlautkombinat

21. Februar 2022 11:55

> Kürzungen von Symphonien waren früher gang und gäbe.

Da gibt es auch ganz pragmatische Ansaetze ohne eigentliche Kuerzungen. Ich kenne A-Orchester, die auch einmal ein Konzert in 1,5-facher Geschwindigkeit spielen, weil 21:00 Fussball ist...

Ansonsten ist es natuerlich zum Einen richtig, dass auch klassische Musik Interpretationsspielraeume hat. Allerdings braucht es zu deren Wahrnehmung auch entsprechende Schulung und sie laufen im Vergleich zu zur Dingen die der ueblichen Analyse zugaenglich sind, wie politische oder auch generellere rational bestimmte Inhalte, in einem schon von vornherein doch deutlich engeren und auch anders bestimmten Geschirr. Allein die Belohnungszentren- und Mandelkernanteile sind wohl schon einmal hoeher.

H. M. Richter

21. Februar 2022 13:36

@Umlautkombinat

"Da gibt es auch ganz pragmatische Ansaetze ohne eigentliche Kuerzungen. Ich kenne A-Orchester, die auch einmal ein Konzert in 1,5-facher Geschwindigkeit spielen, weil 21:00 Fussball ist..."

***

Karl Kayser, der gefürchtete Generalintendant der Städtischen Theater Leipzig, dessen Tag mit der Lektüre der Prawda begann, weil er selbst dem ND mißtraute, ließ nicht mit sich reden. Auch am Abend des WM-Spiels der westdeutschen Nationalmannschaft mußte der Spielplan eingehalten werden. Natürlich war der Saal im Schauspielhaus nahezu vollständig leer. So schnell, sagte mir mal ein beteiligter Schauspieler, haben wir noch nie gespielt, so schnell werden wir auch nie wieder spielen. Wir sprachen nicht, wir flogen durch den Text. Warteten den spärlichen Applaus zum Ende nicht ab, sondern rannten nach dem letzten Satz hinunter in die Kantine und konnten wenigstens noch die zweite Halbzeit sehen.

Ein Fremder aus Elea

21. Februar 2022 17:03

"Unempfindlicher sind Orchesterwerke."

Sehe ich wirklich nicht so. Zwischen Furtwänglers Eroica '44 und '52 liegen Welten. ... Und Siegfrieds Trauermarsch? Keine politische Frage? Von wegen. 's längst nicht nur die Inszenierung. Das hat Furtwängler jedenfalls gekonnt: Das Waldweben idyllisch-romantisch, den Trauermarsch hart-aufgewühlt. In der Kombination heute von KEINEM Dirigenten zu hören. ...

antwort kubitschek:
ich habe jetzt mal zwei drittel weggestrichen, das war expertensatire. und alles bestätgt meine einschätzung: orchesterwerke sind unempfindlcher, komparativ, nicht unempfindlich, sondern unempfindlicher. wir müssen uns angewöhnen, präzise zu lesen und den wesentlichen faden weiterzuspinnen. die expertise über eine franse am teppich verkennt den teppich.

anatol broder

21. Februar 2022 17:49

«es scheint noch immer kurios für unsere leser und zaungäste zu sein, dass wir weit jenseits der jüngers, schmitts, mohlers und spenglers nicht nur zu lesen vermögen, sondern es seit jahrzehnten tun.»

es ist besser, unterschätzt als überschätzt zu werden.

Ein Fremder aus Elea

21. Februar 2022 18:30

Bei 1500 Zeichen muß ich es ja bei fransenhaften Denkanregungen belassen, nicht wahr, Herr Kubitschek?

Aber was ich so auf meine Weise zum Ausdruck bringen wollte, ist, daß die heutige Professionalität mit dem Geiste Beethovens, beispielsweise, nichts gemein hat, und daß dieses, wenn es ganz erfaßt würde, genug Stoff für etliche Romane abgäbe, von welchen ich nur spekulieren kann, daß sie nicht unbedingt auf Gegenliebe bei den üblichen Verlegern stießen, welche es, so weit ich es übersehen kann, als ihr Geschäftmodell betrachten, Kommentare von B-Promis zu vermarkten, wo ich jetzt natürlich Äpfel mit Birnen vergleiche, aber ich sehe halt, was ich in den Buchhandlungen finde.

Wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ein jeder macht, was er kann, und hat damit genug zu tun. Nur warum hier nicht eine Franse anfügen und auf die Beweggründe hinter der Unausgewogenheit von Beethovens 7. eingehen? Diese Art der Darstellung menschlicher Getriebenheit ist heute verpönt, widerspricht der ganzen modernen Aufgeblasenheit.

anatol broder

21. Februar 2022 19:24

@ gracchus 23:04

«generell würde ich meinen, dass ernsthafte literatur antiglobalistisch ist.»

das denke ich auch, wobei man den globalismus auch satirisch darstellen kann. beispielsweise würzt douglas adams in das leben, das universum und der ganze rest den ersten selbständigen flug eines irdischen flüchtlings so:

«sein reisebeutel, und zwar genau der, den er auf dem athener flughafen verloren hatte. […] lag keck auf einem offenen stück gelände. […] er sah sich nun vor die tatsache gestellt, dass er das ding da aufheben müsse. hier flog er also, zweihundert meter über der oberfläche eines fremden planeten, an dessen name er sich nicht einmal erinnern konnte. da konnte er die jammervolle lage dieses winzigen teilchens dessen, was mal sein leben gewesen war, doch nicht einfach ignorieren, hier, so viele lichtjahre von den pulverisierten überresten seiner heimat entfernt. ausserdem fiel ihm ein, dass in dem beutel, wenn er noch im selben zustand war, in dem er ihn verloren hatte, eine dose sein müsse, die das einzige griechische olivenöl enthielte, das es nun im universum noch gäbe.»

anatol broder

21. Februar 2022 19:44

@ gracchus 19:27

«es ist also doch so, dass die darstellung oder eine dichterische sprache einen anderen zugang zur wirklichkeitsbetrachtung eröffnet.»

richtig, die dichte bringt es.

Ein Fremder aus Elea

22. Februar 2022 07:17

Laurenz,

sicher sollte Kunst bewegen, ist aber ein sehr vages Kriterium. Meine Lieblingstexte in deutscher Sprache sind:

Goethe: Die Leiden des jungen Werther,

Süßkind: Das Parfüm,

Jünger: In Stahlgewittern,

Grass: Der Butt,

bei Süßkind und Grass schätze ich das Erzählerische, Fabulierende (besser noch bei Dostojewski, Antunes und so ziemlich jedem spanischen Autor), bei Jünger und Goethe ihre jeweils individuelle Poesie (ein besserer Begriff fällt mir dafür nicht ein, Jünger selbst nannte es ja more geometrico). Wiewohl, in Besuch auf Godenholm zeigt Jünger, daß er auch fabulieren kann.

Muß zugeben, daß ich die Deutschen für große Komponisten halte (auch Christian Bruhn: Captain Future, Tim Thaler und Carsten Bohn: Die drei Fragezeichen), aber nicht für große Romanciers.

RMH

22. Februar 2022 09:38

"..aber nicht für große Romanciers."

das erzählen Sie jetzt bitte nicht den Freunden von Thomas Mann, nur um einmal ein Beispiel zu nennen.

Thema künstlerische Vielfalt vom E. Jünger:

Mit seinem spät erschienenem Werk "Eine gefährliche Begegnung" zeigt Jünger, dass an ihm ein  großer Autor von Kriminalromanen verloren gegangen ist (denn das ist ja sein einziger "Krimi"). Wer im Urlaub einmal auf hohem Niveau "schmökern" will: Absolute Leseempfehlung von mir!

quarz

22. Februar 2022 12:45

@Ein Fremder ...

"Jünger selbst nannte es ja more geometrico"

Können Sie das bitte etwas erläutern? Ich kenne diese Wendung ("more geometrico") im Zusammenhang mit Spinozas Ethik, wo der Autor axiomatisch nach dem Vorbild der euklidischen Geometrie vorgehen wollte. Gibt es bei Jünger einen ähnlichen Grundgedanken?

links ist wo der daumen rechts ist

22. Februar 2022 14:08

Das ist der entscheidende Absatz:

"...und kein lebender Autor würde sich zu uns begeben, wenn es für ihn eine Alternative gäbe. Eine solche Verortung wäre nämlich nur dann ein Vorteil, wenn unsere Richtung die ästhetisch und gesellschaftlich kommende Richtung wäre, eine von immer stärker werdenden Meinungsmacherkreisen getragene Richtung: Die Anrüchigkeit würde in das Gütesiegel vorstoßender, gewagter, befreiender Experimente umgeprägt."

Und Verzeihung, diese Dynamiken gab und gibt es.

Im kleinen Rahmen ist das die Verlagsgeschichte von Matthes & Seitz.

Früher mit den Grenzgängern unter den Franzosen von Bataille bis Baudrillard, entsprechende Debatten im deutschen Feuilleton (der Logozentrismus-Streit um Habermas und Manfred Frank u.a.; das Debatterl Gerd Bergfleth vs. Rolf Grimminger usw.).

Jetzt ist Matthes & Seitz Berlin DER angesagte Verlag, der den Spagat tatsächlich schafft zwischen politisch halbwegs korrekter Kulturwissenschaft und weltanschaulich-ästhetischem Grenzgängertum (meistens versteckt in Übersetzungen).

Im großen Rahmen natürlich die ganze Debatte um die Avantgarde im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Als ein Beispiel ein Vorreiter der abstrakten Malerei wie Kandinsky und seine theosophische Fundierung. Peter Ulrich Hein hat das in seinem Bändchen „Die Brücke ins Geisterreich. Künstlerische Avantgarde zwischen Kulturkritik und Faschismus“ (Rowohlt 1992) schön dargestellt.

anatol broder

22. Februar 2022 16:26

@ laurenz 22:00

aber ist die bewegung des lesers nicht wichtiger als die dichte? (1)

zunächst entnehmen wir (1) die aussagen über den leser:

leser erfährt bewegung; (2)

leser erfährt dichte. (3)

wir setzen voraus, dass (2) für jeden leser gilt, dass der autor «die botschaft also auf banaleren wegen transportieren lassen» kann (kubitschek). für welchen leser gilt (3)? bei wem «treffen künstleriche markierungen nicht mehr auf brachland» (kubitschek)?

zur klärung verwenden wir meine hier veröffentlichte bestimmung der freiheit.

alle freiheit beginnt mit der fähigkeit zu irren. (4)

die dichte bemisst «literarische qualität» «befreiender experimente» (kubitschek). setzen wir also

dichte ist freiheit. (5)

aus (5), (3) und (4) folgt

leser erfährt dichte, wenn er irrt. (6)

nun haben wir die antwort auf (1): die dichte ist demjenigen leser wichtig, der gern irrt.

kann ein leser also nur bewegung erfahren, greift er zur trivialliteratur. will er zusätzlich dichte erfahren, braucht er schöne literatur.

der schöne rechte irrt zur dichte, // auf dass sie ihm das eigen richte.

H. M. Richter

22. Februar 2022 18:22

@anatol broder

"der schöne rechte irrt zur dichte, // auf dass sie ihm das eigen richte."

***

Gelegenheit, die schöne Rechte an das untergehende Substantivum "die Richte" zu erinnern ...

Einst vom Alten aus Weimar so besungen:

Mich verwirren will das Irren;
Doch du weißt mich zu entwirren.
Wenn ich handle, wenn ich dichte,
Gieb du meinem Weg die Richte.

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