Der Textproduzent, ein Philosoph namens Jochen Rack, widmet sich darin dem seit zwei Jahren ausgebrochenen Verlust des Vertrauens in die Wissenschaft. Er fährt alle Geschütze auf, deren er habhaft werden kann, um „die Zerstörung der Vernunft“ (Georg Lukács) durch „vermeintliches Körperwissen in der Heil- und Esoterikszene, wütendes Querdenken und Glaube an Verschwörungserzählungen“ gerade noch aufzuhalten.
“Ich bin doch kein Virologe” (ersetze wahlweise durch “Immunologe” oder “Epidemiologe”) ist seit Februar 2020 einer der meistgeäußerten Sätze von Intellektuellen und sonstigen Duckmäusern, die gelernt haben, ihren gesunden Menschenverstand an “die Wissenschaft” und “die Experten” zu delegieren. Wer es wagt, sich auf seine Körperwahrnehmung, seine Erfahrung und die seiner gewöhnlichen Mitmenschen zu beziehen, wird rasch zum gemeingefährlichen, regressiven und aggressiven Feind der Vernunft.
Lassen Sie mich drei Argumente, die nicht nur hier im DLF, sondern im medialen Umgang mit “Coronakritikern” ständig vorkommen, herauspräparieren:
1. Das erste Argument ist uns Rechten bereits bekannt: die angebliche „kognitive Überforderung und existenzielle Verunsicherung“ der Abgehängten, Modernisierungsverlierer, Ewiggestrigen und Wutbürger angesichts unserer “hochkomplexen Gesellschaft”. In Mit Linken leben schrieben wir seinerzeit:
Diese Phrase wird in Diskussionen immer dann gezückt, wenn faktisches Tacheles gesprochen und unliebsame, wenngleich evidente Schlußfolgerungen in Sichtweite kommen. Wie die meisten der papageienhaft wiederholten Slogans gegen rechts, simuliert auch diese beliebte, zum Pawlowreflex gewordene Nebelkanone Intelligenz, Durchblick und ‚Drüberstehen‘.
In meinem ersten Sezessionsartikel knöpfte ich mir Armin Nassehis soziologische Kritik an den Rechten vor. Er kam als einer der ersten mit den „einfachen Antworten auf komplexe Zusammenhänge“ an, die aus unserer Unfähigkeit resultieren würden, mit der hyperkomplexen reflexiven Moderne mitzuhalten. Ich argumentierte damals, die Systemtheorie Luhmanns, auf die sich Nassehi berief, tauge eben gerade nicht dazu, die Idee der Komplexitätsreduktion normativ gegen das zu schlichte, falsche und dumme Denken der anderen zu wenden. Denn eine komplexe Gesellschaft erzeugt am laufenden Band, wohin man auch sieht, nichts anderes als – Komplexitätsreduktionen. Jeder Satz in der Zeitung ist eine solche, jedes Bild in der Tagesschau, jede soziale Rolle, jede Phrase. Als wenn immer nur die einen, die politischen Gegner, die Falsch‑, Dumm- und Querdenker, „Komplexität reduzieren“ würden!
2. Das nächste Argument nenne ich „Anthropologieheuchelei“. Es besteht darin, eine anthropologische Feststellung (z.B. „der Mensch ist ein rücksichtsloser Nutzenmaximierer“ oder „der Mensch ist ein sexuell determiniertes Triebwesen“ oder „der Mensch bewältigt seine Ur-Angst auch heute noch durch Mythen“) zu treffen – und für sich selbst eine rühmliche Ausnahme zu machen. Die sieht dann ausbuchstabiert so aus, daß ich selbstverständlich ein achtsamer Mitmensch bin, daß ich mich von der Festlegung auf die geschlechtliche Natur emanzipiert habe oder daß ich mit der Hyperkomplexität ganz hervorragend zurechtkomme. „Intelligenz, Durchblick und ‚Drüberstehen‘“, siehe oben, ermöglichen mir (und meinesgleichen) als Anthropologieheuchler diese übermenschlichen Leistungen.
Wenn im Podcast zu hören ist, „wir“ seien „alle Ptolemäer“, bedeutet dies nichts anderes, als daß der Mensch sich lebensweltlich auf seine Sinnesempfindungen (die Sonne am Horizont untergehen zu sehen, das „Körperwissen“ zu haben, sich gesund oder krank zu fühlen, weil er Symptome bemerken und deuten kann) verläßt. Der Anthropologieheuchler nimmt sich davon aus, denn er hat, wie es am Schluß des Podcasts heißt, geübt, „diesen Schmerz auszuhalten, daß andere mehr über die Welt wissen“.
Diese „anderen“ sind „die Wissenschaftler“, deren unumstößliche Autorität wiederhergestellt gehört: „Wir müssen die Verantwortung für unseren Körper an Mediziner delegieren“, denn das leibliche, ptolemäische Fühlen trage „nichts zum Verständnis einer Viruserkrankung und ihrer Vorsorge bei“. Die Aufgabe der Gesundheitspolitik sei es deshalb, „Ängste zu beschwichtigen, die Verantwortung über den eigenen Körper abgeben zu müssen“.
Wer Verantwortung über den eigenen Körper zu haben beansprucht, ist gemäß dieser Diktion nichts weniger als ein gekränkter Narzißt, der eine Abwehrreaktion gegen den historischen Fortschritt zeigt – eben ein „Ptolemäer“, der nicht einsehen will, daß die Erde um die Sonne kreist. Nicht nur ein Narzißt ist er, sondern auch ein Sozialschädling, bedroht doch „ptolemäisch verbissene Wissenschaftsfeindlichkeit unser Gemeinwesen“. Eine Aufklärungsoffensive muß her und ihn endlich sowohl erleuchten als auch unschädlich machen.
3. Jochen Rack greift hierzu auf ein Argument zurück, dem sich die FAZ am 12. Januar 2022 bereits einigermaßen vernichtend gewidmet hatte: daß die Romantik, respektive der arme Novalis, schuld an der deutschen Impfskepsis sei. Dort schrieb Johannes Franzen spöttisch:
Hätte sich etwa unter den Querdenkern ein Novalis-Kult ausgebreitet mit blauen Blumen am Parka, dann hätte die Berufung auf das Erbe der Romantik eine ganz andere Energie besessen.
Doch das ficht den Philosophen des Deutschlandfunks nicht an: Wenn heute „Impfgegner Morddrohungen an Virologen und Politiker schicken und versuchen, sie mit Shitstorms, Haß-Postings und Fackelmärschen einzuschüchtern“ und die „neurechte Regression freier Sachsen“ fröhliche Urstände feiert, läge es am finsteren deutschen Charakter selbst.
Ich habe nicht umsonst oben auf Georg Lukács Die Zerstörung der Vernunft (1954) bezuggenommen: In diesem Grundlagenwerk der marxistischen Ideologiekritik wollte Lukács die Herkunft des NS-Faschismus aus dem Irrationalismus der deutschen Romantik nachweisen. Der Podcastautor befindet sich in der Schleifspur der Frankfurter Schule, wenn er allen Ernstes in der heutigen Esoterik-Szene und deren staatskritischen Protesten einen „Antiintellektualismus mit Mordlust“ verbunden finden will: „rechte Xenophobie und esoterisch inspirierte Coronaleugnung passen gut zusammen“. Er ist nicht allein – auf der erwähnten FAZ-Seite findet sich eine erstaunlich affirmative Besprechung einer im linksextremen Verbrecher-Verlag erschienenen Publikation, die an Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ anknüpft und mit der berüchtigten „F‑Skala“ zur psychoanalytischen Diagnose von Persönlichkeitsmerkmalen, die einen “faschistischen” Charakter ausmachen, heutige „Verschwörungstheoretiker“ auf die Couch legen will.
Zurück zum Podcast: Gegen die Diagnose gemeinwohlgefährdender Unvernunft tut eine Restitution der Aufklärung anscheinend bitter not. Jochen Rack will dabei hinter Husserls Krisis der neuzeitlichen Wissenschaften, hinter Lyotards Postmodernes Wissen und auch hinter Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung (alle werden zitiert) zurück. Für ihn muß es eine ungebrochene, unreflektierte und keinesfalls in ihr dialektisches Gegenteil – nämlich neue Mythen – umschlagende Aufklärung, in der die neuzeitliche Wissenschaft unhinterfragt gilt. Diderots und D’Alemberts Enzyklopädie (1751–1780) ist ihm dazu gerade recht, wollten doch die Aufklärer gegen den „Aberglauben“ wirken und – Zitat aus der Enzyklopädie – „Bedenken beseitigen, die durch Unsicherheit genährt werden“.
Dementsprechend fällt Racks Vorschlag, wie man dies heute bewerkstelligen könnte, faszinierend ahnungslos aus: man müsse zur Aufklärung der notorischen Querdenker, Esoteriker und Ptolemäer auch „Animationen nutzen, um Zusammenhänge zu erklären“, es gäbe dafür ja „gut gemachte Erklärvideos auf YouTube“. Und wenn das nicht helfen sollte, um ein für allemal das Vertrauen in die Wissenschaft wiederherzustellen, dann heißt “die Aufklärung verteidigen, bereit sein, die Polizei einzuschalten und die Gerichte zu bemühen“. Aufklärung haben sich Diderot und D’Alembert mit Sicherheit etwas anders vorgestellt. Seiner Freundin Sophie Volland schrieb Diderot 1762:
Dieses Werk wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei nicht gewinnen werden.
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Umlautkombinat
Ich bin diese fehlgeleitete Dichotomie leid. Das ist so fruchtlos. Koerpergefuehl ist OK. Ich lege selbst Wert darauf. Man kann es dann aber auch weitergehend nutzen. Wissenschaft ist einer systematischen Zugaenge, der genau dazu erfunden wurde.
Ich besitze einen naturwissenschaftlich-mathematischen Hintergrund und sehe genau das Gegenteil. Wir haben nicht zu viel, sondern zu wenig Wissenschaft. Was oben geschildert ist, ist der Cargokult an Wissenschaft und eben gerade keine echte Solche.
Wenn ich all dem Coronaunsinn ablehne, dann tue ich persoenlich das gerade, weil ich in der Lage bin, mir eine eben auch wissenschaftlich fundierte Meinung dazu zu bilden. Waere das Niveau wissenschaftlicher Bildung und der damit einhergehenden Faehigkeit ihre Handwerkszeuge an Analyse und genereller Methodik zu benutzen unter der Bevoelkerung hoeher und auch belastbar, dann haetten die Demagogen schwereres Spiel gehabt. Denn all diese Spezialisten und "Experten" kann man schon als Nichtspezialist in Schwierigkeiten bringen. Man muss ja nicht erklaeren, man kann aber die richtigen Fragen stellen. Und natuerlich den Umgang damit bewerten. Das genuegt auch, der Laie ist nicht in Bringepflicht. Die Gegenueber allerdings massiv, auch in der Qualitaet rein wissenschaftlicher Begruendung.
Hier ist wieder einmal das bedauerliche Schisma zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu sehen. Und es ist ehrlich gesagt bedrueckend, dass die Argumentationslinie von Seiten dieser Geisteswissenschaft dann immer wieder derart tief auf tatsaechlich esoterische Positionen gelegt und beschraenkt wird.