Vor zwei Wochen schrieb ich nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl von Marine Le Pens Chancen auf einen möglichen Überraschungssieg. Wenig später entwickelten sich die Umfragen jedoch immer stärker in Richtung einer mehrheitlichen Unterstützung für den Amtsinhaber Emmanuel Macron, der schließlich auch mit 58,5% gewann.
Le Pen konnte das dynamische Wachstumsmomentum aus dem ersten Wahlgang nicht halten und mußte sich am Sonntag schließlich mit 41,5% der Wählerstimmen geschlagen geben.
Seitdem populistische Bewegungen in den west- und mitteleuropäischen Ländern ernsthaft um reale politische Machtressourcen mit dem Establishment konkurrieren, haben insbesondere die Präsidialdemokratien einen eingeübten Abwehrreflex gegen die „rechte Gefahr“ entwickelt. Die Wählerschaft ist bereits auf eine politische Show konditioniert und weiß trotz aller Unzufriedenheit um seine „Bürgerpflicht“ zum Schutz der Demokratie.
Das Establishment hat nach dem Brexit und der Trump-Wahl 2016 seine Lehren gezogen und weiß, welche emotionalen Auslöserknöpfe gedrückt werden müssen, um rechtsoppositionelle Strömungen auch im elektoralen Wettbewerb auf ausreichenden Sicherheitsabstand zu halten. Le Pen und die gesamte französische Rechte stehen mit diesem Ergebnis vor einer entscheidenden Frage: Ist das rechte Wählerpotential einschließlich der unzufriedenen Protestwähler ausgeschöpft? Und ist das verfestige Zentrum der „politischen Mitte“ in seiner Konditionierung als Einheit gegen rechts überhaupt zu knacken?
Bezogen auf die Zielsetzung der Präsidentschaftswahl erscheint es manchen ein schwacher Trost, wenn angeführt wird, daß Le Pen ihr Ergebnis aus dem Jahr 2017 um knapp 8% steigern konnte und zwei Millionen Wähler hinzugewann. In der geographischen Verteilung wird deutlich, daß sie in fast allen Kommunen zugelegt hat und nach wie vor ihre Stärken im ländlichen Raum am besten ausspielen kann.
Abgeschlagen bleibt sie jedoch wieder einmal inmitten der Großstädte und ihrer Speckgürtel, auch wenn sie in diesen geographischen Clustern leichte Zugewinne im Vergleich zum Ergebnis von 2017 verzeichnen konnte. Mit Eric Zemmour hat das rechte Lager schließlich auch eine Tür zu urbanen Schichten über Studenten, Akademiker und bürgerliche Eliten aufgeschlossen. Die Zahlen sind zwar noch am höchsten in den klassischen ländlichen Arbeiterschichten, doch es läßt sich auch eine leichte Wachstumskurve in Milieus mit höherem Bildungsgrad und gutsituierten Berufs- und Einkommensgruppen erkennen.
Wie auch schon 2017 hat Le Pen auf routinierte Wahlkampfkonzepte gesetzt und ihre Stammwählerschaft gebaut. Viele Presse- und Fototermine auf Bauernhöfen und Landwirtschaftsbetrieben, volksnahe Gespräche auf Wochenmärkten und Besuche in den zentralen Industrieregionen des Landes. Auf diesen politischen Spielfeldern ist sie zuhause.
Dennoch muß damit in der Fehleranalyse die Frage eröffnet werden, ob Le Pen ihr Stammwählerpotential nicht überschätzt hat. Mit ihrer Strategie eines „Anti-Macron“-Referendums für den zweiten Wahlgang wollte sie natürlich die unzufriedenen Melénchon-Wähler aus der ersten Runde der Wahl mitnehmen. Sie musste darauf hoffen, daß entweder die Melénchon-Wähler, die Macron einen Denkzettel verpassen wollten, für sie votieren oder ausreichend zuhause bleiben, um somit dem Stimmenpotential aus dem rechten und konservativen Lager um Zemmour und Pecresse mehr Gewicht zu verschaffen.
Diese klassische Demobilisierungsstrategie mißlang jedoch. Die enttäuschten linken Melénchon-Wähler blieben zu Hause, und der harte Kern wollte lediglich Le Pen verhindern. Nur 9% der Melénchon-Wähler aus dem ersten Wahlgang gaben an, daß sie nun aus Überzeugung für Macron gestimmt haben.
Im konservativen und rechten Lager fiel die Mobilisierung am Ende schwächer aus als erwartet und notwendig gewesen wäre. Selbst in der Wählerschaft von Zemmour blieb jeder fünfte Wähler entweder zu Hause oder votierte für Macron. Insbesondere die von Zemmour im ersten Wahlgang mobilisierten Wähler der republikanischen Partei um Valerie Pecresse dürften sich dann im zweiten Wahlgang gegen eine Unterstützung für Le Pen entschieden haben. Le Pen konnte also ihre Kernwählerschaft ausbauen. Aber es reicht eben noch nicht, um auch die Präsidentschaft zu gewinnen.
Es stellt sich aber auch die Frage, wie die optimalen politischen Ausgangsbedingungen einer rechten Kampagne in Frankreich überhaupt aussehen müßten, um auch die Barriere der 50% + X zu durchbrechen. Die Lage für Le Pen war nämlich recht günstig. Das Ukraine-Thema spielte im Präsidentschaftswahlkampf die letzten drei Wochen keine Rolle mehr. Die unterstellte „Putin-Connection“ von Le Pen blieb wirkungslos. Sie schaffte es, ihr inhaltliches Kernprofil auf Themen wie Kaufkraft und Lebenshaltungskosten zu erweitern und sich damit auch über das Migrationsthema hinaus breiter aufzustellen.
Über die letzten fünf Jahre hat sie mehr Vertrauen, Glaubwürdigkeit und zugleich einen präsidialen Habitus aufgebaut. Die Wahlkampfdynamik vor dem ersten Wahlgang lag im Gegensatz zu 2017 klar auf ihrer Seite und die Stimmenzuwächse gehen über alle sozialen Gruppen. Es wäre falsch zu behaupten, Marine Le Pen sei mit ihrem Wahlkampf gescheitert. Sie und der RN sind eher zu langsam gewachsen und sind auch an einer aktuellen Begrenzung rechter Wählerpotentiale angekommen. Dies zeigt die Limitierungen rein rechtspopulistischer und parlamentspatriotischer Strategieansätze.
Insbesondere in einem „The winner takes it all“- Präsidialsystem wie Frankreich sind die hinzugewonnenen Stimmen von Le Pen zunächst wertlos, wenn sie nicht als Ressource für realpolitische Macht- und Gestaltungsmöglichkeit im administrativen Apparat eingesetzt werden können.
Somit steht die französische Rechte jetzt vor der Neuaufstellungsfrage mit einem gewachsenen Wählerraum und der Erschließung neuer sozioökonomischer Gruppen. Zemmour hat mit seiner verhältnismäßig starken Mobilisierung in den bürgerlich-akademischen und urbanen Räumen und der Wählerwanderung aus dem konservativen Lager der republikanischen Partei die Mobilisierungslücken geschlossen, an die Le Pen nicht anknüpfen konnte. Seine Kampagne hat gezeigt, daß die Themen Migrationspolitik und Identität immer noch dynamisch und mitreißend aufgeladen werden können und zusammen mit sozialen und wirtschaftspolitischen Ansätzen von Le Pen ein breites Spektrum abbilden.
Eine derartige Sammlungsbewegung, die auch jetzt schon angesichts der nahenden Parlamentswahl diskutiert wird, scheint sich jedoch noch nicht abzuzeichnen. Zemmour schoß nach dem zweiten Wahlgang gegen Le Pen und sprach davon, daß „die Niederlage zum dritten Mal den Namen Le Pen trägt“. Funktionäre aus dem Rassemblement National machten daraufhin deutlich, daß eine Sammlungsbewegung des RN mit der RECONQUETE von Zemmour derzeit nicht in Frage käme und appellierten an etwas mehr Respekt seitens Zemmour.
Auch wenn die Kritik von Zemmour tatsächlich den Fakt einer Steigerung von 8% für Le Pen ausblendet und aus seiner Position etwas überheblich wirkt, hat sie einen wahren Kern, der auch die Parteibasis des RN in den nächsten Monaten beschäftigen wird. Die Familiendynastie Le Pen könnte mit dieser verlorenen Präsidentschaft vorbei sein.
Die junge Parteibasis hat über die letzten fünf Jahre an der Vollendung von Le Pens Lebenswerk gearbeitet. Viele Parteikader wirken enttäuscht und schlossen sich noch während der heißen Wahlkampfphase dem Zemmour-Lager an. Unter anderem auch die prominente Nichte Marion Marechal Le Pen, die nun auch als Brückenkopf für ein Sammlungsprojekt zwischen RECONQUETE und Rassemblement National fungiert. Gleichzeitig weiß die französische Rechte jedoch auch um die Etablierung und Bekanntheit von Marine Le Pen. Es dürfte nicht ohne Risiko sein, im Moment des stärksten Ergebnisses eines rechten Kandidaten bei einer Präsidentschaftswahl einen Wechsel an der Spitze zu vollziehen.
Wie viel Wagnis will man eingehen? Wie viele Jahre der personellen Aufbauarbeit ist man bereit in ein neues Gesicht zu investieren, um eine ähnliche Popularität wie Le Pen zu erreichen? Oder gibt man metapolitischen Ansätzen mehr Raum und fokussiert sich noch stärker auf die Stabilisierung eines originären rechten Milieus, mit dem sich schrittweise ein noch breiteres elektorales Stammpotential aufbauen ließe?
Damit wären dann Graswurzelprojekte im ländlichen Raum und hochschulpolitische Offensiven in den Städten verbunden, ebenso der Aufbau von intellektuellen und kulturellen Zentren sowie alternativen Medien. Die Wählerressourcen würden somit in ein metapolitisches Kapital transformiert werden, was politische Stabilität und Kontinuität garantiert. Eine spannende strategische Lage für Frankreichs Rechte, die auch von den patriotischen Kräften in Deutschland beobachtet werden sollte.
Laurenz
@DF
Nichts gegen Ihre Analyse. In der Schlußfolgerung haben Wahlentscheidungen hier, zwischen Konservativen & Radikal-Liberalen rein mit der materiellen Befindlichkeit der Wähler zu tun, die wir am Wahlergebnis ablesen können. 58% der Franzosen geht es eben gut, 42% steht das Wasser bis zum Hals. Und die 42% werden eben weiter im Verteilungskampf das Nachsehen haben. Inflation, liberale Mißwirtschaft, gerade im konzernbeladenen Frankreich werden zukünftig den LePen-Konservativen weitere Wähler bescheren, die vom Regen der staatlichen Gießkanne zukünftig nicht mehr profitieren werden, weil der monetäre Wasservorrat kleiner wird.