Das ist eine Zeitenwende und die Eröffnung neuer Fragestellungen an die Partei selbst. Schon die Umfragen in Schleswig-Holstein ließen ein Zittern um den Wiedereinzug erahnen. Die Landespartei konnte sich in den meisten Wählerbefragungen knapp über 5% halten. Einige Monate vor der Wahl gab es jedoch auch Umfragen, bei denen die AfD nur auf 3 bis 4% kam.
Die Landtagswahl in Schleswig-Holstein ist damit seit dem Jahr 2020 die achte Wahl in Folge, bei der die AfD Zustimmungsverluste verzeichnen muß. In nahezu allen Bundesländern und im Bund steht die Partei in den Umfragen (durchschnittlich ‑1,3%) schlechter da als bei den letzten Wahlergebnissen.
Bei kaum einer Wahl der vergangenen Jahre waren die Zufriedenheitswerte in der Wählerschaft so hoch wie in Schleswig-Holstein. Zwei Drittel der Wahlberechtigten gaben an, daß sie mit der Landesregierung zufrieden sind. Der CDU-Ministerpräsident Daniel Günther (ein eher nach links ausgerichteter CDU-Funktionär der Merkel Ära) konnte in allen zentralen Persönlichkeitswerten die Konkurrenz ausstechen.
54% der CDU-Wähler gaben an, daß insbesondere der Spitzenkandidat den Ausschlag für ihre Wahlentscheidung brachte.
Auch bei der Frage zum Corona-Management gab eine deutliche Mehrheit von 72% an, daß der Ministerpräsident das Bundesland gut durch die Krise geführt habe. Diese lagerübergreifende Sympathie für den Amtsinhaber zeigte sich schließlich auch in einem Stimmenzuwachs um über 11% für die CDU.
Auch bei den wirtschaftlichen Zufriedenheitsdaten zeigt sich im hohen Norden ein recht klares Bild einer satten und sorgenlosen Wahlbevölkerung. Selbst unter den AfD-Wählern geben 75% an, daß sie mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation zufrieden sind. Mehr als bei jeder anderen der vergangenen sechs Landtagswahlen beurteilen 69% der Wähler in Schleswig-Holstein die allgemeine wirtschaftliche Lage in Deutschland als positiv.
Gewiss steht eine Oppositionspartei wie die AfD unter diesen Voraussetzungen vor einer schwierigen Aufgabe. Ein möglicherweise sozialpatriotisches Profil kommuniziert hier ins Leere und ein konservativeres CDU/FDP-Spiegelbild ist in dieser dominanten Rolle eines über Parteigrenzen hinweg beliebten CDU-Ministerpräsidenten ebenfalls nicht wirklich fruchtbar.
Hinzu kamen einmal mehr die logistisch/organisatorischen Probleme und parteiinternen Konflikte im Landesverband der AfD Schleswig-Holstein. Ein flächendeckender Wahlkampf war kaum möglich und manche Kreisverbände sollen laut Wahlkämpfern vor Ort vollständig die Arbeit eingestellt haben. Ob dieser in Teilen auch öffentliche Streit die Wahlentscheidung beeinflusst hat, kann nur spekuliert werden. Die Durchschlagskraft einer zumindest visuell solide konzipierten Wahlkampagne wurde dadurch jedenfalls erheblich gehemmt.
Anders als manche mutmaßten, spielte der Ukraine-Konflikt bei der Wahlentscheidung als Thema für die meisten Wähler nur eine geringe Rolle. Außenpolitische Themen haben nur selten einen relevanten Einfluß auf das Wahlverhalten. Viel eher sind es die unmittelbaren Folgen dieser Krise, die die Menschen in ihrem konkreten Lebensalltag treffen. Das Ukraine-Thema dürfte sich demoskopisch damit endgültig als eine vom deutschen Journalismus erzeugte Blase herausgestellt haben. Eine INSA-Umfrage vor einigen Tagen hat schließlich auch gezeigt, daß das „Nein“ der AfD zu den deutschen Waffenlieferungen ebenfalls von einer relativen Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird.
Ein weiterer Faktor, der auch das AfD-Ergebnis maßgeblich mit beeinflusst haben wird, ist die „Realität der Rentnerrepublik“. Die Altersklasse der Ü60 Jährigen verschafft der CDU ihr starkes Ergebnis und verhindert den Totalabsturz der SPD. Die Stimmenanteile der AfD liegen bei den unter 60 Jährigen über ihrem Wahlergebnis und fallen umso stärker im demographisch dominanten Teil der Wahlberechtigten, der immer größer wird und sich wesentlich stärker an Wahlen beteiligt.
Suche nach einer Parteiidentität
Die Wählerwanderungen geben schließlich Aufschluss über ein Muster, das sich seit Jahrzehnten durch die Entwicklungslinien von Parteien rechts der CDU durchzieht. Während das politisch rechts eingestellte Elektorat ein konstantes Potential zwischen 15 – 25% aufweist, kann es in Zeiten ökonomischer Zufriedenheit und Prosperität nur schwerlich von parteipolitischen Alternativen organisiert und mobilisiert werden.
Das zeigen die unterschiedlichen Wellen und Bewegungen der Nachkriegsrechten. Neue und oppositionelle Kräfte von rechts können immer nur in begrenzten Zeiträumen Protestwählerpotentiale mobilisieren, die sich nach einer gewissen Zeit jedoch erschöpfen und entweder von der CDU/FDP gebunden werden oder im Nichtwählerlager verflüssigen. Mit einer schwachen Kernwählerschaftsbasis und zufriedenen Sozialmilieus wird es dadurch für die AfD-Westverbände mittelfristig immer schwieriger, sich neue Wählerschaften zu erschließen, wenn die eigene Parteiidentität nicht geklärt ist.
Es fehlt an positiven Konzepten und Visionen sowie inhaltlich-programmatischen Angeboten, die authentisch und überzeugend vermittelt werden. Während die AfD mit ihrer Gründung und darauffolgendem Aufstieg parteipolitische Geschichte geschrieben hat, besteht jetzt die historische Aufgabe darin, sich auch langfristig als politische Kraft rechts von CDU und Co zu etablieren und zu halten. Dies wird unter den Bedingungen der „Kampf gegen Rechts – Religion“ in der Bundesrepublik eine wesentlich zähere und schwierigere Aufgabe werden.
Die vorherigen Protestdynamiken hingen schließlich auch wesentlich von spezifischen und situativen Ereignissen und Entwicklungen ab. Doch die analytische Fragestellung muss jetzt lauten, wie es eine rechtskonservative Partei in der BRD schafft, nicht nur temporäre Erfolge zu generieren, sondern langfristig zu etablieren und das Erfolgspotential offen zu halten.
Insoweit bin ich persönlich auch vorsichtiger mit Analysen, die das Ergebnis in Schleswig-Holstein anhand verschiedener kommunikativer und programmatischer Kurse und Wege zu erklären versuchen. Einerseits weil dies empirisch immer unpräzise ist und andererseits die beschriebene unklare Parteiidentität und die Stimmenverluste der vergangenen Wahlen die Gesamtpartei betreffen.
Für manche mag es zum Ritual geworden sein, bei Stimmenverlusten grundsätzlich Höcke und die Ostverbände verantwortlich zu machen. Manche prominente Parteivertreter sehen gar Kausalitäten zwischen einer Ankündigung von Björn Höcke einen Tag vor der Wahl, für den Bundesvorstand der AfD zu kandidieren und dem Ausscheiden aus dem Landtag von Kiel.
Mit derartigen Mutmaßungen muss man sich nicht tiefer auseinandersetzen. Sie werden empirisch kaum haltbar sein und sind nur Teil einer analytischen Verweigerungshaltung.
Ebenso verkürzt scheint jedoch auch die Begründungskette für einen mangelnden sozialpatriotisch-identitären Kurs zu sein. Die AfD konnte schließlich große Teile der Arbeiter (15%!) mobilisieren und damit in dieser Berufsgruppe um 7% zulegen, während sie in den anderen Milieus nur schwach abschneidet.
Auch bei den Kompetenzwerten konnte man (wenn auch auf niedrigem Niveau) beim Thema der „Sozialen Gerechtigkeit“ um 3% zulegen. 42% der AfD-Wähler gaben als wichtigstes Thema die Preissteigerungen an und auch die meisten Kenndaten zur wirtschaftlichen Zufriedenheit weisen (wenn auch nicht mehrheitlich) die AfD-Wählerschaft als am unzufriedensten aus.
Das heißt die ökonomische Deprivation und Krisenwahrnehmung findet in der AfD-Wählerschaft durchaus ihren Ausdruck und verschafft ihr ein repräsentatives Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu den Wählerschaften der anderen Parteien. Zumindest bei den etablierten Altparteien scheint die AfD mit dem Profil als Protestpartei bereits an eine sehr niedrige Decke zu stoßen. Auch die Mobilisierung von Nichtwählern ist zumeist von situativen und zeitlich begrenzten Faktoren abhängig, die sich nur schwerlich in konsistente strategische Konzepte integrieren lassen.
Die Gründe für das schlechte Abschneiden in Schleswig-Holstein und bei den vergangenen Landtagswahlen dürften also eine Mixtur aus der spezifischen gesellschaftlichen Lage, medialer Schweigespirale, unscheinbaren personellen Angeboten und fehlender politisch-visionärer Konzepte sein.
Die Partei wird sich demnach als ganzes erneuern müssen und aus den Kinderschuhen der Protestpartei erwachsen, ohne dabei mental zum Teil des Establishments zu werden. Aktuell gelingt dies nicht und wir sehen einen Parteiflügel, der so schnell wie möglich im Establishment ankommen will, und einen, der glaubt die Reserven an Protestwählern seien unerschöpflich.
Was fehlt, ist jedoch eine konkrete strategische Vision, ein Fahrplan 2025, der die verschiedenen Etappen und Herausforderungen skizziert, denen sich die Partei zu stellen hat. In diesem Reflexionsprozeß gilt es schließlich einige Fragen zu klären und entsprechende Voraussetzungen zu schaffen:
- Langfristige Etablierung im Gesamtelektorat und infrastrukturelle Sicherheiten, die politische Rückschläge auffangen können. Den Protest in Überzeugung transformieren. Das heißt Graswurzelarbeit, Community-Aufbau, Kompetenzentwicklung, Metapolitik und Gegenöffentlichkeit.
- Personelle und habituelle Übereinstimmung mit den Kernzielgruppen. Auch in Schleswig-Holstein war die AfD-Wählerschaft in den jüngeren und mittleren Altersklassen stärker vertreten als in der Gruppe der Ü60 jährigen. Mental und personell spiegelt sich dies jedoch nur selten im Angebot des Spitzenpersonals wider. Nur 7% der AfD-Wähler in Schleswig-Holstein gaben an, daß der Kandidat wichtig für ihre Wahlentscheidung war. Ein niedriger Wert, der sich auch bei anderen Wahlen so für die AfD darstellt, aber dennoch im Vergleich zu den anderen Parteien deutlich niedriger liegt.
RMH
Wieder eine sachliche Analyse, danke! Schon am 15.05. ist die nächste und wichtige Wahl in NRW. Von daher wird die Analyse von SH nur wenig für den 15.05. ändern können. Nur eines dürfte klar sein: Einen solchen Verlust von Stimmen in den Bereich der Nichtwähler sollte es nicht noch einmal geben. In der Darstellung bei SPON fiel der Verlust an die Nichtwähler noch höher aus als hier im Artikel:
Schleswig-Holstein: CDU gewinnt in Wählerwanderung vor allem von SPD und FDP - DER SPIEGEL
Daher sollte man in NRW versuchen, noch einmal offensiv seine bisherigen Wähler zu motivieren, doch zur Wahl zu gehen. Ein Mobilisierungsversuch ist aus meiner Sicht das einzige, was jetzt noch kurzfristig geht.
Noch eine Anmerkung zur Gewichtung der Themen:
Die Themen Preissteigerung (das gibt es zwar schon länger, wurde aber erfolgreich verdrängt) und Energieversorgung kamen unmittelbar mit der Ukrainekrise hoch und betreffen die Leute hier auch sehr direkt - das hängt zusammen. Von daher ist das Thema nicht so irrelevant, wie vermutet.