Dieser wurde mit einiger Verspätung vom Verfassungsschutz Hessen zur Kenntnis genommen und der notorischen „reductio ad hitlerum“ unterzogen.
Der immerselbe Vorgang gestaltet sich diesmal derart haarsträubend, daß es ausnahmsweise gestattet sein sollte, hier auf eine Textproduktion des VS zu reagieren. Der gesamte lange Text, der zahlreiche Beiträge auf dem SIN-Blog und der Seite der Gegenuni analysiert, baut auf dieser Behauptung auf: Die Gegenuni folge einer „nationalsozialistischen Blaupause“.
Die Vorwürfe des VS lassen keinen Zweifel übrig: Ich würde mich in meinem Text „zusammen mit dem NSDStB bzw. der NSDAP (…) in einem Argumentationsrahmen“ befinden und “ausgerechnet einer nationalsozialistischen Organisation eine Referenz- und Vorbildfunktion“ beimessen.
Grund für diese wahrhaft haarsträubenden Vorwürfe ist meine schlichte Feststellung, daß der NS-Studentenbund lange vor der NSDAP Wahlerfolge erzielte, was ein Indiz dafür ist, daß die kulturelle Hegemonie der Weimarer Zeit in rechten Händen lag. Antonio Gramsci, auf den ich mich im Text ebenfalls berief, kam zu einer ähnlichen Erkenntnis. Seine Schlußfolgerungen daraus führten zur Kulturrevolution der Achtundsechziger und zu dem Phänomen, das einige mit dem umstrittenen Begriff „Kulturmarxismus“ bezeichnen.
Ich hielt die Gründung der Gegenuniversität für geboten, weil die Rechte der Linken die kulturelle Hegemonie streitig machen müsse. Daß ich mich dabei klar und unaufgeregt vom Nationalsozialismus abgrenze, wird vom VS zwar zitiert, aber vollkommen außer acht gelassen.
Wenn überhaupt, so könnte man mir vorwerfen, einer „linken Blaupause“ zu folgen, indem ich mit Alain de Benoist für eine „Kulturrevolution von rechts“ plädiere. Die Crux der Rechten ist ja gerade, daß man den Zustand der geistigen Niederlage und der gegnerischen Dominanz des kulturellen Staatsapparates in der rechten Intelligenz nicht entsprechend zur Kenntnis genommen hat. Rechte haben in der Regel eine “Autoritätssehnsucht” und einen Hang zur Affirmation der bestehenden Herrschaftsordnung.
Die metapolitische Bewußtlosigkeit vieler Rechter und der Hang zu einer Leitstrategie der Militanz gehen Hand in Hand mit dieser habituellen Untauglichkeit zur revolutionären Existenz.
Schon die konservativen Revolutionäre konnten nach dem Untergang des Kaiserreichs, nur durch eine, wie es der Historiker Martin Greiffenhagen ausdrückt, “Verzweiflungstat” revolutionär werden. Die Vielfalt und innere Spannung der Konservativen Revolution bezeugen, wie schwer man sich mit dieser Rolle tat.
Futuristische Hymnen auf den Irrationalismus und die Gewalt standen neben der ständigen Bemühung um staatliche Legitimation der paramilitärischen Verbände. Dabei hatte man, ohne daß man sich dieser Tatsache vollständig bewußt war, im Vergleich zur heutigen Zeit die kulturelle Hegemonie im Rücken. Das Freikorps war in den Augen der Gesellschaftsmehrheit legitimer als die Rotfront.
Die Wahrnehmung der Nationalsozialisten als „Rabauken“, die in ihren Methoden vielleicht übers Ziel hinausschössen, aber immerhin den Bolschewisten Paroli böten, war tief bis ins liberale Bürgertum verbreitet. Auch wenn sie beide Systeme gleichermaßen ablehnten, lassen etwa Hayek und Mises vermuten, daß sie eher ein Zweckbündnis mit einem “kontrollierbaren” Faschismus eingehen würden, um damit den Bolschewismus zu verhindern.
(Am schönsten wird diese rechte revolutionäre Situation im Zustand einer rechten Kulturhegemonie in Yukio Mishimas „Unter dem Sturmgott“ beschrieben. Der junge Nationalist Isao, der wegen einer traditionalistisch-nationalistischen Verschwörung gegen rechtsliberale Modernisierer Japans verhaftet wird, schämt sich für die bevorzugte Behandlung, die ihm von den Wachen zuteil wird. Sie sympathisieren insgeheim mit ihm, während er zu einem kleinen Volksheld wird, dessen Ruhm von seiner Familie kapitalisiert wird. Währenddessen hört er die Schreie inhaftierter, japanischer Kommunisten, die im selben Gefängnis – als erklärte Feinde der konservativen Kulturhegemonie – gefoltert werden.)
Der Glaube mancher Altrechter an den „Sieg auf der Straße“ durch einen militanten SA-Wiedergänger ist daher meiner Ansicht nach eine krasse Verkürzung. Auch der hessische VS hängt dieser Mythe an, wenn er schreibt:
Sellner übergeht in seinem Beitrag jedoch stillschweigend das Gewaltpotential des akademischen NSDStB, etwa dessen „Hetze gegen jüdische Kommilitonen“ während der Weimarer Republik an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin oder dessen führende Rolle bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933, die „in Deutschland zumeist mit Gleichgültigkeit aufgenommen“ (Burkhard Asmuss, 2015) wurden.
Selbstverständlich hatte der NS, wie die damalige Rotfront und die heutige linksterroristische Antifa, ein enormes Gewaltpotential. Doch sein gesellschaftlicher Erfolg beruhte auch und vor allem auf der tiefgreifenden Verankerung nationalistischer Ideen und Sehnsüchte in Mittelstand, Bürgertum und Studentenschaft. Die völkische Bewegung war auch unter Gymnasiallehrern sehr verbreitet. Viele der prägenden philosophischen Köpfe, Juristen und Autoren der Zeit waren konservativ bis nationalistisch gesinnt.
Sie bildeten ein gesellschaftsbestimmendes kulturelles Milieu, das der damaligen marxistischen Gegenkultur mehr als ebenbürtig war. (Daß der NS die bestehende, rechte Kulturhegemonie ausnutzte und zum realpolitischen “Erben” des Potentials der Zwischenkriegszeit wurde, wird aus konservativ-revolutionärer und neurechter Sicht nicht positiv bewertet. Die zeitgenössische und nachträgliche Kritik des NS von rechts ist aber nicht Gegenstand des Artikels.)
Der Historiker Götz Aly wies bereits nach, daß in der „Wohlfühldiktatur“ weniger Gewalt und Terror, sondern eine durch populäre Maßnahmen erkaufte, stillschweigende Zustimmung regierte. Auch vor der Machtübernahme wurde die breite Anschlußfähigkeit der nationalsozialistischen Bewegung vor allem durch soziale Projekte wie das Winterhilfswerk erreicht. Dazu kam das für damalige Verhältnisse keinesfalls subkulturelle Auftreten, das den NS als staatstragende „Ordnungsmacht“ erscheinen lassen sollte.
Das zu konstatieren und zu analysieren bedeutet ebenso wenig, ein Nationalsozialist zu sein, wie einen die kritische Würdigung Antonio Gramscis zum Marxisten oder die Mahatma Ghandis zum Hinduisten macht. Wer sich mit Politik und beschäftigt, muß selbstverständlich die Erfolge und Misserfolge verschiedenster Akteure und Bewegungen von Catilina bis Caesar über die Bauernaufstände bis hin zur französischen Revolution analysieren.
Wenn der VS Hessen daher schreibt:
Die Wahlerfolge des NSDStB in den Studentenparlamenten der Weimarer Republik dienen Sellner offensichtlich als Blaupause für den nach seiner Meinung von der Neuen Rechten in unserer Gegenwart einzuschlagenden „Weg der Rückeroberung der Uni“, den er als „metapolitische Reconquista“ bezeichnet,
so ist das die größtmögliche Verzerrung. Die demographische und geopolitische Situation Deutschlands sowie Lage und Ziele der Rechten unterscheiden sich diametral von der Zwischenkriegszeit. Vor allem aber gilt es eine Rückeroberung der kulturellen Hegemonie von rechts, die nach meiner These die Rechte damals weitgehend inne hatte.
Daß Altrechte sich häufig in militanten Phantasien verlieren und romantischen Vorstellungen von „Märschen auf die Hauptstadt“ und einer „Eroberung der Straße“ nachhängen, liegt meiner Ansicht nach vor allem daran, daß sie gar nicht erkennen, wie wenig die Militanz an den faschistischen Machtergreifungen wirklich beteiligt war. Daß kurz nach deren innenpolitischen Erfolgen rasch der außenpolitischen Konflikt losbrach und die Systeme in den Ausnahmezustand des Krieges versetzte, ersparte ihnen die Stabilisierung ihrer Herrschaftslegitimation. Das wiederum verstärkte den falschen Fokus altrechter Strategiekonzepte auf die physische Gewalt und den Krieg.
Gramsci verstand den Erfolg der Faschisten wohl besser als sie selbst. Und er lernte daraus. Nach der Interpretation des hessischen VS folgten er und die neulinke Avantgarde der Nachkriegszeit damit einer „nationalsozialistischen Blaupause“. In Wirklichkeit ist die Kulturrevolution traditionell links, da Rechte sich in der europäischen Moderne eher in der Rolle des Verteidigers der Hegemonie befinden. Wir bewegen uns also eher in linken Bahnen, wenn wir uns heute Gedanken machen, wie wir den intellektuellen Eliten den “ideologischen Staatsapparat” (Louis Althusser) aus der Hand schlagen können.
Wenn der VS meine Aussage:
Zu ihrem Entsetzen müssen sie [i. e. die rechten Akademiker] nun miterleben, wie die damals verlachten linken Dauerstudenten [der 68er-Bewegung] heute ihre Kinder unterrichten, ihre Zeitungen schreiben, ihr Fernsehprogramm erstellen und bestimmen, wie sie zu sprechen und zu denken haben,
mit dem Vortrag des Thüringer NSDAP-Gauleiters Hans Severus Ziegler vor dem NSDStB in Marburg vergleicht, weil er dort von der „,Bolschewisierung der deutschen Kultur“ sprach, ist das hanebüchen.
Wenn der VS rechten Aktivisten vorwirft, sie seien Nationalsozialisten, weil
auch der NSDStB sich in diesem Sinne als Scharnier zwischen der NSDAP und dem „Volk“ definierte,
so erübrigt sich jeder Kommentar. Daß unser Ziel einer geistig-kulturellen Wende vom hessischen Verfassungsschutz mit der Vision des NSDAP-Funktionärs Walter Groß im Zusammenhang mit den Bücherverbrennungen im Jahre 1933 gleichgesetzt wird, nur weil er dort einen„geistigen und seelischen Umbildungsprozeß“ forderte, ist grotesk.
Jede politische Bewegung, die kritisiert, daß ihr Gegner den öffentlichen Diskurs dominiert, die im Volk anschlußfähig sein will und einen tiefgreifenden Wandel des gesellschaftlichen Klimas anstrebt, ist damit aus Sicht des hessischen VS ein Wiedergänger der NSDAP.
Dies sind selbstverständlich auch die Ziele jeder Umweltbewegung, aller linken marxistischen Bewegungen, jeder religiösen Gruppe und der meisten Parteiorganisationen der etablierten Parteien. Der „geistig-seelische Umbildungsprozeß“, den die PRIDE- und LGTBQ-Bewegungen betreiben, geht sogar wortwörtlich unter die Haut und formt in der gesamten westlichen Welt den Hormonhaushalt und die Geschlechtsteile Heranwachsender um.
Selbst der derzeitige Justizminister Marco Buschmann (FDP) beruft sich in seinem Buch „Liberalismus neu denken“ auf Gramsci und fordert laut FAZ den Liberalismus auf, “die kulturelle Hegemonie zurückzuerobern”.
Die eigenen Ideen zu stärken und eine Debattenhoheit anzustreben, bedeutet nicht, eine totalitäre Ordnung errichten zu wollen. Dabei verschiedene, linke wie rechte, politische Bewegungen in ihrem Erfolg und Scheitern zu analysieren bedeutet nicht, daß man sich mit deren Inhalten identifiziert.
Die hessischen „Verfassungsschützer“ radikalisieren damit eine Tendenz, die im jüngsten VS-Bericht deutlich wurde. Die neue Rubrik der „verfassungsrelevanten Delegitimierung des Staates”, in der Bewegungen aufscheinen, wenn sie das Vertrauen in Staat und Organe „insgesamt erschüttern“, wird ausschließlich bei echten Dissidenten schlagend.
So werden Menschen, die „ohne Absprache mit staatlichen Stellen des Zivilschutzes“ bei der Flutkatastrophe im Ahrtal halfen, durch ihre außerstaatliche Hilfeleistung zu Verdachtsfällen. Kritiker der Corona- und Klimapolitik geraten ebenfalls in den Fokus des Inlandsgeheimdienstes.
Die Ökoradikalen, deren Affinität zu Extremismus und Terror Martin Lichtmesz in seiner Serie durchleuchtet hat, tauchen hier hingegen gar nicht auf. Dabei unterscheidet sich ihr Narrativ in seiner „Vertrauenserschütterung“ kaum von dem der härtesten Coronakritiker: „Die Pharmalobby/Fossillobby hat unsere Politik gekauft und zu ihren Marionetten gemacht. Sie zerstören unsere Zukunft, indem sie den Planeten vernichten/ihr Volk totspritzen.”
Der SPIEGEL-Kolumnist Christian Stöcker bezeichnet in einem Artikel die Erdöllobby als eine
mächtige, dezentrale globale Verschwörung gibt, die seit Jahrzehnten auf den Untergang der menschlichen Zivilisation hinarbeitet.
Trotz dieser Parallelen schießt sich der Verfassungsschutz natürlich nur auf die Coronakritiker ein. Bei der Gegenuni gilt dasselbe Prinzip. Während Myriaden an NGOs und Lobbys von internationalen Fonds und staatlichen Förderungen finanziert offensiv am gesellschaftlichen Klimawandel arbeiten, gilt ein rechter „Think Tank“ wie das IfS als „gesichert rechtsextrem“.
Daß die Gegenuni, nur weil sie unter Berufung auf Antonio Gramsci und Alain de Benoist einer metapolitischen Strategie folgt, direkt mit NSDStB und NSDAP gleichgesetzt wird, ist jedoch ein neues Niveau der Radikalisierungstendenzen im VS.
Daß der hier kritisierte Artikel des VS ausgerechnet mit einem Zitat von Victor Klemperer endet und der Gegenuni eine „Giftwirkung“ auf die Gesellschaft unterstellt, ist ebenfalls ein Eigentor. Jeder, der heute Klemperer wirklich liest, und nicht nur selektiv zitiert, muß erkennen, daß es die totalitäre Herrschaftssprache des linksliberalen Kartells ist, welche die Bundesrepublik dominiert und ihre „Wahrheitssysteme“ aufrecht erhält.
Doch diese Systeme schwächeln. Ähnlich wie in der Endphase der DDR, in der das System seine eigenen Gegner hervorbrachte, indem es jede dissidente und unkontrollierbare Gruppe zu „feindlichen Agenten“ erklärte und auch so behandelte, muß auch diese Radikalisierung als Akt der Verzweiflung gewertet werden.
Insofern sollte der peinliche Artikel auf dem offiziellen Blog des VS eher als Anerkennung der Gegenuni verstanden werden.
Zurecht sieht der VS darin „die logische Konsequenz des bislang nur schriftlich in zahlreichen Publikationen fixierten Konzepts der „metapolitischen Reconquista“. Daß man der Gegenuni attestiert, „akademisch-intellektuell, modern und ansprechend in der optischen Aufmachung, diskursorientiert und gleichsam fern von rechtsextremistischer (verbaler) Gewalt“ zu sein, ist ebenfalls eine unbeabsichtigte Huldigung der rechten digitalen Akademie, die gerade ihr drittes Semester erfolgreich beendet.
Rheinlaender
Die Idee, Bedrohungen für eine politische Ordnung auch jenseits des strafrechtlich Relevanten möglichst frühzeitig zu erkennen um ihnen besser begegnen zu können, ist ja durchaus sinnvoll. Sie setzt allerdings voraus, dass der Staat selbst sich als Träger dieser Ordnung versteht. Wo er an der Spitze von Akteuren unterwandert ist, die diese Ordnung bekämpfen, können staatliche Stellen diesen Auftrag nur noch beschränkt wahrnehmen, zumal deren Führungen und nachfolgend auch das sonstige Personal schrittweise im Sinne subversiver Ideologien ausgetauscht werden. Am Beispiel von Verfassungsschutzbehörden konnte man diesen Vorgang in den vergangenen Jahren sehr anschaulich beobachten. Es ist die absurde Situationen eingetreten, dass ein konsequenter Einsatz für den "Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder" (§1 BVerfSchG) mittlerweile unter Verdacht steht, während das Eintreten für deren Auflösung staatlicherseits mit stetig wachsenden Summen subventioniert wird.