Der in Berlin lebende französische Schriftsteller, der sich selbst als »Müßiggangster« und »Hausphilosoph« inszeniert, entstammt einer undogmatischen, dezidiert »popularen« (also: volksorientierten) Linken, wie sie in Deutschland, von Einzelpersonen abgesehen, nicht existiert.
In meinem 2019 publizierten kaplaken-Band Blick nach links konnte ich Paolis Fundamentalkritik an der Allianz aus radikaler Linker und herrschendem Zeitgeistliberalismus aufgreifen.
Paoli führte zwei Jahre zuvor, in Die lange Nacht der Metamorphose, aus, daß jene »kulturelle[n] Begleiterscheinungen des modernen Kapitalismus, die Marx auflistet, […] Steckenpferde der heutigen Linken« seien. Diese Kritik, fünf Jahre später längst in größeren Kreisen zirkulierend, ergänzte Paoli um eine Destruktion des hypermoralischen Wohlfühlprogramms der vereinten Linken.
An die Stelle fundierter Kapitalismuskritik zum Wohle einer Bevölkerungsmehrheit sei etwas anderes getreten, das man so zusammenfassen könnte:
Gegen Patriarchat, spießige Moral, Ausgrenzung und Ausländerfeindlichkeit, für offene Grenzen und Kosmopolitismus.
Es verwundert nicht, daß diese ätzende Auseinandersetzung mit der Mehrheitslinken auf taube Ohren stieß. Welcher Linker übt heutzutage schon gerne Selbstkritik?
2019 legte Guillaume Paoli dann erneut eine kleine, feine Schrift vor, die wiederum bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist. In Soziale Gelbsucht untersuchte er die französische Gelbwestenbewegung jener Aufruhrtage, als sich die Peripherie – vor allem aufgrund steigender Spritpreise – gegen das Pariser Zentrum erhob.
Paoli verkündete anläßlich dieser Revolte-im-Werden die Rückkehr der sozialen Frage mit der ihr innewohnenden Vielfalt und Härte. Das »frühaufstehende Frankreich« der Arbeiter und Mittelschicht, das sein Pendant zwar auch in Deutschland und anderswo finden dürfte, dort aber (noch) nicht zur Rebellion neigte, war zornig geworden, und in ebendiesem Zorn ab Herbst 2018 vernahm Paoli eine internationale Dimension.
Er verknüpfte die Ereignisse in Frankreich mit anderen Protesterscheinungen. Der gelbwestenverursachte Neologismus dégagisme (gewissermaßen: »Hau-ab-ismus«) habe mit dem »No nos representan!« (Sie vertreten uns nicht!) der spanischen Indignados oder auch mit dem »Que se vayan todos!« (Sollen sie alle gehen!) argentinischer Erhebungen eine Form der Negativität gemein: Man zeigte sich in wenigen Punkt einig, die darin bestünden, daß das Bestehende weg müsse und daß die Eliten »falsche« seien, daß »es« aufhören solle – doch das »Danach« wäre allen Beteiligten unklar.
Aber dieses diffuse Aufbegehren traf dennoch Paolis Wohlwollen: Es signalisiere grundsätzliche Bereitschaft zum Neubeginn, und so zähle der sichtbare, wütende und bewegende Protest als Signal kollektiver Selbstermächtigung gegen ein volksfernes, selbstreferentielles Establishment.
Interessant für deutsche Beobachter war Paolis Zorn auf die eigenen Leute: Seinem Kompagnon Bernd Stegemann, der mit dem »Aufstehen«-Versuch innerhalb der Linken krachend scheiterte und sich in die Sicherheit des Schweigens zurückgezogen hat, watschte er für eine distinguierte »Gott-sei-Dank-gibt-es-bei-uns-keine-Gelbwesten«Praxisferne ab.
Paoli verwies unter namentlicher Nennung des Berliner Dramaturgen darauf, daß »soziale Konflikte nicht unweigerlich von ihren theoretischen Befürwortern gutgeheißen« werden, »wenn sie einmal konkret erfolgen«. Und so war die Empörung des französischen Hinterlands gegen das Zentrum nichts, womit die deutschsprachige Linke jenseits von Paoli warm wurde.
Meine Besprechung der Sozialen Gelbsucht in der 95. Sezession (April 2020) schloß ich so:
Man kann davon ausgehen, daß dies bei vergleichbaren Entwicklungen im Deutschland der Zukunft ähnlich sein dürfte: Theoretische Volksferne schlägt sich unweigerlich auch in der Praxis nieder,
womit wir – endlich, mag der ein oder andere nörgeln – in der Gegenwart angelangt wären, wo erneut Potential für ein deutsches Gelbwestenpendant entstehen könnte.
Denn angesichts der kommenden Verwerfungen der Energiekrise und einer anhaltenden Inflation macht man sich vielerorts Sorgen, daß hier Zornpotential entstehe, daß »von rechts« genutzt werden könnte. Ob Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) oder Staatsfunk: Dem Protest ante portas wird präventiv ein stigmatisierendes Etikett angeheftet.
Die Durchsetzung dieser antifaschistischen Denunziation als Erzählung wird diesmal jedoch in Gänze nicht so einfach sein. In einem Podcast diskutierten EinProzent-Leiter Philip Stein und ich die kommenden Aspekte, die für eine patriotische Lageanalyse von Bedeutung sind.
Daniel Fiß hat die Quintessenz dieser Debatte netterweise zusammengefaßt:
44 % der Deutschen können sich vorstellen, im Herbst auf die Straße zu gehen. Das ist fast eine Verdreifachung im Vergleich zur Coronakrise, wo nur 16 % Demonstrationsbereitschaft signalisiert haben,
wobei lediglich zu korrigieren wäre, daß 16 Prozent die zwischenzeitlich und temporär erreichte Obergrenze in einem akuten Lockdown darstellte; meist schwankte die Zahl zwischen 10 Prozent und eben jenem Maximum.
44 Prozent jedenfalls – das ist eine gewaltige Zahl, auch wenn im Ernstfall selbstverständlich nur ein Teil dieser Menschen tatsächlich den Weg auf die Straße findet.
Angesichts dieser dann für bundesdeutsche Verhältnisse immer noch rekordverdächtigen Zahl von Protestierern kramt man auch bei der Welt (v. 26.7.2022) seinen Paoli hervor.
Der Beitrag von Jörg Wimalasena wird dramatisch eingeleitet:
Gehen die Preise weiter durch die Decke, könnten bald Massendemonstrationen folgen. Bereits jetzt stellen Teile der Politik sie vorsorglich unter Extremismus-Verdacht. Dass Faschisten überhaupt zu träumen wagen, die soziale Frage von rechts kooptieren zu können, liegt auch am Versagen der linken Mitte.
Das Totschlagargument »Faschismus« großzügig ignorierend, lohnt ein Blick auf Wimalasenas Text durchaus.
Man muss dem deutsch-französischen Philosophen Guillome Paoli auch drei Jahre später noch dankbar für sein Buch über die französische Gelbwesten-Bewegung sein,
leitet der ehemalige taz-journalist ein, um darauf zu verweisen, daß eine Paoli-Rezeption »aktueller denn je« sei,
denn es besteht durchaus die Chance, dass ähnliche Proteste auch in Deutschland anstehen.
Der Grund?
Die explodierenden Lebenshaltungskosten treiben Millionen Menschen im Land in eine veritable Existenzkrise. Laut Umfragen lassen ein Sechstel der Deutschen aus Geldmangel bereits Mahlzeiten aus, im Herbst drohen Gasmangel, kalte Wohnungen und horrende Nachzahlungen für Strom und Heizung. Wenig überraschend gaben bei einer aktuellen Insa-Umfrage 44 Prozent der Befragten an, sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit an Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise teilzunehmen,
was, wir erwähnten es bereits, rekordverdächtig erscheint.
Die politische Linke von SPD bis weiter an den Rand erscheint dem Welt-Autor jedoch apathisch:
Statt sozialem Ausgleich bemüht sich die SPD stattdessen schon jetzt darum, mögliche künftige Proteste vorsorglich als rechte “Querdenker”-Veranstaltung zu verunglimpfen,
was mit einem Zitat von Nancy Faeser gestützt werden kann (aus dem Handelsblatt):
Natürlich besteht die Gefahr, dass diejenigen, die schon in der Coronazeit ihre Verachtung gegen die Demokratie herausgebrüllt haben und dabei oftmals Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs waren, die stark steigenden Preise als neues Mobilisierungsthema zu missbrauchen versuchen.
Jörg Wimalasena hält dieses Framing für schlechten Stil:
A priori wird auf diese Weise bereits jetzt ein möglicher Protest gegen die Preisexplosionen in einen rechten Verschwörungskontext gestellt,
wobei er hinzufügt, daß die Gefahr der Instrumentalisierung durch radikale Rechte tatsächlich drohe. Das aber sei nur potentiell möglich, weil die vereinigte Linke stumm vor den kommenden Problemen verharre und so ein Vakuum entstünde, das eben »von rechts« genutzt werden könnte.
Wimalasena verweist darauf, daß »die Protestbereitschaft mit 72 Prozent besonders bei AfD-Wählern hoch« sei, unterschlägt jedoch, daß die Anhänger der Linken direkt auf Platz 2 folgen – nicht auszumalen, was es für deren Parteioberen bedeuten würde, wenn ihnen weitere Teile der Basis gen rechts entflöhen.
Man kann die Wut zwischen den Zeilen des Autors förmlich spüren:
Erneut [nach den einstigen Agenda 2010-Protesten; B.K.] adressiert man die soziale Frage nur in Talkshows, anstatt ernsthaft gegen den Koalitionspartner FDP zu kämpfen. Und erneut überlässt man damit der politischen Rechten einen Raum, die soziale Frage zu kooptieren. Die mittlerweile obligatorische Portion woker Hochnäsigkeit dürfte die bereits bestehende Abneigung Vieler gegen das politische Establishment noch weiter verstärken – und das ist fatal.
Wimalasena fürchtet den Übergang sozial orientierter Menschen nach rechts, sollte sich die politische Rechte dezidiert sozial präsentieren:
Habituell passen womöglich viele Menschen, die ein berechtigtes Klasseninteresse an Umverteilung haben, schon jetzt nicht zum institutionellen Mainstream-Linksliberalismus,
wobei man freilich das »womöglich« streichen sollte.
Betrachtet man die anhaltenden Milliardenprofite von Pharmaindustrie bzw. Energiekonzernen in der Corona- bzw. Versorgungskrise, während die absolute Bevölkerungsmehrheit finanziell in Bredouille geraten wird, wäre es auch in höchstem Maße irrational, würde sich die politische Rechte dazu nicht als Anwalt des Volkes in Stellung bringen.
Die vereinigte Linke wird wohl kaum Partei ergreifen für den Volksprotest, den man, woke und distinguiert, wie man ist, mindestens als anrüchig empfindet; ich verwies bereits auf die Formel, wonach sich theoretische Volksferne unweigerlich auch in der Praxis niederschlage.
Wimalasena erinnert hier erneut an Paoli, der schockiert war ob der linken Reaktionen auf die soziale Bewegung der Gelbwesten;
sie seien eine “hasserfüllte Menge”, “dumme weiße Männer, und unter anderem faschistisch, homophob, rassistisch, antisemitisch, von Putin manipuliert, hässlich und nach Diesel und Kippen süchtig”.
So klingt sie ja tatsächlich, die Volksverachtung durch die akademische, hegemoniale Linken, und so läßt sich Wimalasenas Furcht als unsere berechtigte Hoffnung nachlesen:
Welche Proteste auch immer im Herbst auf Deutschland zukommen mögen, schon jetzt ist klar, dass die gesellschaftliche und politische Linke dabei vermutlich keine Rolle spielen wird,
was an all den Zeitgeistlinken mit Mandaten liegen dürfte, die bei Grünen, SPD und Linken den Ton angeben. Insbesondere die jüngere Generation trifft daher Wimalasenas Argwohn:
Kaum jemand wird die neuen jungen TikTok-Stars im Bundestag, die öffentlichkeitswirksam den vermeintlichen Muff der alten weißen Männer aus dem Bundestag vertreiben wollen, und dabei genauso widerstandslos jede soziale Schandtat mittragen dürften, als “Ally” im Kampf um das eigene ökonomische Überleben wahrnehmen,
was ebenjenen »organischen« Alleinvertretungsanspruch auf die Proteste seitens einer volksverbundenen und solidarischen Rechten begründen ließe.
Kann die gesellschaftliche und politische Linke also überhaupt noch hoffen? Wimalasena meint, das schiene nur dann vorstellbar, wenn
sie sich schnellstens von identitätspolitischem Ballast befreien und ein ökonomisch-populistisches Programm entwickeln [würde; B.K.] , dass auch für Menschen außerhalb der eigenen Blase anschlussfähig ist,
was angesichts der Kräfteverhältnisse in besagten linken Milieus höchst unwahrscheinlich sein dürfte.
Realistischer ist da schon die einseitige Ausrichtung linker Strukturen auf antifaschistische Denunziationsarbeit gegen die kommenden Proteste, was – erneut – der politischen Rechten in die Hände spielte, wenn sie das Begriffspaar »ökonomisch-populistisch« nicht als Sammelsurium vulgärer Parolenfabrikation mißinterpretiert, sondern korrekt versteht: Das hieße, gleich dem französischen Rassemblement National unter Marine Le Pen, einen volksverbundenen Kurs des sozialen Patriotismus weiterzuentwickeln und glaubwürdig an den Bürger zu bringen.
Unter Bezugnahme auf Guillaume Paoli schloß ich mein Buch Solidarischer Patriotismus (Schnellroda 2020) mit folgendem Ausblick:
Wenn der Moment der multiplen Krise eintrifft und die objektiven Zutaten für viele weitere Millionen Deutsche auch subjektiv wahrnehmbar werden – und zwar nolens volens –, stellt sich lediglich noch die Frage, wer mit einem passendem Konzept bereitstehen wird, um Stimmung und Protestpotential zu kanalisieren.
Distinguiertes Abwarten, was an gesellschaftlichen Widersprüchen kommen mag, ist keine Alternative: »Nicht auf die Widersprüche allein, sondern vor allem aufs Widersprechen richtet sich die Hoffnung.« (Wolfgang Fritz Haug)
Es gibt gute Argumente dafür, diesen vor zwei Jahren antizipierten »Moment der multiplen Krise« im Winter 2022/2023 zu verorten. Denn bei dem kommenden Zusammenspiel aus Corona‑, Gas- und Versorgungskrisen, überschattet von einer allgemeinen Inflation, ist eine Konvergenz der Krisen nicht länger von der Hand zu weisen.
Die abschließende Frage stellt sich von selbst: Wird das patriotische Lager fähig sein, (inhaltlich) authentisch und (personell) nahbar dem Protest eine stärkende Stimme zu geben, ohne als Trittbrettfahrer oder »Billardkugel« mißverstanden zu werden?
Im Winter wissen wir mehr.
kikl
Sehr guter Beitrag. Ich möchte nur einem Missverständnis vorbeugen:
"Betrachtet man die anhaltenden Milliardenprofite von Pharmaindustrie bzw. Energiekonzernen..."
Es wird an den "Neoliberalen" zu Recht kritisiert, dass ihre Idee, der Markt sorge für Leistungsgerechtigkeit, bestenfalls eine Selbsttäuschung ist. Es ist zwar im Einzelfall sehr schwer zu bemessen, was leistungsgerecht ist; aber mir kann niemand ernsthaft erklären, dass das Vermögen einer Person wie Bill Gates dem Bruttosozialprodukt ganzer Volkswirtschaften leistungsgerecht entspricht. Ich habe keine Lösung für das Problem, das ich anerkenne.
Aber die Milliardengewinne der Pharmaindustrie sind kein Resultat des Marktes sondern der zentralistisch geleiteten Staatswirtschaft. Der Staat hat den Impfstoffherstellen für unbeschreibliche Summen die Impfstoffe abgenommen und sie von jeglicher Haftung für Nebenwirkungen ihrer Medikamente befreit. Ich gehe davon aus, dass dafür Geld geflossen ist. So dumm ist selbst Klabauterbach nicht, aber vielleicht irre ich mich, denn es ist schwierig, Klabauterbach nicht zu unterschätzen. Ohne staatliches Eingreifen, hätte es diese perversen Gewinne niemals gegeben.
Der Staat hat während der Coronakrise im Wahn seiner Unfehlbarkeit dem Volk diktiert, was gut für es ist. Die Energiewende ist ein weiteres Beispiel für das Versagen einer staatlich gelenkten Wirtschaft. Das funktioniert nicht, nicht in der DDR, der UDSSR und auch heute nicht in der BRD.