Jede Familie kennt Erzählungen, von denen ihr Fühlen und Handeln verdunkelt ist. Diese Erinnerungen wirken fort wie Mythen, mit so stiller wie unheimlicher Kraft. Sie sind nicht nur immer wieder aufrufbar, sondern insofern sie spürbar Grundmuster des Menschlichen vermitteln, erscheinen sie sogar anschlußfähig an die Geschicke der ganzen Nation, ja des Menschseins überhaupt.
Denn was einmal geschah, geschah so bereits mehrfach vorher und wird unzählige Male weiter so oder ähnlich geschehen. Es wird Menschen weiterhin treffen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das Tragische, intensiv nachwirkend, schreibt es sich dem individuellen wie gesellschaftlichen Bewußtsein doch tiefer ein als alles andere, in der Weise eines „Weltgesetzes des Tragischen“, wie Julius Bahnsen (1830 – 1881) es faßte.
Weil im DDR-Sozialismus über die vorsozialistische Zeit geschwiegen wurde, weil die überhaupt wie abgeschnitten wirkte und die Zeitrechnung – mindestens für uns damalige Kinder – erst mit der DDR oder mit „Fünfundvierzig“, der angeblichen Befreiung, anzuheben schien, erkannten wir Heranwachsenden erst spät, daß unsere Eltern, in den dreißiger Jahren geboren, einer schwer traumatisierten Generation angehörten.
Weil es im DDR-Sozialismus nirgendwo benutzt wurde, kannten wir den tiefenpsychologischen Begriff Trauma nicht. Überhaupt fehlte dem Ulbricht-Honecker-Staat beinahe jede ernstzunehmende Psychologie, sollte doch die Ideologie selbst die Massen therapieren. Ziel war die „sozialistische Persönlichkeit“, physisch so gesund wie psychisch. Allein diese Verstellerei löste spezifische DDR-Depressionen aus, literarisch und künstlerisch übrigens sehr produktive, aber das ist eine andere Geschichte.
Auch unsere Eltern benutzten den Begriff Trauma nie; und das Wesen der Traumata selbst liegt ja wohl darin, daß man zurückliegende schlagende Ereignisse verdrängt, weil man sie als Kind weder zu verstehen noch zu bewältigen vermag. Nur meldet sich das solcherart der eigenen Bewußtheit früh Verborgene später unweigerlich zurück – als verschobenes Leid oder als neurotische Fehlleistung, eben weil es unbewältigt nur verdeckt wurde, so daß es weiter auf einem selbst, ja zuweilen auf ganzen Familien lastet.
Als wir selbst Kinder und dann Jugendliche waren, registrierten wir, daß zu Hause von den Alten zu manchem geschwiegen wurde oder daß zaghaft anklingende Erinnerungen nach erstem Impuls sogleich wieder ausklangen. Offenbar kosteten diese Erinnerungen zuviel seelische Kraft, die dringlicher jetzt für die unmittelbare Gegenwart gebraucht wurde – für die neuen Sorgen, während die alten weiter gespensterten.
Mir sind diese Gesichter unsrer überhaupt zu schnell gealterten Alten noch fotografisch genau präsent: still kopfschüttelnd, dabei traurig bekümmert, das Antlitz gebeugt, oft rauchend, schweigend, schließlich abwinkend. Wir konnten uns unsere Eltern und Großeltern nie jung vorstellen. Ahnten wir, daß sie an sich nie so richtig jung sein durften? Und wir konnten ihnen auch nie so richtig helfen. Irgendwas fraß beständig wie böser Krebs an ihren Seelen …
Notizen zu meiner Mutter, die 1936 in eine polnischstämmige Landarbeiterfamilie hineingeboren wurde, die in den Zwanzigern zur deutschen Staatsbürgerschaft gekommen war, sich deutsch fühlte und zu Hause nur noch deutsch sprach:
1.) Bevor die Russen im späten April 1945 die Ostprignitz erreichten, zogen dort die Flüchtlingstrecks Richtung Elbe durch, ein nicht abreißender Troß Tausender verhärmt elender Menschen, die sich in diesem traurigen Frühling nach Westen schleppten. Meine Mutter Christel, gerade knapp neunjährig, stand schockiert an der Dorfstraße und begriff nicht, was sie da sah. Aber natürliches Mitleid braucht gegenüber augenfälligem Elend kein Begreifen.
Sie berichtet mir heute, bald siebenundachtzigjährig, immer wieder von einem einzigen Bild, das in ihren Erinnerungen stehenblieb:
Eine alte Frau, sagt sie, eine Großmutter (Aber war sie wirklich so alt, war sie überhaupt eine Großmutter, frage ich mich bei dieser Erzählung, oder hatte das neunjährige Mädchen am Straßenrand das nur so deuten können?), hielt einen abgemagerten Säugling an der trockenen Brust. Der nuckelte verzweifelt, obwohl diese Brust keine Milch enthielt. Ein Bild wie von Käthe Kollwitz gezeichnet.
Während der unheimliche Treck tagelang schweigend die Dorfstraße entlangzog, brachte meine Mutter den Flüchtlingen beständig Pellkartoffeln hinaus, die ihre Mutter, meine spätere Großmutter Bromka, auf dem Kohleherd in der Küche kochte. Meine Großmutter hatte selbst genug Elend gekannt, und wo es an Essen fehlt, kann man mit Pellkartoffeln am schnellsten helfen.
Die kleine Christel wetzte also rein und gleich wieder raus und ließ sich die Kartoffeln von den Hungernden aus den Händen reißen, während die weiterzogen. Wieder zurück zu Mutters Herd, gleich wieder mit einem Töpfchen der noch heißen Kartoffeln auf die Dorfstraße, um sie zu verteilen, während der Zug der verzweifelt Heimatlosen so weiterging … –
2.) Als dann die Russen einfielen, hatte der Vater Josef Chmarowski schon für ein Familienversteck gesorgt, für ein Matratzenlager im Kartoffelkeller des zum kleinen Landarbeiterhaus gehörigen Stallgebäudes. Man wußte, was geschehen würde. Alle vier Töchter und seine Frau, zudem eine Flüchtlingsfrau mit ihrem Sohn, wurden in dem stockfinsteren feuchten Loch untergebracht. Sie saßen dort unten auf Säcken und Decken, die sie über die Kartoffeln gebreitet hatten.
Stockdunkel deswegen, weil der Vater über das Kellerloch, die einzige Licht- und Sichtöffnung, einen Haufen Dung stapelte, ein Viertel der Hauswand hoch, so als wäre dort gar kein Kellerloch. Es gab zwar eine gesonderte Tür, von der aus man über eine winzige Kammer und ein paar Stufen in den Keller gekommen wäre, aber vor diese Tür hatte Josef langes Spaltholz gestapelt. So war die Tür verschwunden. Die noch zugängliche zweite führte nur in den Stall, wo kein Russe gesucht hätte. So waren die Mädchen und Frauen sicher.
Sechs Wochen blieben die sieben Menschen in der hermetisch verschlossenen Düsternis. Blickdichte Schwärze. Sie verrichteten ihr Geschäft in alte Töpfe, hatten wohl auch Kerzenstummel dort unten. War draußen die Luft rein, setzte Josef mit der Forke eilig den Misthaufen um, öffnete den Keller, ließ sich die Exkremente rausreichen, sorgte für Luft und gab Pellkartoffeln und ein Stück Mettwurst nach unten.
Sechs Wochen undurchdringliche Finsternis. Ein Alptraum. Von meiner damals neunjährigen Mutter hieß es, sie hätte dort öfter gellend zu schreien begonnen, so daß die anderen ihr den Mund zuhielten.
Ihr Leben lang neigte meine so zarte wie wackere Mutter wegen mancher Kleinigkeit oder manchmal nur wegen dunkler Gedanken zu Angst- und Panikschüben. Mag sein, die gründen in diesem Kellererlebnis. Sechs Wochen, dann endlich raus aus dem Verlies: Die helle Frühlingswelt blendete. Die Augen der so lange dem Licht Verborgenen brauchten ein paar Tage, um sich an den grellen Glast der Sonne zu gewöhnen.
Dennoch wurde, als die ersten Exzesse der Roten Armee schon vorüber schienen, die älteste Schwester meiner Mutter und ihre Mutter Bromka selbst Vergewaltigungsopfer. Das Verbrechen an der Mutter wurde beschwiegen; die Mädchen waren wohl nicht Zeuginnen dessen. – Aber Christel berichtet, wie sie sah, daß plötzlich ein Mann in Uniform am Bett ihrer großen Schwester Gretl stand. Die floh nach draußen über den Hof ins Feld, der Russe jagte ihr nach.
Josef, der Vater, stellte sich noch irgendwo in den Weg und zog dem Russen eins mit dem Forkenstiel über. Mag sein, er vermied gerade noch den Impuls, dem Vergewaltiger die Forkenzinken besser gleich in den Leib zu rammen. Jedenfalls bekam er selbst einen Kolbenschlag ins Gesicht, der ihm den Kiefer brach.
Meine Mutter erzählte, sie war als Kind noch lange nach dem Krieg oft in Sorge, die Mutter Bromka könnte wegen irgendeiner neuerlichen Katastrophe verschwinden und nie wiederkehren, selbst als längst keine unmittelbare Gefahr mehr bestand. Tiefe Verunsicherung, Urangst, eingeschrieben in die Kinderseele.
Arbeitete Mutter Bromka in einem anderen Zimmer oder in der Küche, lauschte Christel stets nach ihr, sich vergewissernd, daß die Mutter noch da war. Ging die aus dem Haus, begann sie leis zu singen: „Die Mutter kommt nicht wieder, die Mutter kommt nicht wieder, die Mutter kommt nicht wieder …“
Nur so zum Spaß, meinte sie mir gegenüber. Aber was denn war 1945 oder 1946 überhaupt Spaß? Meine Mutter brachte, wohl um diese Last zu teilen, ihre beiden gleichfalls noch kleinen Schwestern dazu, die Zeile mitzusingen, im Chor lauter und immer lauter und dabei immer verzweifelter werdend.
Schließlich, erzählt sie, standen die drei kleinen Mädchengeschwister am Fenster des Hauses und sangen, nein schrien weinend: „Die Mutter kommt nicht wieder, die Mutter kommt nicht wieder …“ – Bis sie dann doch zurückkehrte und ihre Töchter freundlich schalt. Aber dennoch waren sie alle selig, von der Mutter umarmt zu werden.
Was für eine schlimme Verletzung, was für ein Einbruch an innerer Grundsicherheit mag das sein, der ein neunjähriges Mädchen dazu bringt, sich die Katastrophe, die Mutter könnte nicht heimkehren, gleich noch selbst zu suggerieren. Danach gefragt, sagte sie mir:
„Wenn ich das erst zu summen und dann zu singen begann, hatte ich natürlich nicht daran geglaubt, die Mutter würde tatsächlich nicht zurückkehren, aber nachdem ich’s dann ein paarmal wiederholt und die Geschwister zum Mitmachen gebracht hatte, war erst ich davon überzeugt, daß es genau so kommen würde, dann aber gleich wir alle; und alle haben wir geweint, bis Mutti endlich zurückkehrte.“
Viele, viele aber kamen eben nicht wieder, nicht aus dem Krieg, nicht aus der Gefangenschaft. Viele, viele verschwanden. Und wer doch zurückkehrte, war oft genug verwandelt, gebrochen und innerlich zerstört.
Was mögen all die einsamen alten und gutherzigen Frauen, die wir im Dorf so kannten, diese vielen Witwen, die uns gern mal etwas Süßes, Nüsse oder ein Stück Obst schenkten, ausgehalten haben? Was schwiegen all die seltsamen Käuze, manche davon traurige Säufer, andere mißlaunige Grantler, so in sich hinein, all die in den Zwanzigern und Dreißigern Geborenen mit ihren verschiedenen deutschen Heimatidiomen, die erlitten hatten, was für jeden von ihnen und überhaupt für jeden Menschen zu viel war, als daß man dafür noch klare Worte hätte, während uns Heranwachsenden im Geschichtsunterricht sonstwas erzählt wurde, wozu diese Alten, die es besser wußten, eben auch meinten lieber schweigen zu müssen.
Ganz Europa trauerte; Deutschland durfte es nicht, schon gar nicht öffentlich.
Und doch: Nur ganz wenige dieser Kriegs- und Vertriebenengeneration erlebte ich als kaltherzig. Sie waren gut zu uns, brachten uns bei, wie man einen Fahrradschlauch flickt oder ein Vorfach an die Angel bindet. Einmal nur sagte mir der seltsame Herr Bock, der in der Dorfschmiede arbeitete, am besten hätte ihm seine Geburtstagstorte im U‑Boot tief unterm Meeresspiegel geschmeckt.
Oft, wenn ich Torte esse, denke ich an den Mann, der aus Hamburg stammte und den Dialekt dieser Stadt sprach. Beim Tortenessen wird es ja auch für ihn in U‑xxx nicht geblieben sein, und ich gäbe was drum, wüßte ich, auf welcher U‑Nummer er Dienst getan hatte.
Die Zeit läuft weiter. Die bösen Russen vergewaltigen weiter, ebenso vergewaltigen die angeblich guten Ukrainer, und die Frauen, die Kinder und Schwachen sind auf der Flucht, wie sie schon im Dreißigjährigen Krieg auf der Flucht waren und in allen anderen Kriegen danach. Während die Politik ihren kurzläufigen Zwecken folgt und gegenwärtig etwa meint, der nationalen Befreiungsidee einer ukrainischen Regierung beistehen zu müssen.
Nie wieder Krieg! Nie wieder? Immer wieder. Wer es verträgt, kann sie in einem Feature der Slowenin Maruša Krese anhören, wie grausig die Bilanz des letzten Jahrhunderts ist. Das jetzige wird dem nicht nachstehen.
Dieter Rose
In den Familien unserer heute in Verantwortung stehenden Politiker scheinen solche Familienerzählungen nicht vorzukommen / vorgekommen zu sein.