Traumata. Fünfundvierzig.

Manch alte Geschichte vergeht nicht und wirkt daher nie alt, sondern trotz ausblassender Farben gegenwärtig.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Jede Fami­lie kennt Erzäh­lun­gen, von denen ihr Füh­len und Han­deln ver­dun­kelt ist. Die­se Erin­ne­run­gen wir­ken fort wie Mythen, mit so stil­ler wie unheim­li­cher Kraft. Sie sind nicht nur immer wie­der auf­ruf­bar, son­dern inso­fern sie spür­bar Grund­mus­ter des Mensch­li­chen ver­mit­teln, erschei­nen sie sogar anschluß­fä­hig an die Geschi­cke der gan­zen Nati­on, ja des Mensch­seins überhaupt.

Denn was ein­mal geschah, geschah so bereits mehr­fach vor­her und wird unzäh­li­ge Male wei­ter so oder ähn­lich gesche­hen. Es wird Men­schen wei­ter­hin tref­fen. Von beson­de­rer Bedeu­tung ist dabei das Tra­gi­sche, inten­siv nach­wir­kend, schreibt es sich dem indi­vi­du­el­len wie gesell­schaft­li­chen Bewußt­sein doch tie­fer ein als alles ande­re, in der Wei­se eines „Welt­ge­set­zes des Tra­gi­schen“, wie Juli­us Bahn­sen (1830 – 1881) es faßte.

Weil im DDR-Sozia­lis­mus über die vor­so­zia­lis­ti­sche Zeit geschwie­gen wur­de, weil die über­haupt wie abge­schnit­ten wirk­te und die Zeit­rech­nung – min­des­tens für uns dama­li­ge Kin­der – erst mit der DDR oder mit „Fünf­und­vier­zig“, der angeb­li­chen Befrei­ung, anzu­he­ben schien, erkann­ten wir Her­an­wach­sen­den erst spät, daß unse­re Eltern, in den drei­ßi­ger Jah­ren gebo­ren, einer schwer trau­ma­ti­sier­ten Gene­ra­ti­on angehörten.

Weil es im DDR-Sozia­lis­mus nir­gend­wo benutzt wur­de, kann­ten wir den tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen Begriff Trau­ma nicht. Über­haupt fehl­te dem Ulb­richt-Hon­ecker-Staat bei­na­he jede ernst­zu­neh­men­de Psy­cho­lo­gie, soll­te doch die Ideo­lo­gie selbst die Mas­sen the­ra­pie­ren. Ziel war die „sozia­lis­ti­sche Per­sön­lich­keit“, phy­sisch so gesund wie psy­chisch. Allein die­se Ver­stel­le­rei lös­te spe­zi­fi­sche DDR-Depres­sio­nen aus, lite­ra­risch und künst­le­risch übri­gens sehr pro­duk­ti­ve, aber das ist eine ande­re Geschichte.

Auch unse­re Eltern benutz­ten den Begriff Trau­ma nie; und das Wesen der Trau­ma­ta selbst liegt ja wohl dar­in, daß man zurück­lie­gen­de schla­gen­de Ereig­nis­se ver­drängt, weil man sie als Kind weder zu ver­ste­hen noch zu bewäl­ti­gen ver­mag. Nur mel­det sich das sol­cher­art der eige­nen Bewußt­heit früh Ver­bor­ge­ne spä­ter unwei­ger­lich zurück – als ver­scho­be­nes Leid oder als neu­ro­ti­sche Fehl­leis­tung, eben weil es unbe­wäl­tigt nur ver­deckt wur­de, so daß es wei­ter auf einem selbst, ja zuwei­len auf gan­zen Fami­li­en lastet.

Als wir selbst Kin­der und dann Jugend­li­che waren, regis­trier­ten wir, daß zu Hau­se von den Alten zu man­chem geschwie­gen wur­de oder daß zag­haft anklin­gen­de Erin­ne­run­gen nach ers­tem Impuls sogleich wie­der aus­klan­gen. Offen­bar kos­te­ten die­se Erin­ne­run­gen zuviel see­li­sche Kraft, die dring­li­cher jetzt für die unmit­tel­ba­re Gegen­wart gebraucht wur­de – für die neu­en Sor­gen, wäh­rend die alten wei­ter gespensterten.

Mir sind die­se Gesich­ter uns­rer über­haupt zu schnell geal­ter­ten Alten noch foto­gra­fisch genau prä­sent: still kopf­schüt­telnd, dabei trau­rig beküm­mert, das Ant­litz gebeugt, oft rau­chend, schwei­gend, schließ­lich abwin­kend. Wir konn­ten uns unse­re Eltern und Groß­el­tern nie jung vor­stel­len. Ahn­ten wir, daß sie an sich nie so rich­tig jung sein durf­ten? Und wir konn­ten ihnen auch nie so rich­tig hel­fen. Irgend­was fraß bestän­dig wie böser Krebs an ihren Seelen …

Noti­zen zu mei­ner Mut­ter, die 1936 in eine pol­nisch­stäm­mi­ge Land­ar­bei­ter­fa­mi­lie hin­ein­ge­bo­ren wur­de, die in den Zwan­zi­gern zur deut­schen Staats­bür­ger­schaft gekom­men war, sich deutsch fühl­te und zu Hau­se nur noch deutsch sprach:

1.) Bevor die Rus­sen im spä­ten April 1945 die Ostp­ri­g­nitz erreich­ten, zogen dort die Flücht­lings­trecks Rich­tung Elbe durch, ein nicht abrei­ßen­der Troß Tau­sen­der ver­härmt elen­der Men­schen, die sich in die­sem trau­ri­gen Früh­ling nach Wes­ten schlepp­ten. Mei­ne Mut­ter Chris­tel, gera­de knapp neun­jäh­rig, stand scho­ckiert an der Dorf­stra­ße und begriff nicht, was sie da sah. Aber natür­li­ches Mit­leid braucht gegen­über augen­fäl­li­gem Elend kein Begreifen.

Sie berich­tet mir heu­te, bald sie­ben­und­acht­zig­jäh­rig, immer wie­der von einem ein­zi­gen Bild, das in ihren Erin­ne­run­gen stehenblieb:

Eine alte Frau, sagt sie, eine Groß­mutter (Aber war sie wirk­lich so alt, war sie über­haupt eine Groß­mutter, fra­ge ich mich bei die­ser Erzäh­lung, oder hat­te das neun­jäh­ri­ge Mäd­chen am Stra­ßen­rand das nur so deu­ten kön­nen?), hielt einen abge­ma­ger­ten Säug­ling an der tro­cke­nen Brust. Der nuckel­te ver­zwei­felt, obwohl die­se Brust kei­ne Milch ent­hielt. Ein Bild wie von Käthe Koll­witz gezeichnet.

Wäh­rend der unheim­li­che Treck tage­lang schwei­gend die Dorf­stra­ße ent­lang­zog, brach­te mei­ne Mut­ter den Flücht­lin­gen bestän­dig Pell­kar­tof­feln hin­aus, die ihre Mut­ter, mei­ne spä­te­re Groß­mutter Brom­ka, auf dem Koh­le­herd in der Küche koch­te. Mei­ne Groß­mutter hat­te selbst genug Elend gekannt, und wo es an Essen fehlt, kann man mit Pell­kar­tof­feln am schnells­ten helfen.

Die klei­ne Chris­tel wetz­te also rein und gleich wie­der raus und ließ sich die Kar­tof­feln von den Hun­gern­den aus den Hän­den rei­ßen, wäh­rend die wei­ter­zo­gen. Wie­der zurück zu Mut­ters Herd, gleich wie­der mit einem Töpf­chen der noch hei­ßen Kar­tof­feln auf die Dorf­stra­ße, um sie zu ver­tei­len, wäh­rend der Zug der ver­zwei­felt Hei­mat­lo­sen so weiterging … –

2.) Als dann die Rus­sen ein­fie­len, hat­te der Vater Josef Chma­row­ski schon für ein Fami­li­en­ver­steck gesorgt, für ein Matrat­zen­la­ger im Kar­tof­fel­kel­ler des zum klei­nen Land­ar­bei­ter­haus gehö­ri­gen Stall­ge­bäu­des. Man wuß­te, was gesche­hen wür­de. Alle vier Töch­ter und sei­ne Frau, zudem eine Flücht­lings­frau mit ihrem Sohn, wur­den in dem stock­fins­te­ren feuch­ten Loch unter­ge­bracht. Sie saßen dort unten auf Säcken und Decken, die sie über die Kar­tof­feln gebrei­tet hatten.

Stock­dun­kel des­we­gen, weil der Vater über das Kel­ler­loch, die ein­zi­ge Licht- und Sicht­öff­nung, einen Hau­fen Dung sta­pel­te, ein Vier­tel der Haus­wand hoch, so als wäre dort gar kein Kel­ler­loch. Es gab zwar eine geson­der­te Tür, von der aus man über eine win­zi­ge Kam­mer und ein paar Stu­fen in den Kel­ler gekom­men wäre, aber vor die­se Tür hat­te Josef lan­ges Spalt­holz gesta­pelt. So war die Tür ver­schwun­den. Die noch zugäng­li­che zwei­te führ­te nur in den Stall, wo kein Rus­se gesucht hät­te. So waren die Mäd­chen und Frau­en sicher.

Sechs Wochen blie­ben die sie­ben Men­schen in der her­me­tisch ver­schlos­se­nen Düs­ter­nis. Blick­dich­te Schwär­ze. Sie ver­rich­te­ten ihr Geschäft in alte Töp­fe, hat­ten wohl auch Ker­zen­stum­mel dort unten. War drau­ßen die Luft rein, setz­te Josef mit der For­ke eilig den Mist­hau­fen um, öff­ne­te den Kel­ler, ließ sich die Exkre­men­te raus­rei­chen, sorg­te für Luft und gab Pell­kar­tof­feln und ein Stück Mett­wurst nach unten.

Sechs Wochen undurch­dring­li­che Fins­ter­nis. Ein Alp­traum. Von mei­ner damals neun­jäh­ri­gen Mut­ter hieß es, sie hät­te dort öfter gel­lend zu schrei­en begon­nen, so daß die ande­ren ihr den Mund zuhielten.

Ihr Leben lang neig­te mei­ne so zar­te wie wacke­re Mut­ter wegen man­cher Klei­nig­keit oder manch­mal nur wegen dunk­ler Gedan­ken zu Angst- und Panik­schü­ben. Mag sein, die grün­den in die­sem Kel­ler­er­leb­nis. Sechs Wochen, dann end­lich raus aus dem Ver­lies: Die hel­le Früh­lings­welt blen­de­te. Die Augen der so lan­ge dem Licht Ver­bor­ge­nen brauch­ten ein paar Tage, um sich an den grel­len Glast der Son­ne zu gewöhnen.

Den­noch wur­de, als die ers­ten Exzes­se der Roten Armee schon vor­über schie­nen, die ältes­te Schwes­ter mei­ner Mut­ter und ihre Mut­ter Brom­ka selbst Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fer. Das Ver­bre­chen an der Mut­ter wur­de beschwie­gen; die Mäd­chen waren wohl nicht Zeu­gin­nen des­sen. – Aber Chris­tel berich­tet, wie sie sah, daß plötz­lich ein Mann in Uni­form am Bett ihrer gro­ßen Schwes­ter Gretl stand. Die floh nach drau­ßen über den Hof ins Feld, der Rus­se jag­te ihr nach.

Josef, der Vater, stell­te sich noch irgend­wo in den Weg und zog dem Rus­sen eins mit dem For­ken­stiel über. Mag sein, er ver­mied gera­de noch den Impuls, dem Ver­ge­wal­ti­ger die For­ken­zin­ken bes­ser gleich in den Leib zu ram­men. Jeden­falls bekam er selbst einen Kol­ben­schlag ins Gesicht, der ihm den Kie­fer brach.

Mei­ne Mut­ter erzähl­te, sie war als Kind noch lan­ge nach dem Krieg oft in Sor­ge, die Mut­ter Brom­ka könn­te wegen irgend­ei­ner neu­er­li­chen Kata­stro­phe ver­schwin­den und nie wie­der­keh­ren, selbst als längst kei­ne unmit­tel­ba­re Gefahr mehr bestand. Tie­fe Ver­un­si­che­rung, Urangst, ein­ge­schrie­ben in die Kinderseele.

Arbei­te­te Mut­ter Brom­ka in einem ande­ren Zim­mer oder in der Küche, lausch­te Chris­tel stets nach ihr, sich ver­ge­wis­sernd, daß die Mut­ter noch da war. Ging die aus dem Haus, begann sie leis zu sin­gen: „Die Mut­ter kommt nicht wie­der, die Mut­ter kommt nicht wie­der, die Mut­ter kommt nicht wieder …“

Nur so zum Spaß, mein­te sie mir gegen­über. Aber was denn war 1945 oder 1946 über­haupt Spaß? Mei­ne Mut­ter brach­te, wohl um die­se Last zu tei­len, ihre bei­den gleich­falls noch klei­nen Schwes­tern dazu, die Zei­le mit­zu­sin­gen, im Chor lau­ter und immer lau­ter und dabei immer ver­zwei­fel­ter werdend.

Schließ­lich, erzählt sie, stan­den die drei klei­nen Mäd­chen­ge­schwis­ter am Fens­ter des Hau­ses und san­gen, nein schrien wei­nend: „Die Mut­ter kommt nicht wie­der, die Mut­ter kommt nicht wie­der …“ – Bis sie dann doch zurück­kehr­te und ihre Töch­ter freund­lich schalt. Aber den­noch waren sie alle selig, von der Mut­ter umarmt zu werden.

Was für eine schlim­me Ver­let­zung, was für ein Ein­bruch an inne­rer Grund­si­cher­heit mag das sein, der ein neun­jäh­ri­ges Mäd­chen dazu bringt, sich die Kata­stro­phe, die Mut­ter könn­te nicht heim­keh­ren, gleich noch selbst zu sug­ge­rie­ren. Danach gefragt, sag­te sie mir:

„Wenn ich das erst zu sum­men und dann zu sin­gen begann, hat­te ich natür­lich nicht dar­an geglaubt, die Mut­ter wür­de tat­säch­lich nicht zurück­keh­ren, aber nach­dem ich’s dann ein paar­mal wie­der­holt und die Geschwis­ter zum Mit­ma­chen gebracht hat­te, war erst ich davon über­zeugt, daß es genau so kom­men wür­de, dann aber gleich wir alle; und alle haben wir geweint, bis Mut­ti end­lich zurückkehrte.“

Vie­le, vie­le aber kamen eben nicht wie­der, nicht aus dem Krieg, nicht aus der Gefan­gen­schaft. Vie­le, vie­le ver­schwan­den. Und wer doch zurück­kehr­te, war oft genug ver­wan­delt, gebro­chen und inner­lich zerstört.

Was mögen all die ein­sa­men alten und gut­her­zi­gen Frau­en, die wir im Dorf so kann­ten, die­se vie­len Wit­wen, die uns gern mal etwas Süßes, Nüs­se oder ein Stück Obst schenk­ten, aus­ge­hal­ten haben? Was schwie­gen all die selt­sa­men Käu­ze, man­che davon trau­ri­ge Säu­fer, ande­re miß­lau­ni­ge Grant­ler, so in sich hin­ein, all die in den Zwan­zi­gern und Drei­ßi­gern Gebo­re­nen mit ihren ver­schie­de­nen deut­schen Hei­ma­t­idio­men, die erlit­ten hat­ten, was für jeden von ihnen und über­haupt für jeden Men­schen zu viel war, als daß man dafür noch kla­re Wor­te hät­te, wäh­rend uns Her­an­wach­sen­den im Geschichts­un­ter­richt sonst­was erzählt wur­de, wozu die­se Alten, die es bes­ser wuß­ten, eben auch mein­ten lie­ber schwei­gen zu müssen.

Ganz Euro­pa trau­er­te; Deutsch­land durf­te es nicht, schon gar nicht öffentlich.

Und doch: Nur ganz weni­ge die­ser Kriegs- und Ver­trie­be­nen­ge­ne­ra­ti­on erleb­te ich als kalt­her­zig. Sie waren gut zu uns, brach­ten uns bei, wie man einen Fahr­rad­schlauch flickt oder ein Vor­fach an die Angel bin­det. Ein­mal nur sag­te mir der selt­sa­me Herr Bock, der in der Dorf­schmie­de arbei­te­te, am bes­ten hät­te ihm sei­ne Geburts­tags­tor­te im U‑Boot tief unterm Mee­res­spie­gel geschmeckt.

Oft, wenn ich Tor­te esse, den­ke ich an den Mann, der aus Ham­burg stamm­te und den Dia­lekt die­ser Stadt sprach. Beim Tor­ten­es­sen wird es ja auch für ihn in U‑xxx nicht geblie­ben sein, und ich gäbe was drum, wüß­te ich, auf wel­cher U‑Nummer er Dienst getan hatte.

Die Zeit läuft wei­ter. Die bösen Rus­sen ver­ge­wal­ti­gen wei­ter, eben­so ver­ge­wal­ti­gen die angeb­lich guten Ukrai­ner, und die Frau­en, die Kin­der und Schwa­chen sind auf der Flucht, wie sie schon im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg auf der Flucht waren und in allen ande­ren Krie­gen danach. Wäh­rend die Poli­tik ihren kurz­läu­fi­gen Zwe­cken folgt und gegen­wär­tig etwa meint, der natio­na­len Befrei­ungs­idee einer ukrai­ni­schen Regie­rung bei­ste­hen zu müssen.

Nie wie­der Krieg! Nie wie­der? Immer wie­der. Wer es ver­trägt, kann sie in einem Fea­ture der Slo­we­nin Maruša Kre­se anhö­ren, wie grau­sig die Bilanz des letz­ten Jahr­hun­derts ist. Das jet­zi­ge wird dem nicht nachstehen.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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Kommentare (25)

Dieter Rose

13. September 2022 08:46

In den Familien unserer heute in Verantwortung stehenden Politiker scheinen solche Familienerzählungen nicht vorzukommen / vorgekommen zu sein.

MARCEL

13. September 2022 08:51

Neulich stieß ich auf einen beeindruckend passenden Satz in Saint-Exupérys Buch Flug nach Arras über seine Zeit als Aufklärungsflieger während der franz. Niederlage 1940:

Frei übersetzt:

"Sie wissen nicht wirklich etwas über eine Niederlage, wenn Sie in ihr nur Verzweiflung zu finden glauben"

(Den Krieg 1940 nennt er für die französische Seite übrigens einen "melancholischen Krieg")

RMH

13. September 2022 09:18

Es ist erwiesen, dass solche Traumata über Generationen nachwirken. Und wenn Frau Kositza in den Artikeln zuvor die demographische Frage stellte, dann ist eine der vielen Antworten darauf, warum in Deutschland wenige Kinder geboren werden, genau das Thema der unverarbeiteten und vererbten Kriegstraumata, die vielen Deutschen die gewisse natürliche Unbefangenheit, die auch dazugehört, wenn man Nachwuchs will, genommen hat. Diese "German Angst" wurde natürlich weiter am köcheln gehalten, Kriege hier, Hungersnöte da, Angst vor dem nuklearen Weltkrieg, Waldsterben, Tschernobyl etc. - bei rechten Angst vor "Überfremdung", Messermänner etc. - lässt sich fortsetzen.

PS: Übrigens, dass gerade wir Deutsche jetzt die Auseinandersetzung in der Ukraine in ein plattes gut- böse Schema pressen, obwohl das so offen gar nicht gemacht wird, und fast schon neidisch auf die Überfallenen sind, da sie sich zu Recht wehren und anderseits oft stille Sympathie mit Aggressoren haben, die jetzt moralisch verurteilt werden, hat auch zu einem kleinen Bruchteil seine Ursachen in dem Unverarbeiteten - Solidarität der "Bösen" versus einmal auf der "richtigen Seite" der Geschichte stehen. Deutschland auf die Couch? Unbedingt!

Maiordomus

13. September 2022 11:35

@Bosselmann. Diese Ihre Aufzeichnungen würden  wegen literarischer Qualität, in ein Buch als in einen solchen Artikel passen. Mich liess Ihre Bemerkung über Julius Bahnsen aufhorchen, der zu den jüngeren Generationsgenossen von Friedrich Hebbel zählte, welch letzterer tiefer als andere und noch mit Nachwirkungen ins 20. Jahrhundert bis Paul Ernst usw. über das Tragische nachgedacht hat, so wie der Spanier Miguel de Unamuno mit seinem von Ernst Robert Curtius vor bald 100 Jahren wieder vermittelten "Sentimiento tragico de la vida". Nicht zu vergessen den Ostfriesen Wilhelm Schapp, "In Geschichten verstrickt".

@ Rose, es haben auch Linke Familienerzählungen, von Dutschke, Andreas Baader bis S. Gabriel, wobei aber der "Antifaschismus" Empathie wohl eliminierte im Sinn von "selber schuld" usw.  Unter Linken fiel mir der zeitweilig in St. Gallen gewirkt habende einstige SPD-Politiker auch als Berater von Brandt/ Schmidt  tätig gewesene Bundesgeschäftsführer Glotz auf, der die Vergangenheit des östlichen Deutschland, nicht mit DDR zu verwechseln, verinnerlicht hatte. Den trennten indes Welten von der Baerbock-Generation, auch Ricarda Lang usw, über deren Familiengeschichte bis zurück in den 1. Weltkrieg vielleicht mal was in Erfahrung zu bringen wäre. 

Umlautkombinat

13. September 2022 12:17

"wenige Kinder geboren werden [...] genau das Thema der unverarbeiteten und vererbten Kriegstraumata"

Die Eltern der Generation Boomer muessten ja dann logischerweise ganz vorn dran sein. Die Traumata sind mit Sicherheit komplett hinreichend gewesen, auch in meiner Familie. Die vielen Kinder gab es trotzdem. Irgendwo bricht also die versuchte Schlussweise.

 

dojon86

13. September 2022 13:36

@Umlautkombinat 12:17 Ihr Einwand ist richtig. Gerade die Generation der zwischen 1910 und 1935 Geborenen hat ab den 50ger Jahren die Baby Boom Generation in die Welt gerufen. Außerdem ist der Rückgang der Geburtenzahlen ab ca. 1965 ein Phänomen, welches in allen Staaten der industrialisierten Welt, egal ob sie 1945 zu den Verlierern oder Siegern zählten, auftrat.

Hajo Blaschke

13. September 2022 13:57

dojon86. Dann war wohl die ehemalige DDR kein Teil der industrialisierten Welt. Dort gab es an 1965 keinen Geburtenrückgang

 

 

 

Laurenz

13. September 2022 13:59

@HB

Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung wurde traumatisiert. Ich kann die Traumata meiner Großväter aus ein -, bzw. 2 Weltkriegen, auch meiner Großmütter (im Westen), wie die meines Vaters im wahrsten Sinne des Wortes fühlen. Ich habe mir aus der Körpertherapie einfache Techniken angeeignet, mich distanzieren zu können, wenn es zu viel wird. Kurz gesagt, hier handelt es sich um das Schicksal meiner Großeltern-Generation, einschließlich deren Geschwister, vor allem dann, wenn diese Geschwister keine Kinder hatten, was auch damals durchaus öfters vorkam. Es ist aber nicht mein Schicksal. 

@RMH

beschreibt das also völlig richtig. Man kann allerdings nicht 30 oder 40 Mio. therapieren. Deswegen einigten sich die meisten darauf, zu schweigen. Das Schweigen, die Verdrängung ist zumindest am Anfang nach der Katastrophe die einzige Möglichkeit seelisch zu überleben. Aufarbeitung kann nur aus einer Situation der Kraft betrieben werden. Daß deswegen weniger Kinder geboren werden, ist wenig plausibel. Meine Beiden Großväter zeugten auch im Krieg Kinder.

RMH

13. September 2022 14:37

@Umlautkombinat,

Die Psyche ist nicht so rational, wie Sie vermuten. Ein Freund von mir ist Psychiater und Gerichtsgutachter, insbesondere in Familien- und Sorgerechtssachen, und er erklärte mir es einmal so, dass diese Kriegstraumata Generationssprünge machen können und sich dadurch sogar verstärken können, da kaum einer der nachfolgenden Generationen diese Erklärung offen sieht (man war ja nicht direkt Betroffener). Noch heute ist das ein Thema, er besuchte dazu Schulungen, in denen das behandelt wurde. Und es passt - zumindest im Westen - ziemlich gut damit zusammen, dass die Kriegsgeneration zwar noch viele Kinder bekamen (auch aus Verdrängung), aber schon die Kinder und Enkelgenerationen dann weniger. Das liegt zeitlich ganz gut auf der Zeitschiene, ab der man Geburtenrückgänge lapidar mit dem Wort Pillenknick erklärt, aber die Tiefenschichten (auch, dass man auf einmal anfängt, Familie exakt zu planen oder ganz darauf zu verzichten) kann es nicht in Gänze zu Tage bringen oder erklären. Und wie ich geschrieben habe: Es ist aus m. S. nicht der schlagende Grund, sondern einer von mehreren denkbaren Gründen und meist werden die Menschen auch nicht den einen Grund dafür haben, sondern ein Motivbündel. Ich selber kann von mir - ich bin Kind von klar Kriegstraumatisierten  - nur sagen, dass die vererbten Traumata erst im Alter für mich aufbrachen. Konnte ich früher Bücher, Dokumentationen und Filme zum WKII sehen, so ist mir das heute eigentlich nicht mehr stressfrei möglich.

dojon86

13. September 2022 14:50

@Hajo Blaschke 13:57 In der DDR wurde aus politischen Gründen massiv gegengesteuert. Und zwar mit Erfolg. Leider konnte dieser echteste der deutschen Staaten (als augenscheinlichstes Zeichen dieser Echtheit siehe die Uniformen der Volksarmee) diesen Erfolg auf anderen Gebieten nicht umsetzen, weil die marxistische Idee einer bis ins Detail planbaren Volkswirtschaft sich in der Praxis als Unfug erwies. 

brueckenbauer

13. September 2022 14:55

Die drei Phänomene, die Bosselmann hier anspricht - Vergewaltigung, Verschleppung (also Verschwinden) und Vertreibung - haben sich doch wohl unterschiedlich ausgewirkt. Ob da ein Oberbegriff wie Trauma weiterhilft? Doch höchstens in dem ganz formalen Gesichtspunkt, dass solche Erlebnisse verdrängt werden und als Erinnerung wieder auftauchen können. Oder dass der Betroffene später auf spezielle "Trigger" überreagiert.

Ich möchte die Folgen gar nicht verharmlosen und auch nicht gegen B.s "Nie wieder Krieg"-Parole argumentieren. Nur, wenn wir die Folgen ernst nehmen, müssen wir genauer darüber reden, wie sie zu "bewältigen" (coping) sind.

cubist

13. September 2022 15:00

@Hajo Blaschke: Ab 1965 keinen Geburtenrückgang in der DDR, so so ... https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/F09-Zusammengefasste-Geburtenziffer-West-Ost-ab-1945.html 

dojon86

13. September 2022 16:08

Ich weiß nicht. Ich finde den Bosselmanntext als literarischen Text großartig. Ich gebe auch zu, dass du Erfahrungen der Bevölkerung in der DDR traumatischer waren, als die aus dem Osten Österreichs woher ich stamme. Die Sowjetarmisten hatten in Österreich offensichtlich Weisung, sich etwas besser zu verhalten als in Ostdeutschland, wohl um die Österreicher von den Segnungen der Eigenstaatlichkeit zu uberzeugen. Aber was meine persönlichen Eindrücke von der Generation meiner Eltern angeht, muss ich leider zugeben, dass mir diese überwiegend als lebenstüchtiger vorkam, als meine eigene Boomer Generation. Die Väter der meisten meiner Schulkameraden waren Soldaten, trotzdem gründeten sie uberwiegend solide Familien, hatten meist mehrere Kinder und könnten sie auch ernähren, Traumatisierung hin oder her. Bei meinen Altersgenossen sieht es leider nicht so gut aus, wohin man blickt, Kinderlose, Scheidungsleichen oder Alleinstehende. 

Carsten Lucke

13. September 2022 16:23

Unfaßbar ergreifender Text. Der tiefste bisher von Bosselmann; der beste, wie ich finde.

Gehört unbedingt - mit ein paar anderen zusammen - in Buchform gebracht !

RMH

13. September 2022 16:50

"Unfaßbar ergreifender Text."

ja, er spricht einen sehr persönlich an, weil wohl fast jeder hier auch sofort die eine oder andere Familiengeschichte erzählen kann. Meine Mutter hat als Kind die Bombennächte im Bunker verbracht, mein Vater erlebte die Vertreibung aus dem Sudetenland, bei der dann sein Vater, also mein Großvater, spurlos "verschwand" (sein Schicksal ist bis heute ungeklärt - von den Tschechen verschleppt, dann verliert sich jegliche Spur). Wenn in meiner Kindheit einmal wieder Probealarm war (gab es zu Zeiten des kalten Krieges regelmäßig), spürte ich, wie die heulenden Sirenen meinen Eltern zusetzten, auch wenn kein Wort darüber verloren wurde oder man keine Schwäche zeigte. Und genau mit solch kleinen Erfahrungen, die nie besprochen wurden, werden Traumata vererbt. Oder das Schweigen oder die nur floskelhaft kurze Erklärung dazu, wenn man als Kind die Frage stellte, warum man keinen Opa väterlicherseits hat etc. Mein Vater war der einzige männlichen Geschlechts einer großen Familie, der den Krieg überlebte und das wohl auch nur, weil er noch Kind war. Alle anderen Männer fielen, wurden umgebracht oder verschleppt mit Ende unbekannt etc. Es soll bei starkem Stress auch zu epigenetischen Veränderungen kommen. Hier wird geforscht (ich erinnere mich an einen Bericht zu Soldaten mit PTBS - und PTBS war doch, wenn man sich einmal ernsthaft zurück an seine Großeltern, Onkel, Tanten und Eltern erinnert, wohl eine Art "unerkannte" und verdrängte Volkskrankheit hierzulande).

RMH

13. September 2022 17:01

Noch ein Punkt:

Man erinnere sich einmal zurück an die Größe alter Nervenkliniken in Deutschland und die waren damals voll - mit z.T. Schlafsälen Bett an Bett und nicht mit Einzel- oder Zweibettzimmern.

Es wurde in Deutschland unendlich viel einfach verdrängt. Zum Teil ist das durchaus richtig, aber komplett den Mantel des Schweigens darüber legen, ist offenbar auch nicht gesund.

dojon86

13. September 2022 17:13

Fortsetzung @dojon86 16:08

Keineswegs möchte ich das Grauen der Kriegjahre verharmlosen, aber der Bemerkung eines Posters, 40 Millionen Deutsche wären therapiebedürftig gewesen, möchte ich einen anderen Ansatz gegenüberstellen. Für mich ist das wesentlich aktuellere Desaster der deutschen Geschichte die so gerühmten 68ger gewesen. Die meisten Fehlentwicklungen nahmen damals ihren Anfang. Der konservative österreichische Publizist Jens Tschebull hat zu den 68gern vor langer Zeit gesagt, ihre Opfer sind auf dem Friedhof, im Gefängnis, in Entziehungsanstalten, in psychiatrischer Behandlung oder in Umschulungskursen des Arbeitsamtes zu finden. Ein weiteres, möglicherweise das letzte Opfer der 68ger könnte das Deutschland das wir kennen sein. Wenn dem so ist, dann wird sich das Nachdenken (ich nenns für mich auch neue deutsche/westliche Weinerlichkeit) über posttraumatische Folgen der Weltkriege bei der Enkelgeneration, selbstverständlich natürlich nicht bei den Betroffenen, aber die sind fast alle schon tot, auch erledigt haben.

PS, ich habe die Postachtundsechziger in den 70gern schon politisch bewusst erlebt und ich muss gestehen, dass ich sie damals großartig fand. Der Zweifel kam mit den Jahren.

Umlautkombinat

13. September 2022 17:44

"Die Psyche ist nicht so rational, wie Sie vermuten. Kriegstraumata [...] Generationssprünge"

Was ich vermute, das ist erstmal unbestimmt. Hier halte ich es einfach. Die Beschaedigungen lagen zu Tage, die haetten locker fuer unmittelbare Verweigerungen jeglicher Art genuegt. Wer ueber Occam hinausgeht, der muss belegen. Nehmen Sie also alle im Zweiten Weltkrieg befindlichen Nationen her, beruecksichtigen Sie auch den Grad und die Art der Involviertheit - meinetwegen Sieger und Besiegte - und sehen sich die Folgen an. Die schluessige Folgerung zur Absenkung der Kinderzahl moechte ich erst einmal sehen. Um den anstrengenden Danisch zu zitieren: Korrelationen sind keine Kausalitaeten.

Niekisch

13. September 2022 18:54

"diese Kriegstraumata Generationssprünge machen können"

@ RMH 13.9. 14:37: Dazu immer noch interessant und grundlegend: 

Velikowsky, Immanuel, Das kollektive Vergessen.

Grunenberg, Antonia, Die Lust an der Schuld.

@ Heino Bosselmann: Ihr Bericht ist dermaßen erschütternd, daß bei mir alle durch die Verwandten übermittelten schrecklichen Ereignisse wieder ins Bewußtsein kamen. Erst wenn wir uns mit dem Schicksal unserer Vorfahren in guter und schlechter Hinsicht befassen, finden wir den nötigen Antrieb und die richtige weltanschauliche Grundlage, die Restbestände unserer Nation zu sichern.

Nemo Obligatur

13. September 2022 19:38

Ein starker Text. Zu stark. Wer soll denn das aushalten, diese Anhäufung von Grausamkeiten? Hätten Sie wenigstens die Kinder aus dem Spiel gelassen!

Künftige Historiker im Jahr 2200 (es werden dann keine Deutschen sein, auch wenn sie noch deren inzwischen tote Sprache lesen können) werden sich über die Dokumente aus jener Zeit beugen und berichten, dass das unselige Deutschland nach 1618-48 auch 1914-45 einen zweiten Dreißigjährigen Krieg ausfocht oder meinethalben vom Zaun brach (für diese künftigen Generationen wird es egal sein, wessen Schuld es war). Dieser letzte große Krieg in Mitteleuropa führte zum Untergang des Reiches und schließlich des Volkes. Das endgültige Verschwinden Deutschlands wird man wegen der runden Zahl für das Jahr 2045 festsetzen, obgleich der letzte Beweis dafür nie zu erbringen sein wird. Als Hauptgrund wird der Verlust jeder Lebensfreude im einfachen Volk genannt werden, der schließlich zum Absterben des Willens zu Selbstbehauptung und zum Erlöschen der Fortpflanzung geführt hat. Der Bosselmann-Text wird als Beweisstück zu den Akten gegeben.

 

RMH

13. September 2022 20:01

@Umlautkombinat,

über die Weitergabe von Traumata - die man nicht mit handfesten psychischen Erkrankungen verwechseln darf - finden sie jede Menge Artikel im Netz und dutzende an Büchern. Was das Thema Rückgang der Kinder angeht, haben Sie natürlich Recht. Das kann nicht "die" Ursache alleine sein - ich schrieb oben auch von "eine der vielen Antworten darauf" . Aus meiner Sicht gibt es für den Geburtenrückgang ohnehin nur einen echten, knallharten Fakt im Sinne einer echten Kausalität und das ist die Einführung der Anti-Babypille, die es auch in der DDR ab 1965 gab. Auch dort hat diese zunächst einmal zu einer Delle geführt (siehe oben, von @cubist verlinkte Quelle).

Alles Andere, auch die von E.K. in ihren Artikeln genannten Ursachen ebenso wie meine Thesen, sind natürlich keine monokausalen Ursachen, sondern Vermutungen und Thesen. Ich denke, gerade wir Deutschen haben eben noch einen spezifischen Treffer erhalten, denn andere nicht so haben. Und wenn es um die letzten paar Tropfen gibt, die ein Fass zum Überlaufen bringen können, können derartige Traumata, welche die positive Einstellung zum Leben beeinträchtigen, diese Tropfen sein oder eben die berühmten letzten paar Gramm sein, die eine Waagschale in eine Richtung bewegen können oder zum Zögerlich sein, was dann den in der anderen Debatte beschriebenen Umstand "jetzt ist es zu spät" doch stark befördern kann.

Oderint

13. September 2022 20:46

Es scheint Phänomene wie eine unbewusste, unwillkürliche kollektive Schwangerschaftsverweigerung zu geben.

Zu Zeiten der ärgsten Notzuchtexzesse der Rotarmisten rätselten deutsche Ärzte, warum bei so vielen Frauen gleichzeitig der Zyklus aussetzte; man gab dem Ganzen den Namen "Russenkrankheit".

dojon86

13. September 2022 21:45

@Oderint 20:46 Ich nehme an, der Zyklus blieb eher aus, weil mit Kriegsende sich die Ernährungslage der deutschen Bevölkerung schlagartig extrem verschlechterte. Zumindest berichtete mir das meine Mutter, die ansonsten den Nazis eher skeptisch gegenüberstand. Und mir erscheint das logisch, denn bis 44 hatte das Deutsche Reich Zugriff auf Ressourcen der besetzten Gebiete, und im Frühjahr 1945 gab es da sicher noch Reserven. Zusätzlich sorgte die brutal effiziente Verwaltung der Nazis für ein Funktionieren der Rationierung. All das fiel im Chaos des ersten Nachkriegsjahres weg.

Ordoliberal

13. September 2022 23:05

Ein Grund, warum ich doch immer wieder auf der SiN lande, sind die menschlichen Stimmen, die hier noch zu hören sind. Bosselmanns Text hat mich tief bewegt. Meine über alles geliebte Großmutter floh mit meiner Mutter und meinem Onkel - Kleinkinder damals beide noch - in einem Pferdekarren über das zugefrorene Haff, während die Bomben links und rechts das Eis aufrissen. Das Geschrei der verzweifelten Menschen und der vom Gespann in die Tiefe gezogenen Pferde hat sie nie vergessen. Noch als Erwachsene träumte sie nachts davon. Meine damals 24-jährige Großmutter war allein, ihr Mann, den sie kaum kennen gelernt hatte, gefallen. Ein erfahrener deutscher Soldat übernahm die Zügel, brachte den Karren heil ans rettende Ufer und verschwand in der Menge.

Meine Eltern haben viel Armut und Unsicherheit erlebt. Sie haben Todesangst und Hunger überstanden. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, keinen Vater zu haben. Aber was für großartige Menschen sind sie geworden!

Meine Großmutter konnte über den Krieg nicht reden. Sie hat später wie ein Maulwurf gelebt. Jeder Tag wie der andere, bloß keine Überraschungen. Aber wieviel Liebe hat sie mir gegeben!

Gepriesen sei diese Generation!

ede

13. September 2022 23:06

Mein Vater war von seinem 22. bis 32. Lebensjahr Soldat und Kriegsgefangener (Polen und Afrika). Er hatte trotzdem ein sonniges Gemüt und mich nicht ein einziges Mal geschlagen, nicht mal eine Ohrfeige.

Er hat aber auch nie über den Krieg gesprochen, außer einen Satz:

"Alles, nur kein Krieg".

 

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