Wer annimmt, Alain de Benoist und Patrick Buisson hätten sich nichts zu sagen, ist doch der eine Heide und der andere Katholik, irrt sich. So manches verbindet die beiden. Die Veröffentlichung von Buissons La Fin d’un monde (Das Ende einer Welt) ist ein vortrefflicher Anlaß, dies darzulegen. Wir drucken dieses vortreffliche Gespräch mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Éléments in der Übersetzung von Christa Nitsch.
ALAIN DE BENOIST: Sie haben ein wunderbares Buch geschrieben. Es ist die Geschichte eines rasanten Niedergangs: Es war einmal eine Gesellschaft, in der schätzte man »Unentgeltlichkeit, Solidarität, gegenseitige Hilfe, Selbstlosigkeit um des Gemeinwohls willen, den Vorrang der vertu publique vor dem egoistischen Kalkül, das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nationalgemeinschaft und den Willen, ihr zu dienen, selbst wenn man dabei die eigene Bequemlichkeit und seine Privatinteressen zurückstellen mußte«.
Ihre Geschichte beschreibt, wie wir binnen einiger Jahrzehnte aus dieser Gesellschaft in eine hineinschlitterten, die all ihrer Bezugsgrößen verlustig ging, in der die Ethik verschwand, während Moralin alles überwucherte, sprich: wie wir zu einer Gesellschaft von Individuen wurden, die zwischen der Leere und dem Zu-Vollen dahintaumelt und auf das Chaos zuzusteuern scheint.
Sie zeigen dies anhand von drei großen Hauptthemen auf: am »Zusammenbruch des Glaubens«, am Verhältnis zum Tode, am Ende von Vaterschaft und Männlichkeit, das heißt an der radikalen Infragestellung des Mannes, der Autorität, der Vertikalität, kurz: des Gesetzes im Lacanschen Sinne des Wortes. Und all dies geschah in weniger als einem halben Jahrhundert!
Mir will nun aber gerade der hier abgesteckte Zeitrahmen nicht gefallen. Aus welchen alten Wurzeln speist sich diese Entwicklung, die sich immer mehr beschleunigt? Nicht an allem ist der Mai 68 schuld. Weit gefehlt! Welche Rolle spielte das Erstarken der bürgerlichen Klassen und mit ihnen das Aufkommen der ökonomischen Ideologie, die Etablierung der Vorrangstellung der Marktwerte und der Idee, daß der Mensch vor allem ein Konsument ist, der sich nur um die Maximierung seines privaten Interesses kümmern soll?
PATRICK BUISSON: Beginnt die bürgerliche Revolution mit der Renaissance? Mit der Reformation? Der Aufklärung? Eins ist auf jeden Fall gewiß: Sie ist zunächst eine Revolution der Mentalitäten. Diese geht der politischen Revolution voraus, denn die Machtergreifung ist immer nur eine Ratifizierung. Das bürgerliche Denken ist eine Ausgeburt Lockes und des angelsächsischen Utilitarismus, von dem Joseph de Maistre sagte, er sei durchdrungen vom »Mief eines stickigen Krämerladens«, während die Aufklärung nur sein Nebenprodukt ist. Auf den Punkt bringt dies Flauberts Aussage: »Bürgerlich nenne ich den, der niedrig denkt.«
Niedrig denken heißt, die Metaphysik auf die Physik zu reduzieren. Niedrig denken heißt im Grunde genommen, gar nicht zu denken, wenn jegliches Denken, wie Tolstoi behauptet, von Natur aus theologisch ist, insofern ihm die Beschäftigung mit den letzten Dingen, Tod, Gott und Ewigkeit, zugrunde liegt. Das 20. Jahrhundert war einerseits das Jahrhundert der »Beschleunigung der Geschichte« – so formulierte Daniel Halévy eine Einsicht, die dem entspricht, was die Veden als »Sturz der Zeiten« kennen; andererseits war es das, was René Guénon die Heraufkunft des Reichs der Quantität nennt, also die Umkehrung des Verhältnisses von Oben und Unten.
Wenn wir nur noch mit dem quantum argumentieren, unterscheiden wir nicht mehr zwischen Madonna und der Madonna, zwischen Gay Pride und Karfreitagsprozession, zwischen einer Kathedrale und einem Atomkraftwerk oder, wie weiland Roland Barthes, zwischen einem Gedicht von Baudelaire und einem Apothekenflyer.
Die »Fünfzehn Jammerjahre« (1960 – 1975), die ich in Das Ende einer Welt beschreibe, sind Dreh- und Angelpunkt im Beschleunigungs- und Verstärkungsprozeß, der aus dem homo oeconomicus das Zielmodell des menschlichen Abenteuers zu machen beabsichtigt. Die Boomergeneration – das sind (mit einem Ausdruck von François Hollande) die Fußgänger des Mai 68 – wuchs im prometheischen Traum von einer gewissen Unsterblichkeit, unermeßlicher Macht und der Kontrolle über das Leben auf, einem Traum, der genährt wurde von der stark gestiegenen Lebenserwartung, der allgemeinen Zunahme des Wohlstands und den Fortschritten der Wissenschaft.
Daher kommt auch das, was Paul Yonnet die »Entfesselung der Ich-Kräfte« genannt hat: Diese zertrümmert die alte katholische, allumfassende Kultur und fördert das infantile Verhalten der Jugend als Lebensart und Antriebsfeder der Marktideologie. Ab da gelingt es dem Markt, das Sakrale abzuräumen, indem er ein kohärentes Projekt zur Zerstörung der spirituellen Substanz des Menschen und der antiken, aristokratischen Konzeption auf die Beine stellte, einer Konzeption, welche – mit einem Wort Solschenizyns – den Menschen als Bestimmung das Streben vorgeschrieben hatte, »aus diesem Leben als höhere Wesen zu scheiden als die, die sie waren, als sie es bei ihrer Geburt betraten«. Das glatte Gegenteil der Moderne, die man als unerbittliche Herabsetzung allen menschlichen Strebens, als ein fortgesetztes Abrutschen definieren kann.
ALAIN DE BENOIST: In bezug auf die Glaubenskrise habe ich die gleiche Beanstandung vorzubringen. Auf den gut hundert Seiten, die Sie diesem Thema widmen, gewinnt man den Eindruck, daß Sie das ganze Debakel auf das Zweite Vatikanische Konzil zurückführen. Ich vermute aber, daß das Zweite Vatikanum nicht so sehr Ursache als vielmehr Konsequenz des Schlamassels ist. Gerade weil die Kirche den Glauben zusammenbrechen sah (die »Entchristlichung der Massen«), glaubte sie dem Verfall wirksam entgegentreten zu können, wenn sie sich zu Kompromissen mit der Moderne bereit erklärte – das Ergebnis kennen wir. Es gibt da einen anderen Umstand, den Sie zwar benennen, aber für meine Begriffe etwas zu schnell abhandeln: das Ende der bäuerlichen Welt, in der die mit der Volksfrömmigkeit verbundenen Traditionen wie selbstverständlich den Rhythmus der Jahreszeiten- und der Generationenabfolge markierten. Kam denn nicht dieser »stillen Revolution« die eigentliche Schlüsselrolle zu?
PATRICK BUISSON: Unbestritten. Das Ende der bäuerlichen Welt ist eine der Hauptursachen des historischen Niedergangs des Katholizismus in Frankreich. Die vielhundertjährige Allianz zwischen bäuerlicher Lebensweise und Kirche, gegründet auf einer weitgehenden Übereinstimmung zwischen natürlichem Zyklus und liturgischem Jahr, wurde Anfang der 1960er Jahre aufgekündigt, wobei auch das zugehörige symbolische Universum verdrängt wurde.
Bis zu dieser Zeit waren für einen Christen die natürlichen Phänomene Symbole der übernatürlichen Ereignisse und nicht umgekehrt. Ostern bedeutete nicht das Wiedererwachen der Natur, sondern das Wiedererwachen der Natur war das natürliche Symbol für die Auferstehung Christi; Weihnachten bedeutete nicht die Wintersonnenwende, sondern die Wintersonnenwende war die in die Natur eingeschriebene Geburt Christi. Das webende Leben der Erde setzte eine implizite Entzifferung des Symbolismus voraus, zu dessen Hüterin die Kirche als Wegbereiterin zu Gott geworden war.
Der nachkonziliare Klerus sollte aber nicht eher ruhen, als bis er diesen Symbolismus restlos entsorgt hatte durch die Streichung des Ritus – von der Tradition »Quatember« genannt –, mit dem die Wiederkehr der einzelnen Jahreszeiten einst feierlich begangen wurde. Entwurzelung und massive Landflucht führten dann zum endgültigen Verlust der symbolischen Entzifferungskunst, dem dann die Verödung folgte – von einem Jean Ferrat in die prägnanten Worte gefaßt: »Man muß wissen, was man liebt. / Eine Sozialwohnung beziehen, / Hormonhähnchen genießen.«
Im Gegensatz zum alten ländlichen Universum ist die moderne Welt die Welt der Künstlichkeit par excellence. Keine moderne Erfindung – dies bemerkte bereits Gustave Thibon – ist in Poesie übersetzbar, keine technische Neuerung bietet eine symbolische Analogie für ein Gleichnis. Es ist nur folgerichtig, daß heute diese Welt von der »Künstlichen Intelligenz« gekrönt wird, bei der das Adjektiv offensichtlich die Verneinung dessen darstellt, was es bestimmt.
Es handelt sich, mit anderen Worten, um den Triumph des Künstlichen und die Niederlage der Intelligenz. In weniger als einem halben Jahrhundert sind wir aus einem von Symbolen bevölkerten Universum in eine Welt ausgewandert, die von Fälschung und Parodie dominiert wird.
ALAIN DE BENOIST: Auf den höchst einprägsamen Seiten, die Sie dem »Massaker des Sakralen« gewidmet haben, weisen Sie zu Recht darauf hin, daß die Kirche in ihrem Bestreben, zu den »Ursprüngen des Glaubens« zurückzukehren, in gewissem Sinne den Glauben gegen die Religion ausgespielt hat und damit wesentlich zum Verschwinden des Sakralen beigetragen hat, das vor allem in den unteren Volksschichten verwurzelt war.
Das ist sicherlich zutreffend, doch müßte man nach dem Vorbild der großen Religionshistoriker – angefangen mit Rudolf Otto und Mircea Eliade – auch daran erinnern, daß das Christentum als erstes den Anstoß zur »Entzauberung der Welt« gegeben hat, indem es das sacer durch das sanctus ersetzte. In der Antike gab es heilige Orte (lieux sacrés), heilige Berge (montagnes sacrées), heilige Quellen (sources sacrées), heilige Haine (bosquets sacrés) und Wälder (bois sacrés) – alles Quellen einer natürlichen Hierophanie. Die Theologen haben das sacer zu einem Attribut Gottes reduziert (das Heiligste Herz Jesu: Sacré-Cœur), um dann nur noch von der Heiligen Familie (la Sainte Famille), der Heiligen Dreifaltigkeit (la Sainte Trinité), der Heiligen Schrift (les Saintes Écritures), der Heiligen Stadt (la Ville sainte), dem Heiligen Stuhl (Saint-Siège) etc. zu sprechen. Doch sind das Heilige in der Bedeutung sanctus und das Heilige in der Bedeutung sacer keineswegs dasselbe. Heiligkeit als sanctitas ist eine moralische Größe, was auf das Sakrale keineswegs zutrifft …
PATRICK BUISSON: Die gegen das Sakrale gerichtete Zerstörungswut des konziliaren Klerus ist tatsächlich das hervorstechende Kennzeichen dieser Epoche. Man will mit der göttlichen Majestät nichts mehr zu tun haben, nichts mehr mit der Ehrfurcht, die sie automatisch einfordert. Man muß in Montherlants Theaterstück Port-Royal blättern, um einen Mönch zu finden, der Gott noch mit »Eure Majestät« anspricht. Man lehrt die Gläubigen, daß Christus der Sinn für das Sakrale in solchem Maße fremd war, daß er wegen Blasphemie verurteilt wurde und daß es allein auf die Heiligkeit im Sinne der sanctitas ankomme.
Doch wird man nichtsdestoweniger einräumen müssen, daß selbst die sanctitas Christi Aussetzer gekannt hat – wie sonst will man erklären, daß er sich aus Stricken eine Geißel flocht und mit ihr die Händler aus dem Tempel jagte? Man muß sich wirklich auf der niedrigsten Stufe der modernen Entartung befinden, um sich – ohne die Ausrede zu haben, Deutscher oder Protestant zu sein – einen nichtsakralen Gott vorzustellen. Der Gegensatz zwischen sanctus und sacer geht auf eine doppelte Reduktion zurück. Er reduziert einmal das Sakrale auf die sanctitas bzw. gibt vor, es zu tun, indem er dem Sakralen ausweicht, und reduziert überdies die sanctitas auf die Moral.
Das nun bringt, wenn überhaupt, »kleine Heilige« hervor, keineswegs aber Heilige. Was Menschen voneinander unterscheidet, ist ja gerade ihr Bewußtsein des Sakralen. Für den traditionellen Menschen ist alles sakral; das Universum ist ein Tempel. Für den modernen Menschen ist alles profan (profanum, vor dem Tempel befindlich), anders gesagt: alles ist profaniert. Die berühmte »Entzauberung der Welt«, welche den Menschen laut Max Weber von der technischen Wissenschaft beschert wird, ist nichts anderes als die Profanierung der Welt.
ALAIN DE BENOIST: Die Volksfrömmigkeit ist da viel breiter angelegt. In Riten, die sie aus uralten Kulten ererbt hat, hat sie das Sakrale am Leben erhalten. In ihr behauptet die Orthopraxie die Vorrangstellung vor der Orthodoxie. Dies ist sogar das hervorstechende Merkmal dessen, was Sie selbst »Heidenchristentum« nennen. Mit Jean Delumeau neige ich eher zur Vorstellung, daß das Christentum nur solange überleben konnte, als es oberflächlich christianisierte, heidnische Riten (die »dionysische Verehrung«, den »rituellen und zeremoniellen Katholizismus«) zu bewahren wußte. Wo ist heute das Sakrale geblieben?
PATRICK BUISSON: Einschränkend möchte ich dazu bemerken: Alles, was von den Heiden auf uns gekommen ist – diese Beobachtung stellte übrigens bereits René Guénon an –, verdanken wir der Vermittlung des Christentums, das sich diese heidnischen Elemente aneignete.
Doch stimme ich vollkommen mit Pater Daniélous Aussage überein, das Christentum habe des heidnischen Menschen bedurft, damit er es rette, und es habe niemals Christen im Reinzustand gegeben, sondern nur Heiden auf unterschiedlichen Bekehrungsstufen. Als er seinen Kreuzzug ausrief, um das Christentum von den heidnischen Elementen zu säubern, ist der konziliare Klerus das Risiko eingegangen – so Le Roy Ladurie –, »alles gleichzeitig zu töten«.
Von dieser Warte aus betrachtet, ist die Bilanz verheerend. Demgegenüber schneiden die eingesetzten Ersatzheiligtümer aber auch recht miserabel ab. Heute gehört es zum guten Ton, bei jeder Krise die »Werte der Republik« zu beschwören, unbeschadet der Tatsache, daß dieses republikanische sacer schon längst aufgrund der Schwäche seines symbolischen Apparates gescheitert ist. Eigentlich hat nie jemand wirklich daran geglaubt. Erinnern Sie sich bloß an Talleyrands Ausspruch gegenüber Lafayette, als er zum Altar hinaufstieg, um das Föderationsfest am 14. Juli 1790 zu zelebrieren: »Ich bitte Sie, bringen Sie mich nicht zum Lachen.«
Paradoxerweise gibt es das republikanische sacer, das zum Nachsehen der monotheistischen Religionen ein Recht auf Blasphemie anerkennt, nur dank der Repression, die der Gesetzgeber gegenüber jenen Blasphemien eingeführt hat, die die Werte der Republik verletzen. Damit läßt er letzteren einen Schutz angedeihen, den er den anderen Religionen verweigert: durch das Loi Pleven gegen Anstachelung zu rassischer Diskriminierung, Rassenhaß etc., durch das Loi Gayssot gegen Holocaustleugnung, durch das Loi Taubira über Menschenhandel und Sklaverei, durch das Loi Raffarin gegen Homophobie.
ALAIN DE BENOIST: Sie haben recht: Der Mensch kann seinem Leben nur dann einen Sinn verleihen, wenn er das Gefühl hat, daß es da über ihm etwas gibt, das ihn erhebt und sein individuelles Ich unendlich übersteigt. Etwas, was ihm auch als Rechtfertigung dient, sein Leben hinzugeben, sollten die Umstände dies erheischen.
Dieses Etwas kann Gott sein, aber auch ein Ensemble von ethischen Regeln, von tiefen Überzeugungen, der Sinn für die Gemeinschaft und die Heimat, ein großes Gemeinschaftsprojekt – alles Dinge, die heute zu verschwinden drohen, weil unsere Zeitgenossen überzeugt sind, daß man nur sich selbst verpflichtet sei und daß nichts schlimmer sei als der Tod. »Der homo religiosus ist in seine Endphase eingetreten«, schreiben Sie.
Doch gibt es keine Sozialität ohne Sakralität. Der Haken dabei ist, daß Voluntarismus in diesem Bereich wenig hilft. Rousseaus »Zivilreligion«, der Kult des Höchsten Wesens während der Französischen Revolution sind verpufft. Ähnlich erging es den Säkularreligionen, die während der letzten zwei Jahrhunderte so viele enthusiastische Bewegungen hervorgebracht haben. Was mich betrifft, so bin ich wie Marcel Gauchet der Überzeugung, daß das Christentum wahrhaftig die »Religion des Ausgangs aus aller Religion« war. Was sollen wir also tun?
PATRICK BUISSON: Die Pandemie kam gerade rechtzeitig, um uns durch die Panik, die sich der französischen Gesellschaft bemächtigt hat, daran zu erinnern, daß das ununterdrückbare Bedürfnis der Menschen weder die Einforderung der Gerechtigkeit noch die Einforderung der Ordnung ist, sondern die Einforderung von Bedeutung. Sie wollen, daß man ihnen Hoffnung oder Utopie gibt, Gründe, um zu leben, und, was weit schwieriger ist, Gründe, um zu sterben.
Die Zerstörung des Religiösen – man konnte es an der explosionsartigen Zunahme der depressiven Pathologien ablesen – bringt soziales Elend hervor. Die Psychologen haben die Beichtväter ersetzt, doch ist dies kein Nullsummenspiel für die öffentlichen Ausgaben, wenn man auf die 65 Millionen Schachteln Psychopharmaka schaut, die man in Frankreich jährlich verbraucht. Die Frage ist nicht, ob Religion, wie Marx sagte, Opium des Volkes sei, sondern vielmehr, welche Qualität das Opium hat, das man dem Volk verabreichen kann? Welches kollektive Sakrale, welches substantielle Gemeinsame kann man noch den Franzosen anbieten, damit sie sich wieder zu einer Gemeinschaft zusammenschließen?
Bei den Säkularreligionen, von denen Sie sprachen, fällt mir auf, daß sie kaum mehr als eine oder zwei Generationen in ihren Bann zu schlagen vermochten. Zwischen »Transaszendenz« und »Transdeszendenz« unterscheidend, hat Jean Wahl gezeigt, daß Überschreitung allein nicht genügt. Ausschlaggebend ist, ob die Überschreitung nach oben oder nach unten erfolgt.
Die modernen Religionen waren Transdeszendenzen, die nichts gründeten, nichts überlieferten. Die Kirche allein vermochte es über lange Zeit hinweg, die desakralisierende Moderne und den Individualismus in Schach zu halten, weil sie Lehrmeisterin und gleichzeitig Hüterin der von Simone Weil metaxu genannten »Vermittlungen« war, dieser Formen, die die Bildung der Menschen und die Überlieferung dessen, was überliefert werden mußte, um zu Gott zu gelangen, verbürgten. Und dann kam der große Zusammenbruch der 1960er Jahre …
ALAIN DE BENOIST: In mehreren Interviews haben Sie verkündet, mehr Respekt für einen Moslem zu empfinden, der fünfmal am Tag seine Gebete verrichtet, als für einen Bobo auf seinem Roller. Abgesehen von dieser Formulierung behaupten Sie auch, daß das Hauptproblem nicht der Islam an sich sei, sondern die Immigration (was Sie eindeutig von einem Éric Zemmour unterscheidet). Wer nicht fähig ist zu glauben, findet den Glauben der anderen unverständlich. Könnten Sie diesen Gedanken, der in Ihrem Buch nicht auftaucht, näher erläutern?
PATRICK BUISSON: Beim Kreuzzug der Neokonservativen von einem Kampf der Kulturen zu sprechen ist Betrug. Was wir hier angeblich verteidigen sollen, ist nicht die traditionelle Kultur des Abendlandes, es ist eine Unkultur, die wir meistens nicht als das erkennen, was sie ist, und auch nicht beim Namen nennen, den sie verdient. Was können wir schon dem islamistischen Feind entgegensetzen außer der Obszönität des Marktes, dem Recht auf Blasphemie und der Genderideologie? Der Teil an Sakralität, den der neue Islam in Frankreich noch enthält – ein entwurzelter Islam für Entwurzelte –, ist uns gänzlich fremd geworden. Im Abscheu vor dem Islam kommt teilweise eine heftige Ablehnung jener Tugenden zum Ausdruck, als deren Bewahrer er sich sieht und die wir unterwegs verloren haben: Selbstlosigkeit, Opferbereitschaft, Gemeinschaftssinn.
Eine Kultur besteht aber nur dank ihrer Märtyrer, dank derer, die bereit sind, sich für sie, wenn’s sein muß, zu opfern. Um dies zu verstehen, reicht es, wieder seinen Seneca zu lesen: »Wer sein eigenes Leben verachtet, beherrscht deines.« Bin Laden sagte nichts anderes, als er verkündete: »Wir werden das Abendland besiegen, denn wir lieben den Tod genauso, wie ihr das Leben liebt.« Wer hier düstere Prophezeiungen an die Wand malt und Bürgerkriegsszenarien heraufbeschwört, ist ignorant und unverantwortlich. Wer wollte denn schon für eine Regenbogenfahne sterben?
ALAIN DE BENOIST: Ihr Werk trägt zu Recht den Titel Das Ende einer Welt. Doch ist das Ende einer Welt nicht das Ende der Welt. Wenn eine Welt zu Ende geht, liegt eine neue in den Geburtswehen. Wie werden Ihrer Meinung nach deren Umrisse aussehen? Wer deren Protagonisten sein? Der eingeloggte, digitalisierte, überwachte, durch die Technik »vermehrte« Mensch? Ein Neomatriarchat? Oder etwas anderes? Welche konkreten Möglichkeiten einer Renaissance gibt es?
PATRICK BUISSON: Die Frage, die sich hier stellt, ist letzten Endes eine anthropologische: Als Bernanos kurz vor seinem Tod 1948 sagte, es sei nicht so sehr der Staat als vielmehr die Gesellschaft, die sich auflöse, und daß man, um Frankreich wiederherzustellen, die Franzosen wiederherstellen müsse, sah er richtig, daß die Politik nur das Instrument einer illusorischen Neuerrichtung ist.
In dieser Hinsicht hat de Gaulle Frankreich seinen Martini-Sommer beschert. Der von der Technik zerlegte Mensch, durch ihre Prothesen »vermehrt« und unfähig, ohne diese zu leben, ein einfaches Anhängsel seiner Maschinen – dieser Mensch kann mit dem Sakralen nichts mehr anfangen und dadurch auch nichts mit einer Gesellschaft, egal welcher Art, wenn sich Gesellschaft durch das Sakrale definiert, das ihr Bestand verleiht – sei es nun ein religiöses oder traditionelles Sakrales oder, in geringerem Maße, ein Ersatzsakrales oder, genauer, eines der Übertragung wie Heimat oder Kultur.
Das einzige was man vernünftigerweise feststellen kann, ist, daß heute die Bedingungen des menschlichen Lebens selbst untergraben werden von der Unterwerfung unter die Bildschirme, von der unaufhörlichen Gehirnwäsche durch die »Musik«, die sich die Jugend antut, kurz: von all dem, was unsere Fähigkeiten angreift, selbst die der Aufmerksamkeit und der Konzentration, ohne die aber kein Gedanke, geschweige denn Kontemplation möglich ist.
Das einzige was man vorbringen kann, ist, daß nichts von all dem, was man uns verspricht oder ankündigt, und deren erste Früchte wir sehen, Zukunft hat. Und dann? Malraux setzte auf die »Unvorhersehbarkeit der Renaissancen«, Jünger auf das Unwägbare der Epiphanien, und Bossuet, der kein Anhänger der Cancel Culture war, erinnerte daran, daß »Gott, immer wenn er auslöscht, schreiben will«.