Wollte schon mal jemand für die Regenbogenfahne sterben?

Patrick Buisson und Alain de Benoist im Gespräch

PDF der Druckfassung aus Sezession 104/ Oktober 2021

Wer annimmt, Alain de Benoist und Patrick ­Buis­son hät­ten sich nichts zu sagen, ist doch der eine Hei­de und der ande­re Katho­lik, irrt sich. So man­ches ver­bin­det die bei­den. Die Ver­öf­fent­li­chung von Buis­sons La Fin d’un mon­de (Das Ende einer Welt) ist ein vor­treff­li­cher Anlaß, dies dar­zu­le­gen. Wir dru­cken die­ses vor­treff­li­che Gespräch mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Zeit­schrift Élé­ments in der Über­set­zung von Chris­ta Nitsch.

 

ALAIN DE BENOIST: Sie haben ein wun­der­ba­res Buch geschrie­ben. Es ist die Geschich­te eines rasan­ten Nie­der­gangs: Es war ein­mal eine Gesell­schaft, in der schätz­te man »Unent­gelt­lich­keit, Soli­da­ri­tät, gegen­sei­ti­ge Hil­fe, Selbst­lo­sig­keit um des Gemein­wohls wil­len, den Vor­rang der ver­tu publi­que vor dem ego­is­ti­schen Kal­kül, das Gefühl der Zuge­hö­rig­keit zu einer Natio­nal­ge­mein­schaft und den Wil­len, ihr zu die­nen, selbst wenn man dabei die eige­ne Bequem­lich­keit und sei­ne Pri­vat­in­ter­es­sen zurück­stel­len mußte«.

Ihre Geschich­te beschreibt, wie wir bin­nen eini­ger Jahr­zehn­te aus die­ser Gesell­schaft in eine hin­ein­schlit­ter­ten, die all ihrer Bezugs­grö­ßen ver­lus­tig ging, in der die Ethik ver­schwand, wäh­rend Mora­lin alles über­wu­cher­te, sprich: wie wir zu einer Gesell­schaft von Indi­vi­du­en wur­den, die zwi­schen der Lee­re und dem Zu-Vol­len dahin­tau­melt und auf das Cha­os zuzu­steu­ern scheint.

Sie zei­gen dies anhand von drei gro­ßen Haupt­the­men auf: am »Zusam­men­bruch des Glau­bens«, am Ver­hält­nis zum Tode, am Ende von Vater­schaft und Männ­lich­keit, das heißt an der radi­ka­len Infra­ge­stel­lung des Man­nes, der Auto­ri­tät, der Ver­ti­ka­li­tät, kurz: des Geset­zes im Lacan­schen Sin­ne des Wor­tes. Und all dies geschah in weni­ger als einem hal­ben Jahrhundert!

Mir will nun aber gera­de der hier abge­steck­te Zeit­rah­men nicht gefal­len. Aus wel­chen alten Wur­zeln speist sich die­se Ent­wick­lung, die sich immer mehr beschleu­nigt? Nicht an allem ist der Mai 68 schuld. Weit gefehlt! Wel­che Rol­le spiel­te das Erstar­ken der bür­ger­li­chen Klas­sen und mit ihnen das Auf­kom­men der öko­no­mi­schen Ideo­lo­gie, die Eta­blie­rung der Vor­rang­stel­lung der Markt­wer­te und der Idee, daß der Mensch vor allem ein Kon­su­ment ist, der sich nur um die Maxi­mie­rung sei­nes pri­va­ten Inter­es­ses küm­mern soll?

 

PATRICK BUISSON: Beginnt die bür­ger­li­che Revo­lu­ti­on mit der Renais­sance? Mit der Refor­ma­ti­on? Der Auf­klä­rung? Eins ist auf jeden Fall gewiß: Sie ist zunächst eine Revo­lu­ti­on der Men­ta­li­tä­ten. Die­se geht der poli­ti­schen Revo­lu­ti­on vor­aus, denn die Macht­er­grei­fung ist immer nur eine Rati­fi­zie­rung. Das bür­ger­li­che Den­ken ist eine Aus­ge­burt Lockes und des angel­säch­si­schen Uti­li­ta­ris­mus, von dem Joseph de Maist­re sag­te, er sei durch­drun­gen vom »Mief eines sti­cki­gen Krä­mer­la­dens«, wäh­rend die Auf­klä­rung nur sein Neben­pro­dukt ist. Auf den Punkt bringt dies Flau­berts Aus­sa­ge: »Bür­ger­lich nen­ne ich den, der nied­rig denkt.«

Nied­rig den­ken heißt, die Meta­phy­sik auf die Phy­sik zu redu­zie­ren. Nied­rig den­ken heißt im Grun­de genom­men, gar nicht zu den­ken, wenn jeg­li­ches Den­ken, wie Tol­stoi behaup­tet, von Natur aus theo­lo­gisch ist, inso­fern ihm die Beschäf­ti­gung mit den letz­ten Din­gen, Tod, Gott und Ewig­keit, zugrun­de liegt. Das 20. Jahr­hun­dert war einer­seits das Jahr­hun­dert der »Beschleu­ni­gung der Geschich­te« – so for­mu­lier­te Dani­el Halé­vy eine Ein­sicht, die dem ent­spricht, was die Veden als »Sturz der Zei­ten« ken­nen; ande­rer­seits war es das, was René Gué­non die Her­auf­kunft des Reichs der Quan­ti­tät nennt, also die Umkeh­rung des Ver­hält­nis­ses von Oben und Unten.

Wenn wir nur noch mit dem quan­tum argu­men­tie­ren, unter­schei­den wir nicht mehr zwi­schen Madon­na und der Madon­na, zwi­schen Gay Pri­de und Kar­frei­tags­pro­zes­si­on, zwi­schen einer Kathe­dra­le und einem Atom­kraft­werk oder, wie wei­land Roland Bar­thes, zwi­schen einem Gedicht von Bau­de­lai­re und einem Apothekenflyer.

Die »Fünf­zehn Jam­mer­jah­re« (1960 – 1975), die ich in Das Ende einer Welt beschrei­be, sind Dreh- und Angel­punkt im Beschleu­ni­gungs- und Ver­stär­kungs­pro­zeß, der aus dem homo oeco­no­mic­us das Ziel­mo­dell des mensch­li­chen Aben­teu­ers zu machen beab­sich­tigt. Die Boo­mer­ge­ne­ra­ti­on – das sind (mit einem Aus­druck von Fran­çois Hol­lan­de) die Fuß­gän­ger des Mai 68 – wuchs im pro­me­t­hei­schen Traum von einer gewis­sen Unsterb­lich­keit, uner­meß­li­cher Macht und der Kon­trol­le über das Leben auf, einem Traum, der genährt wur­de von der stark gestie­ge­nen Lebens­er­war­tung, der all­ge­mei­nen Zunah­me des Wohl­stands und den Fort­schrit­ten der Wissenschaft.

Daher kommt auch das, was Paul Yon­net die »Ent­fes­se­lung der Ich-Kräf­te« genannt hat: Die­se zer­trüm­mert die alte katho­li­sche, all­um­fas­sen­de Kul­tur und för­dert das infan­ti­le Ver­hal­ten der Jugend als Lebens­art und Antriebs­fe­der der Markt­ideologie. Ab da gelingt es dem Markt, das Sakra­le abzu­räu­men, indem er ein kohä­ren­tes Pro­jekt zur Zer­stö­rung der spi­ri­tu­el­len Sub­stanz des Men­schen und der anti­ken, aris­to­kra­ti­schen Kon­zep­ti­on auf die Bei­ne stell­te, einer Kon­zep­ti­on, wel­che – mit einem Wort Sol­sche­ni­zyns – den Men­schen als Bestim­mung das Stre­ben vor­ge­schrie­ben hat­te, »aus die­sem Leben als höhe­re Wesen zu schei­den als die, die sie waren, als sie es bei ihrer Geburt betra­ten«. Das glat­te Gegen­teil der Moder­ne, die man als uner­bitt­li­che Her­ab­set­zung allen mensch­li­chen Stre­bens, als ein fort­ge­setz­tes Abrut­schen defi­nie­ren kann.

 

ALAIN DE BENOIST: In bezug auf die Glau­bens­kri­se habe ich die glei­che Bean­stan­dung vor­zu­brin­gen. Auf den gut hun­dert Sei­ten, die Sie die­sem The­ma wid­men, gewinnt man den Ein­druck, daß Sie das gan­ze Deba­kel auf das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil zurück­füh­ren. Ich ver­mu­te aber, daß das Zwei­te Vati­ka­num nicht so sehr Ursa­che als viel­mehr Kon­se­quenz des Schla­mas­sels ist. Gera­de weil die Kir­che den Glau­ben zusam­men­bre­chen sah (die »Ent­christ­li­chung der Mas­sen«), glaub­te sie dem Ver­fall wirk­sam ent­ge­gen­tre­ten zu kön­nen, wenn sie sich zu Kom­pro­mis­sen mit der Moder­ne bereit erklär­te – das Ergeb­nis ken­nen wir. Es gibt da einen ande­ren Umstand, den Sie zwar benen­nen, aber für mei­ne Begrif­fe etwas zu schnell abhan­deln: das Ende der bäu­er­li­chen Welt, in der die mit der Volks­fröm­mig­keit ver­bun­de­nen Tra­di­tio­nen wie selbst­ver­ständ­lich den Rhyth­mus der Jah­res­zei­ten- und der Gene­ra­tio­nen­ab­fol­ge mar­kier­ten. Kam denn nicht die­ser »stil­len Revo­lu­ti­on« die eigent­li­che Schlüs­sel­rol­le zu?

 

PATRICK BUISSON: Unbe­strit­ten. Das Ende der bäu­er­li­chen Welt ist eine der Haupt­ur­sa­chen des his­to­ri­schen Nie­der­gangs des Katho­li­zis­mus in Frank­reich. Die viel­hun­dert­jäh­ri­ge Alli­anz zwi­schen bäu­er­li­cher Lebens­wei­se und Kir­che, gegrün­det auf einer weit­ge­hen­den Über­ein­stim­mung zwi­schen natür­li­chem Zyklus und lit­ur­gi­schem Jahr, wur­de Anfang der 1960er Jah­re auf­ge­kün­digt, wobei auch das zuge­hö­ri­ge sym­bo­li­sche Uni­ver­sum ver­drängt wurde.

Bis zu die­ser Zeit waren für einen Chris­ten die natür­li­chen Phä­no­me­ne Sym­bo­le der über­na­tür­li­chen Ereig­nis­se und nicht umge­kehrt. Ostern bedeu­te­te nicht das Wie­der­erwa­chen der Natur, son­dern das Wie­der­erwa­chen der Natur war das natür­li­che Sym­bol für die Auf­er­ste­hung Chris­ti; Weih­nach­ten bedeu­te­te nicht die Win­ter­son­nen­wen­de, son­dern die Win­ter­son­nen­wen­de war die in die Natur ein­ge­schrie­be­ne Geburt Chris­ti. Das weben­de Leben der Erde setz­te eine impli­zi­te Ent­zif­fe­rung des Sym­bo­lis­mus vor­aus, zu des­sen Hüte­rin die Kir­che als Weg­be­rei­te­rin zu Gott gewor­den war.

Der nach­kon­zi­lia­re Kle­rus soll­te aber nicht eher ruhen, als bis er die­sen Sym­bo­lis­mus rest­los ent­sorgt hat­te durch die Strei­chung des Ritus – von der Tra­di­ti­on »Qua­tem­ber« genannt –, mit dem die Wie­der­kehr der ein­zel­nen Jah­res­zei­ten einst fei­er­lich began­gen wur­de. Ent­wur­ze­lung und mas­si­ve Land­flucht führ­ten dann zum end­gül­ti­gen Ver­lust der sym­bo­li­schen Ent­zif­fe­rungs­kunst, dem dann die Ver­ödung folg­te – von einem Jean Fer­rat in die prä­gnan­ten Wor­te gefaßt: »Man muß wis­sen, was man liebt. / Eine Sozi­al­woh­nung bezie­hen, / Hor­mon­hähn­chen genießen.«

Im Gegen­satz zum alten länd­li­chen Uni­ver­sum ist die moder­ne Welt die Welt der Künst­lich­keit par excel­lence. Kei­ne moder­ne Erfin­dung – dies bemerk­te bereits Gust­ave Thi­bon – ist in ­Poe­sie über­setz­bar, kei­ne tech­ni­sche Neue­rung bie­tet eine sym­bo­li­sche Ana­lo­gie für ein Gleich­nis. Es ist nur fol­ge­rich­tig, daß heu­te die­se Welt von der »Künst­li­chen Intel­li­genz« gekrönt wird, bei der das Adjek­tiv offen­sicht­lich die Ver­nei­nung des­sen dar­stellt, was es bestimmt.

Es han­delt sich, mit ande­ren Wor­ten, um den Tri­umph des Künst­li­chen und die Nie­der­la­ge der Intel­li­genz. In weni­ger als einem hal­ben Jahr­hun­dert sind wir aus einem von Sym­bo­len bevöl­ker­ten Uni­ver­sum in eine Welt aus­ge­wan­dert, die von Fäl­schung und ­Par­odie domi­niert wird.

 

ALAIN DE BENOIST: Auf den höchst ein­präg­sa­men Sei­ten, die Sie dem »Mas­sa­ker des Sakra­len« gewid­met haben, wei­sen Sie zu Recht dar­auf hin, daß die Kir­che in ihrem Bestre­ben, zu den »Ursprün­gen des Glau­bens« zurück­zu­keh­ren, in gewis­sem Sin­ne den Glau­ben gegen die Reli­gi­on aus­ge­spielt hat und damit wesent­lich zum Ver­schwin­den des Sakra­len bei­getra­gen hat, das vor allem in den unte­ren Volks­schich­ten ver­wur­zelt war.

Das ist sicher­lich zutref­fend, doch müß­te man nach dem Vor­bild der gro­ßen Reli­gi­ons­his­to­ri­ker – ange­fan­gen mit Rudolf Otto und ­Mir­cea Elia­de – auch dar­an erin­nern, daß das Chris­ten­tum als ers­tes den Anstoß zur »Ent­zau­be­rung der Welt« gege­ben hat, indem es das sacer durch das sanc­tus ersetz­te. In der Anti­ke gab es hei­li­ge Orte (lieux sacrés), hei­li­ge Ber­ge (mon­tagnes sacrées), hei­li­ge Quel­len (sources sacrées), hei­li­ge Hai­ne (bos­quets sacrés) und Wäl­der (bois sacrés) – alles Quel­len einer natür­li­chen Hiero­pha­nie. Die Theo­lo­gen haben das sacer zu einem Attri­but Got­tes redu­ziert (das Hei­ligs­te Herz Jesu: Sacré-Cœur), um dann nur noch von der Hei­li­gen Fami­lie (la Sain­te Famil­le), der Hei­li­gen Drei­fal­tig­keit (la Sain­te Tri­ni­té), der Hei­li­gen Schrift (les Sain­tes Écri­tures), der Hei­li­gen Stadt (la Ville sain­te), dem Hei­li­gen Stuhl (Saint-Siè­ge) etc. zu spre­chen. Doch sind das Hei­li­ge in der Bedeu­tung sanc­tus und das Hei­li­ge in der Bedeu­tung sacer kei­nes­wegs das­sel­be. Hei­lig­keit als sanc­ti­tas ist eine mora­li­sche Grö­ße, was auf das Sakra­le kei­nes­wegs zutrifft …

 

PATRICK BUISSON: Die gegen das Sakra­le gerich­te­te Zer­stö­rungs­wut des kon­zi­lia­ren Kle­rus ist tat­säch­lich das her­vor­ste­chen­de Kenn­zei­chen die­ser Epo­che. Man will mit der gött­li­chen Majes­tät nichts mehr zu tun haben, nichts mehr mit der Ehr­furcht, die sie auto­ma­tisch ein­for­dert. Man muß in Mon­t­her­lants Thea­ter­stück Port-Roy­al blät­tern, um einen Mönch zu fin­den, der Gott noch mit »Eure Majes­tät« anspricht. Man lehrt die Gläu­bi­gen, daß Chris­tus der Sinn für das Sakra­le in sol­chem Maße fremd war, daß er wegen Blas­phe­mie ver­ur­teilt wur­de und daß es allein auf die Hei­lig­keit im Sin­ne der sanc­ti­tas ankom­me.

Doch wird man nichts­des­to­we­ni­ger ein­räu­men müs­sen, daß selbst die sanc­ti­tas Chris­ti Aus­set­zer gekannt hat – wie sonst will man erklä­ren, daß er sich aus Stri­cken eine Gei­ßel flocht und mit ihr die Händ­ler aus dem Tem­pel jag­te? Man muß sich wirk­lich auf der nied­rigs­ten Stu­fe der moder­nen Ent­ar­tung befin­den, um sich – ohne die Aus­re­de zu haben, Deut­scher oder Pro­tes­tant zu sein – einen nicht­sa­kra­len Gott vor­zu­stel­len. Der Gegen­satz zwi­schen sanc­tus und sacer geht auf eine dop­pel­te Reduk­ti­on zurück. Er redu­ziert ein­mal das Sakra­le auf die sanc­ti­tas bzw. gibt vor, es zu tun, indem er dem Sakra­len aus­weicht, und redu­ziert über­dies die sanc­ti­tas auf die Moral.

Das nun bringt, wenn über­haupt, »klei­ne Hei­li­ge« her­vor, kei­nes­wegs aber Hei­li­ge. Was Men­schen von­ein­an­der unter­schei­det, ist ja gera­de ihr Bewußt­sein des Sakra­len. Für den tra­di­tio­nel­len Men­schen ist alles sakral; das Uni­ver­sum ist ein Tem­pel. Für den moder­nen Men­schen ist alles pro­fan (pro­fa­num, vor dem Tem­pel befind­lich), anders gesagt: alles ist pro­fa­niert. Die berühm­te »Ent­zau­be­rung der Welt«, wel­che den Men­schen laut Max Weber von der tech­ni­schen Wis­sen­schaft beschert wird, ist nichts ande­res als die Pro­fa­nie­rung der Welt.

 

ALAIN DE BENOIST: Die Volks­fröm­mig­keit ist da viel brei­ter ange­legt. In Riten, die sie aus uralten Kul­ten ererbt hat, hat sie das Sakra­le am Leben erhal­ten. In ihr behaup­tet die Orthop­ra­xie die Vor­rang­stel­lung vor der Ortho­do­xie. Dies ist sogar das her­vor­ste­chen­de Merk­mal des­sen, was Sie selbst »Hei­den­chris­ten­tum« nen­nen. Mit Jean Delu­meau nei­ge ich eher zur Vor­stel­lung, daß das Chris­ten­tum nur solan­ge über­le­ben konn­te, als es ober­fläch­lich chris­tia­ni­sier­te, heid­ni­sche Riten (die »dio­ny­si­sche Ver­eh­rung«, den »ritu­el­len und zere­mo­ni­el­len Katho­li­zis­mus«) zu bewah­ren wuß­te. Wo ist heu­te das Sakra­le geblieben?

 

PATRICK BUISSON: Ein­schrän­kend möch­te ich dazu bemer­ken: Alles, was von den Hei­den auf uns gekom­men ist – die­se Beob­ach­tung stell­te übri­gens bereits René Gué­non an –, ver­dan­ken wir der Ver­mitt­lung des Chris­ten­tums, das sich die­se heid­ni­schen Ele­men­te aneignete.

Doch stim­me ich voll­kom­men mit Pater Danié­lous Aus­sa­ge über­ein, das Chris­ten­tum habe des heid­ni­schen Men­schen bedurft, damit er es ret­te, und es habe nie­mals Chris­ten im Rein­zu­stand gege­ben, son­dern nur Hei­den auf unter­schied­li­chen Bekeh­rungs­stu­fen. Als er sei­nen Kreuz­zug aus­rief, um das Chris­ten­tum von den heid­ni­schen Ele­men­ten zu säu­bern, ist der kon­zi­lia­re Kle­rus das Risi­ko ein­ge­gan­gen – so Le Roy Ladu­rie –, »alles gleich­zei­tig zu töten«.

Von die­ser War­te aus betrach­tet, ist die Bilanz ver­hee­rend. Dem­ge­gen­über schnei­den die ein­ge­setz­ten Ersatz­hei­lig­tü­mer aber auch recht mise­ra­bel ab. Heu­te gehört es zum guten Ton, bei jeder Kri­se die »Wer­te der Repu­blik« zu beschwö­ren, unbe­scha­det der Tat­sa­che, daß die­ses repu­bli­ka­ni­sche sacer schon längst auf­grund der Schwä­che sei­nes sym­bo­li­schen Appa­ra­tes geschei­tert ist. Eigent­lich hat nie jemand wirk­lich dar­an geglaubt. Erin­nern Sie sich bloß an Talley­rands Aus­spruch gegen­über Lafay­et­te, als er zum Altar hin­auf­stieg, um das Föde­ra­ti­ons­fest am 14. Juli 1790 zu zele­brie­ren: »Ich bit­te Sie, brin­gen Sie mich nicht zum Lachen.«

Para­do­xer­wei­se gibt es das repu­bli­ka­ni­sche sacer, das zum Nach­se­hen der mono­the­is­ti­schen Reli­gio­nen ein Recht auf Blas­phe­mie aner­kennt, nur dank der Repres­si­on, die der Gesetz­ge­ber gegen­über jenen Blas­phe­mi­en ein­ge­führt hat, die die Wer­te der Repu­blik ver­let­zen. Damit läßt er letz­te­ren einen Schutz ange­dei­hen, den er den ande­ren Reli­gio­nen ver­wei­gert: durch das Loi Ple­ven gegen Ansta­che­lung zu ras­si­scher Dis­kri­mi­nie­rung, Rassen­haß etc., durch das Loi Gayssot gegen Holo­caust­leug­nung, durch das Loi Tau­bi­ra über Men­schen­han­del und Skla­ve­rei, durch das Loi Raf­fa­rin gegen Homophobie.

 

ALAIN DE BENOIST: Sie haben recht: Der Mensch kann sei­nem Leben nur dann einen Sinn ver­lei­hen, wenn er das Gefühl hat, daß es da über ihm etwas gibt, das ihn erhebt und sein indi­vi­du­el­les Ich unend­lich über­steigt. Etwas, was ihm auch als Recht­fer­ti­gung dient, sein Leben hin­zu­ge­ben, soll­ten die Umstän­de dies erheischen.

Die­ses ­Etwas kann Gott sein, aber auch ein Ensem­ble von ethi­schen Regeln, von tie­fen Über­zeu­gun­gen, der Sinn für die Gemein­schaft und die Hei­mat, ein gro­ßes Gemein­schafts­pro­jekt – alles Din­ge, die heu­te zu ver­schwin­den dro­hen, weil unse­re Zeit­ge­nos­sen über­zeugt sind, daß man nur sich selbst ver­pflich­tet sei und daß nichts schlim­mer sei als der Tod. »Der homo reli­gio­sus ist in sei­ne End­pha­se ein­ge­tre­ten«, schrei­ben Sie.

Doch gibt es kei­ne Sozia­li­tät ohne Sakra­li­tät. Der Haken dabei ist, daß Vol­un­t­a­ris­mus in die­sem Bereich wenig hilft. Rous­se­aus »Zivil­re­li­gi­on«, der Kult des Höchs­ten Wesens wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on sind ver­pufft. Ähn­lich erging es den Säku­lar­re­li­gio­nen, die wäh­rend der letz­ten zwei Jahr­hun­der­te so vie­le enthu­si­as­ti­sche Bewe­gun­gen her­vor­ge­bracht haben. Was mich betrifft, so bin ich wie Mar­cel Gau­chet der Über­zeu­gung, daß das Chris­ten­tum wahr­haf­tig die »Reli­gi­on des Aus­gangs aus aller Reli­gi­on« war. Was sol­len wir also tun?

 

PATRICK BUISSON: Die Pan­de­mie kam gera­de recht­zei­tig, um uns durch die Panik, die sich der fran­zö­si­schen Gesell­schaft bemäch­tigt hat, dar­an zu erin­nern, daß das unun­ter­drück­ba­re Bedürf­nis der Men­schen weder die Ein­for­de­rung der Gerech­tig­keit noch die Ein­for­de­rung der Ord­nung ist, son­dern die Ein­for­de­rung von Bedeu­tung. Sie wol­len, daß man ihnen Hoff­nung oder Uto­pie gibt, Grün­de, um zu leben, und, was weit schwie­ri­ger ist, Grün­de, um zu sterben.

Die Zer­stö­rung des Reli­giö­sen – man konn­te es an der explo­si­ons­ar­ti­gen Zunah­me der depres­si­ven Patho­lo­gien able­sen – bringt sozia­les Elend her­vor. Die Psy­cho­lo­gen haben die Beicht­vä­ter ersetzt, doch ist dies kein Null­sum­men­spiel für die öffent­li­chen Aus­ga­ben, wenn man auf die 65 Mil­lio­nen Schach­teln Psy­cho­phar­ma­ka schaut, die man in Frank­reich jähr­lich ver­braucht. Die Fra­ge ist nicht, ob Reli­gi­on, wie Marx sag­te, Opi­um des Vol­kes sei, son­dern viel­mehr, wel­che Qua­li­tät das Opi­um hat, das man dem Volk ver­ab­rei­chen kann? Wel­ches kol­lek­ti­ve Sakra­le, wel­ches sub­stan­ti­el­le Gemein­sa­me kann man noch den Fran­zo­sen anbie­ten, damit sie sich wie­der zu einer Gemein­schaft zusammenschließen?

Bei den Säku­lar­re­li­gio­nen, von denen Sie spra­chen, fällt mir auf, daß sie kaum mehr als eine oder zwei Gene­ra­tio­nen in ihren Bann zu schla­gen ver­moch­ten. Zwi­schen »Tran­saszen­denz« und »Trans­deszen­denz« unter­schei­dend, hat Jean Wahl gezeigt, daß Über­schrei­tung allein nicht genügt. Aus­schlag­ge­bend ist, ob die Über­schrei­tung nach oben oder nach unten erfolgt.

Die moder­nen Reli­gio­nen waren Trans­deszen­den­zen, die nichts grün­de­ten, nichts über­lie­fer­ten. Die Kir­che allein ver­moch­te es über lan­ge Zeit hin­weg, die desa­kra­li­sie­ren­de Moder­ne und den Indi­vi­dua­lis­mus in Schach zu hal­ten, weil sie Lehr­meis­te­rin und gleich­zei­tig Hüte­rin der von Simo­ne Weil meta­xu genann­ten »Ver­mitt­lun­gen« war, die­ser For­men, die die Bil­dung der Men­schen und die Über­lie­fe­rung des­sen, was über­lie­fert wer­den muß­te, um zu Gott zu gelan­gen, ver­bürg­ten. Und dann kam der gro­ße Zusam­men­bruch der 1960er Jahre …

 

ALAIN DE BENOIST: In meh­re­ren Inter­views haben Sie ver­kün­det, mehr Respekt für einen Mos­lem zu emp­fin­den, der fünf­mal am Tag sei­ne Gebe­te ver­rich­tet, als für einen Bobo auf sei­nem Rol­ler. Abge­se­hen von die­ser For­mu­lie­rung behaup­ten Sie auch, daß das Haupt­pro­blem nicht der Islam an sich sei, son­dern die Immi­gra­ti­on (was Sie ein­deu­tig von einem Éric Zemm­our unter­schei­det). Wer nicht fähig ist zu glau­ben, fin­det den Glau­ben der ande­ren unver­ständ­lich. Könn­ten Sie die­sen Gedan­ken, der in Ihrem Buch nicht auf­taucht, näher erläutern?

 

PATRICK BUISSON: Beim Kreuz­zug der Neo­kon­ser­va­ti­ven von einem Kampf der Kul­tu­ren zu spre­chen ist Betrug. Was wir hier angeb­lich ver­tei­di­gen sol­len, ist nicht die tra­di­tio­nel­le Kul­tur des Abend­lan­des, es ist eine Unkul­tur, die wir meis­tens nicht als das erken­nen, was sie ist, und auch nicht beim Namen nen­nen, den sie ver­dient. Was kön­nen wir schon dem isla­mis­ti­schen Feind ent­ge­gen­set­zen außer der Obs­zö­ni­tät des Mark­tes, dem Recht auf Blas­phe­mie und der Gender­ideologie? Der Teil an Sakra­li­tät, den der neue Islam in Frank­reich noch ent­hält – ein ent­wur­zel­ter Islam für Ent­wur­zel­te –, ist uns gänz­lich fremd gewor­den. Im Abscheu vor dem Islam kommt teil­wei­se eine hef­ti­ge Ableh­nung jener Tugen­den zum Aus­druck, als deren Bewah­rer er sich sieht und die wir unter­wegs ver­lo­ren haben: Selbst­lo­sig­keit, Opfer­be­reit­schaft, Gemeinschaftssinn.

Eine Kul­tur besteht aber nur dank ihrer Mär­ty­rer, dank derer, die bereit sind, sich für sie, wenn’s sein muß, zu opfern. Um dies zu ver­ste­hen, reicht es, wie­der sei­nen Sene­ca zu lesen: »Wer sein eige­nes Leben ver­ach­tet, beherrscht dei­nes.« Bin ­Laden sag­te nichts ande­res, als er ver­kün­de­te: »Wir wer­den das Abend­land besie­gen, denn wir lie­ben den Tod genau­so, wie ihr das Leben liebt.« Wer hier düs­te­re Pro­phe­zei­un­gen an die Wand malt und Bür­ger­kriegs­sze­na­ri­en her­auf­be­schwört, ist igno­rant und unver­ant­wort­lich. Wer woll­te denn schon für eine Regen­bo­gen­fah­ne sterben?

 

ALAIN DE BENOIST: Ihr Werk trägt zu Recht den Titel Das Ende einer Welt. Doch ist das Ende einer Welt nicht das Ende der Welt. Wenn eine Welt zu Ende geht, liegt eine neue in den Geburts­we­hen. Wie wer­den Ihrer Mei­nung nach deren Umris­se aus­se­hen? Wer deren Prot­ago­nis­ten sein? Der ein­ge­logg­te, digi­ta­li­sier­te, über­wach­te, durch die Tech­nik »ver­mehr­te« Mensch? Ein Neomatriar­chat? Oder etwas ande­res? Wel­che kon­kre­ten Mög­lich­kei­ten einer Renais­sance gibt es?

 

PATRICK BUISSON: Die Fra­ge, die sich hier stellt, ist letz­ten Endes eine anthro­po­lo­gi­sche: Als ­Ber­na­nos kurz vor sei­nem Tod 1948 sag­te, es sei nicht so sehr der Staat als viel­mehr die Gesell­schaft, die sich auf­lö­se, und daß man, um Frank­reich wie­der­her­zu­stel­len, die Fran­zo­sen wie­der­her­stel­len müs­se, sah er rich­tig, daß die Poli­tik nur das Instru­ment einer illu­so­ri­schen Neu­errich­tung ist.

In die­ser Hin­sicht hat de Gaul­le Frank­reich sei­nen Mar­ti­ni-Som­mer beschert. Der von der Tech­nik zer­leg­te Mensch, durch ihre Pro­the­sen »ver­mehrt« und unfä­hig, ohne die­se zu leben, ein ein­fa­ches Anhäng­sel sei­ner Maschi­nen – die­ser Mensch kann mit dem Sakra­len nichts mehr anfan­gen und dadurch auch nichts mit einer Gesell­schaft, egal wel­cher Art, wenn sich Gesell­schaft durch das Sakra­le defi­niert, das ihr Bestand ver­leiht – sei es nun ein reli­giö­ses oder tra­di­tio­nel­les Sakra­les oder, in gerin­ge­rem Maße, ein Ersatz­sakrales oder, genau­er, eines der Über­tra­gung wie Hei­mat oder Kultur.

Das ein­zi­ge was man ver­nünf­ti­ger­wei­se fest­stel­len kann, ist, daß heu­te die Bedin­gun­gen des mensch­li­chen Lebens selbst unter­gra­ben wer­den von der Unter­wer­fung unter die Bild­schir­me, von der unauf­hör­li­chen Gehirn­wä­sche durch die »Musik«, die sich die Jugend antut, kurz: von all dem, was unse­re Fähig­kei­ten angreift, selbst die der Auf­merk­sam­keit und der Kon­zen­tra­ti­on, ohne die aber kein Gedan­ke, geschwei­ge denn Kon­tem­pla­ti­on mög­lich ist.

Das ein­zi­ge was man vor­brin­gen kann, ist, daß nichts von all dem, was man uns ver­spricht oder ankün­digt, und deren ers­te Früch­te wir sehen, Zukunft hat. Und dann? Mal­raux setz­te auf die »Unvor­her­seh­bar­keit der Renais­san­cen«, Jün­ger auf das Unwäg­ba­re der Epi­pha­ni­en, und Bos­suet, der kein Anhän­ger der Can­cel Cul­tu­re war, erin­ner­te dar­an, daß »Gott, immer wenn er aus­löscht, schrei­ben will«.

 

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