Wissenschaftsautismus – Expertengläubigkeit

Ein Gespräch mit Marc Krecher

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Sezes­si­on: Sehr geehr­ter Herr Dr. Kre­cher, Sie sind nicht nur Geo­lo­ge, son­dern haben auch einen Mas­ter of Sci­ence in Ener­gie­ma­nage­ment. Aus die­sem dop­pel­ten Blick­win­kel her­aus haben Sie nun ein Buch mit dem Titel Vom Kli­ma­wan­del zu Coro­na ver­öf­fent­licht. Was hat die Geo­lo­gie zum Kli­ma­wan­del zu sagen?

 

Marc Kre­cher: Vor allem, daß er sich extrem zyklisch ver­hält und sehr stark von der Plat­ten­tek­to­nik und vom sola­ren Ein­fluß auf die Erde abhän­gig ist. Je kür­zer die Betrach­tungs­zeit­räu­me wer­den, um so mehr tre­ten ozea­ni­sche, meteo­ro­lo­gi­sche, gra­vi­ta­ti­ve und ande­re Effek­te hin­zu. Die Son­ne im Zusam­men­spiel mit dem Ein­fluß der kos­mi­schen Strah­lung ist dabei immer ein Fak­tor auf den unter­schied­li­chen zeit­li­chen und phy­si­ka­li­schen Ebenen.

Obwohl vie­le Geo­lo­gen das Dog­ma vom men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­del über­nom­men haben, rela­ti­vie­ren doch etli­che die Aus­sa­gen der Kli­ma­for­scher. In der Geo­lo­gie arbei­ten die Wis­sen­schaft­ler mit einem ganz ande­ren Zeit­ge­fühl. In den unfaß­bar lan­gen Zeit­räu­men gesche­hen Din­ge qua­si regel­mä­ßig, die im Zeit­raum eini­ger Gene­ra­tio­nen unvor­stell­bar sind. Das bringt eine gewis­se Gelas­sen­heit mit sich, die es erlaubt, die Aus­sa­gen von Kli­ma­wis­sen­schaft­lern in aller Ruhe zu ana­ly­sie­ren, anstatt im Panik­mo­dus der Mas­se mitzuschwingen.

Ein Bei­spiel: Wenn Poli­ti­ker und Kli­ma­wis­sen­schaft­ler behaup­ten, die Inseln wür­den unter­ge­hen, weil der Mee­res­spie­gel steigt, dann sage ich als Sedi­ment­geo­lo­ge, daß das nicht gesche­hen wird. Denn der Meeres­spiegel ist nur eine Kom­po­nen­te der Küsten­dynamik, und die ist seit dem mitt­le­ren Holo­zän nicht mehr domi­nant. In Wahr­heit basie­ren die Aus­sa­gen auf nume­ri­schen Sys­temsi­mu­la­tio­nen, die den Glo­bus im schmel­zen­den Eis ver­sin­ken las­sen, weil der CO2-Gehalt der Atmo­sphä­re ste­tig steigt und angeb­lich für die Wär­me ver­ant­wort­lich sei.

Ich nen­ne das in mei­nem Buch einen »Wis­sen­schafts­autis­mus«: Gene­ra­tio­nen von Wis­sen­schaft­lern sit­zen in der Fal­le eines ein­fa­chen und zugleich poli­ti­schen Para­me­ters, wäh­rend die wah­ren Pro­zes­se viel zu kom­plex sind, um so einen Kon­sens zu gene­rie­ren. Immer wenn es die Mög­lich­keit gibt, geo­lo­gi­sche Vor­gän­ge und Daten im zeit­li­chen Detail zu unter­su­chen, zeigt sich, daß nicht das CO2 der Haupt­ver­ant­wort­li­che ist, son­dern meis­tens der sola­re Ein­fluß. Letz­te­rer wird ent­we­der durch gra­vi­ta­tiv-pla­ne­ta­ri­sche Pro­zes­se gesteu­ert oder aber durch die inter­nen sola­ren Pro­zes­se selbst. CO2 steu­ert auch, vor allem das Bio­mas­se­wachs­tum. Auch das hat wie­der Fol­gen für Kli­ma und Leben.

 

Sezes­si­on: Wie ist das Dog­ma des men­schen­ge­mach­ten Kli­ma­wan­dels entstanden?

 

Marc Kre­cher: Die­se Geschich­te ist wirk­lich span­nend: Ihre Ursprün­ge rei­chen Jahr­hun­der­te zurück, in eine Zeit, als die For­scher noch dach­ten, alles set­ze sich aus Stof­fen zusam­men. Für die Ver­bren­nung und die Wär­me­wir­kung war lan­ge das Phlo­gis­ton ver­ant­wort­lich: ein mys­te­riö­ser Stoff. Als die The­se unter­ging, such­ten sie den nächs­ten Stoff: CO2. Mit der zuneh­men­den Bevöl­ke­rung, vor allem in den Indus­tria­li­sie­rungs­zo­nen, kam zugleich die Angst vor Über­völ­ke­rung und Nah­rungs­knapp­heit auf. Der Schwe­de Svan­te Arrhe­ni­us ver­band bei­de Pro­ble­me: CO2-Zunah­me und Über­völ­ke­rung – aller­dings im Posi­ti­ven. Denn mit dem CO2 konn­te der Nah­rungs­knapp­heit durch das Bio­mas­se­wachs­tum ent­ge­gen­ge­wirkt werden.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wur­den Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und Umwelt­zer­stö­rung gekop­pelt. Der Mensch wur­de zuneh­mend gar als Krebs­zel­le gese­hen, die das Bio­sphä­ren­ge­we­be der Erde durch tumor­ar­ti­ges Wachs­tum gefähr­de. Der glo­ba­le Tem­pe­ra­tur­an­stieg, der die Erde aus der bit­ter­kal­ten Epi­so­de der klei­nen Eis­zeit her­aus­hol­te, wur­de als Fie­ber beschrie­ben, wel­ches die Erde als Lebe­we­sen, als Super-Öko­sys­tem, bedroht. All dies über­setz­te sich in poli­ti­sche Maß­nah­men und For­de­run­gen, die nach und nach den anthro­po­ge­nen Kli­ma­wan­del zum Dog­ma ver­dich­te­ten. Von der gleich­zei­tig mas­siv stei­gen­den Son­nen­ak­ti­vi­tät, die bis 2010 auf höchs­tem Niveau anhielt und als die längs­te Akti­vi­täts­pe­ri­ode seit min­des­tens 8000 Jah­ren gilt, wur­de und wird nicht gesprochen.

Es ist ver­rückt: Die Aus­sa­ge, daß nur das mensch­li­che CO2 schuld am Kli­ma­wan­del hat, sagt ja zugleich, daß die Son­ne über­haupt kei­ne Bedeu­tung für das Kli­ma hat. Wie selbst­ent­lar­vend ist das eigent­lich? Und heu­te? Heu­te wer­den Über­völ­ke­rung und Pan­de­mien gekop­pelt. Der Mensch ver­seucht qua­si die Erde. Er sei sel­ber wie ein Virus – aber das Fie­ber steigt bei wei­tem nicht so wie ursprüng­lich berechnet.

 

Sezes­si­on: Was ver­ste­hen wir unter Kli­ma im Unter­schied zum Wet­ter, wenn Sie schrei­ben, »das heu­ti­ge Kli­ma ist das weit­ge­hend nor­ma­le Kli­ma der letz­ten 2000 Jahre«?

 

Marc Kre­cher: Je wei­ter wir zurück­schau­en, des­to grö­ber wird das Besteck, mit dem sich ein ver­gan­ge­nes »Wet­ter« bestim­men lie­ße. Wir rut­schen dann auto­ma­tisch ins »Kli­ma« hin­ein, eine sta­tis­ti­sche Grö­ße, die eine Art durch­schnitt­li­ches Wet­ter mit bestimm­ten Eigen­schaf­ten defi­niert. Die Meteo­ro­lo­gie hat den Zeit­raum die­ser Grö­ße auf 30 Jah­re bestimmt. Aber um auch nur ein paar Jahr­zehn­te für die Zeit vor 1000 und mehr Jah­ren zu ana­ly­sie­ren, bedarf es sehr guter Daten. Es gibt die­se Daten, aller­dings sel­ten in der nöti­gen Dich­te. In ihrer Genau­ig­keit sind die Ergeb­nis­se daher sicher nicht mit ein paar Jah­ren im 21. Jahr­hun­dert zu vergleichen.

Im ark­ti­schen Raum wur­den Daten gesam­melt, die Aus­sa­gen zum Kli­ma der letz­ten 2000 Jah­re zulas­sen. Er ist zugleich der Raum, in dem Son­nen­ak­ti­vi­tät und Kli­ma­wan­del am stärks­ten wir­ken. Und dabei zeigt sich sehr deut­lich, daß das his­to­ri­sche, über­wie­gend natür­lich-war­me Niveau dem heu­ti­gen viel näher kommt als der Käl­te der klei­nen Eiszeit.

Ins­be­son­de­re in der römi­schen Kai­ser­zeit und zum Mit­tel­al­ter hin gab es offen­bar immer wie­der sprung­haf­te Anstie­ge der Tem­pe­ra­tur im ark­ti­schen Raum, die auch das heu­ti­ge Niveau erreich­ten, vor allem wenn die Feh­ler­gren­zen berück­sich­tigt wer­den. Die klei­ne Eis­zeit hin­ge­gen zeigt sich als pha­sen­wei­se, außer­ge­wöhn­lich tie­fe Tem­pe­ra­tur­de­pres­sio­nen, die über meh­re­re Jahr­hun­der­te zwi­schen ca. 1250 und 1850 auf­ge­tre­ten sind. Die­se Pha­sen kor­re­lie­ren mit der nied­rigs­ten sola­ren Modu­la­ti­on kos­mi­scher Strah­len im Holo­zän. Da sind wir heu­te lan­ge schon wie­der raus – zum Glück.

 

Sezes­si­on: Vor die­sem Hin­ter­grund könn­te man die kli­ma­po­li­ti­schen Maß­nah­men auch als Klima­hysterie beschrei­ben, und damit haben sie Anteil an dem, was wir unter dem Begriff »Angst­po­li­tik« zusam­men­fas­sen. Wald­ster­ben und Atom waren die Ängs­te der 1970er und 1980er Jah­re. Heu­te sind es Kli­ma und Coro­na. Ihr Buch beschäf­tigt sich unter ande­rem mit dem Zusam­men­hang zwi­schen die­sen bei­den gro­ßen Pani­ker­zäh­lun­gen unse­rer Tage.

 

Marc Kre­cher: Es läßt sich beob­ach­ten, daß Bür­ger einer­seits gegen die Grund­rechts­ein­schrän­kun­gen auf die Stra­ße gehen und dafür als Coro­na­leug­ner dif­fa­miert wer­den, zugleich die­se selbst wei­ter­hin fest an den ­anthro­po­ge­nen Klima­wandel glau­ben und sodann die Kri­ti­ker auch wie­der als Kli­ma­leug­ner bezeich­nen. Dabei zeigt schon das gan­ze Sys­tem der Her­ab­wür­di­gun­gen, daß wir es hier mit ver­wand­ten poli­ti­schen The­men zu tun haben.

Es gibt ein­deu­ti­ge und wie­der­keh­ren­de gesell­schaft­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mus­ter, wenn man die Phä­no­me­ne »Gro­ßes Wald­ster­ben«, »Kli­ma­wan­del« und »Coro­na« mit­ein­an­der ver­gleicht. Beim Gro­ßen Wald­ster­ben der 1970er und 1980er Jah­re wur­de vom »öko­lo­gi­schen Holo­caust« gespro­chen. Wer das öko­lo­gisch in Abre­de gestellt hät­te, wäre sprach­lich ver­dammt nahe am Holo­caust­leug­ner gewe­sen. Das hat man damals lie­ber sein gelassen.

»Kli­ma­leug­ner« ist mitt­ler­wei­le ein fest eta­blier­ter Begriff der deut­schen Spra­che gewor­den. Und nun kommt »Coro­na­leug­ner« hin­zu. Mit dem Begriff Leug­ner wird ja dem Kri­ti­ker nicht die Kri­tik vor­ge­wor­fen, son­dern eine Lüge unter­stellt. Und gegen die­se Lüge wird eine Auto­ri­tät auf­ge­bo­ten, die als »die« Wis­sen­schaft benannt wird.

Soll hei­ßen: Wir wis­sen genug, »sci­ence is sett­led«, da gibt es nichts mehr zu kri­ti­sie­ren. Wir ken­nen das auch aus dem Mit­tel­al­ter: »Extra eccle­si­am nulla salus!« wur­de damals dem Ket­zer geant­wor­tet. Und wie bereits vor Hun­der­ten von Jah­ren spielt die Schuld des Men­schen in allen drei The­men­kom­ple­xen erneut eine gro­ße Rol­le: Die Extra­va­ganz des ein­zel­nen und der »Undis­zi­pli­nier­ten« ist ja schon immer ein Dorn im Auge der Macht gewesen.

Ein ande­res Mus­ter ist die Exper­ten­gläu­big­keit. Es ist ja fast schon belus­ti­gend, wie aus ein paar weni­gen media­len Exper­ten immer gleich »die« Wis­sen­schaft gemacht wird. Von Herrn Dros­ten wur­de lan­ge Zeit in der Mehr­zahl gespro­chen. Beim Gro­ßen Wald­ster­ben gab es damals auch einen Dros­ten: der hieß ­Bern­hard ­Ulrich. Und für den Kli­ma­wan­del ist Herr Schellnhu­ber der Fachmann.

Stets wur­de und wird mit Apo­ka­lyp­se gedroht: Nur die sofor­ti­ge Umkehr kön­ne sie abwen­den, »denn stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch«. Selbst­ver­bren­nung, abbrem­sen­der Golf­strom, Mil­lio­nen von Coro­na­to­ten – epi­de­mio­lo­gi­sche »Kern­schmel­ze« ist das Wort für das Schre­ckens­sze­na­rio unse­rer Tage, es steht so im Doku­ment des Innen­mi­nis­te­ri­ums. Vor 40 Jah­ren war es der »plötz­li­che Wald­tod«, der schlei­chend daher­kam. Par­al­le­len zum plötz­li­chen Kinds­tod waren rein zufäl­lig. Der Tod kam übri­gens nie.

Alle drei gro­ßen Zeit­phä­no­me­ne soll­ten und sol­len ihre Grund­la­ge außer­dem in der »expo­nen­ti­el­len« Ver­meh­rung des Men­schen haben. Der sei wie ein Tumor, der das Bio­ge­we­be zer­stö­re – sol­che mis­an­thro­pen Phra­sen fin­den sich zuhauf in der wis­sen­schaft­li­chen Lite­ra­tur. Und so erklärt sich ein ande­res gemein­sa­mes Mus­ter, in dem Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen mit Varia­blen, Sze­na­ri­en und Mas­ter­glei­chun­gen immer wie­der expo­nen­ti­el­le Gefah­ren­ver­läu­fe pro­du­zie­ren und damit den Men­schen vor sich selbst erschre­cken lassen.

Es war der Club of Rome, der damals in den 1970ern über Sys­temsi­mu­la­tio­nen zum ersten­mal öffent­lich die Angst vor der Umwelt­zer­stö­rung durch den Men­schen ver­brei­tet hat. Aber geht es wirk­lich um den Men­schen? Ging und geht es nicht jedes­mal viel­mehr um die­je­ni­gen, wel­che die Frei­heit des Indi­vi­du­ums her­vor­he­ben, anstatt sich dem Kol­lek­tiv eines holis­ti­schen Welt­bil­des zu unterwerfen?

 

Sezes­si­on: Aber war und ist an den Gefah­ren­la­gen nicht doch etwas real? Ist die schie­re Mas­se Mensch nicht doch der gro­ße Aus­lau­ger, der Ver­nut­zer, sozu­sa­gen der über­füll­te Stall? Las­sen sich Gefah­ren nicht doch ganz kon­kret mes­sen, mit empi­ri­scher Evi­denz bele­gen und zudem eige­nen Auges beobachten?

 

Marc Kre­cher: In mei­nem Buch gehe ich ja detail­liert auf die­se Fra­ge ein. Es gibt zu vie­le Bei­spie­le gera­de der empi­ri­schen Evi­denz, die zei­gen, daß die­ses Bild so nicht rich­tig sein kann. Ich glau­be auch: Wenn dem so wäre, dann müß­te »die« Wis­sen­schaft nicht stän­dig ­expo­nen­ti­ell ver­lau­fen­de Gefah­ren vor­aus­be­rech­nen. Der Mensch wür­de sel­ber die nöti­gen Schrit­te ein­lei­ten, ganz ohne sich jeden Abend einen Lauter­bach hin­ter die Bin­de zu kippen.

Viel­mehr las­sen wir uns von Sys­temsi­mu­la­tio­nen und Hor­ror­bil­dern trei­ben, um sodann das Vor­sor­ge­prin­zip zu bemü­hen. Vor­sor­ge vor dem, was angeb­lich kommt. Nicht aber vor dem, was schon da ist, denn das läßt sich meis­tens gar nicht bele­gen. Das ist poli­ti­sche Macht­aus­übung in sei­ner per­fi­des­ten Form: näm­lich durch die Ver­brei­tung von Angst.

 

Sezes­si­on: In den lan­gen Zeit­räu­men, in denen der Mensch­heit kei­ne fos­si­len Brenn­stof­fe zur Ver­fü­gung stan­den, waren die Gesell­schafts­struk­tu­ren ver­hält­nis­mä­ßig sta­bil, was den Umwelt­his­to­ri­ker Rolf Peter Sie­fer­le zu der Ver­mu­tung ver­an­laß­te, »daß auf der Basis des Gebrauchs fos­si­ler Ener­gie­trä­ger prin­zi­pi­ell kei­ne Wirt­schafts- und Gesell­schafts­struk­tur mög­lich ist, die sich län­ger­fris­tig sta­tio­när repro­du­zie­ren lie­ße.« Mit ande­ren Wor­ten: Was ist schlecht am Vor­sor­ge­prin­zip, ohne das es der Mensch doch nie geschafft hät­te, seß­haft zu werden?

 

Marc Kre­cher: Wie oft muß­ten gan­ze Völ­ker­schaf­ten allei­ne im Mit­tel­al­ter auf Wan­de­rung gehen, auch ohne fos­si­le Brenn­stof­fe? Die his­to­ri­sche Grund­la­ge der Aus­sa­ge von Rolf Peter ­Sie­fer­le müß­te man sich daher viel­leicht noch mal genau­er anschau­en. Zumal in vor­in­dus­tri­el­len Zei­ten maxi­mal nur ein Ach­tel der heu­ti­gen Bevöl­ke­rung­zahl auf dem Pla­ne­ten gelebt hat. Und dafür, daß der Mensch sich so ver­meh­ren konn­te, scheint der stö­ren­de Ein­fluß auf die Repro­duk­ti­on nicht sehr groß gewe­sen zu sein.

Län­ger­fris­tig sta­tio­när waren auch die ganz frü­hen Gesell­schaf­ten nicht wirk­lich, wenn ich dar­an den­ke, daß die­se klei­nen Stäm­me regel­mä­ßig nach gut 30 Jah­ren ihre Wald­sied­lung auf­ge­ben muß­ten, um neu­en Wald zu fin­den – der Wett­be­werb um die bes­ten Plät­ze lief ver­mut­lich nicht immer fried­lich ab. Am Ende des Mit­tel­al­ters, bis zum Vor­abend der Indus­tria­li­sie­rung, war der Wald jeden­falls kahl­ge­schla­gen: das wirk­lich gro­ße Waldsterben!

Dank Koh­le, Zement und Stahl konn­te bei uns der Wald auf brei­ter Flur wie­der wach­sen – auch irgend­wie eine Form der Vor­sor­ge. Und zwar durch Ent­wick­lung und Fort­schritt. Es ist ja nicht das Vorsorge-»Prinzip«, was hier stört, es ist die Gefahr der will­kür­li­chen Macht­aus­übung durch eine domi­nan­te Logik, die den Men­schen zur Krebs­zel­le sti­li­siert. Und die­se Logik nutzt eine wenig durch­schau­ba­re Sys­tem­dy­na­mik, aus der her­aus düs­te­re Zukunfts­sze­na­ri­en einer poli­ti­schen Via­bi­li­tät die­nen, die das Indi­vi­du­um einer Art Schutz­kol­lek­tiv unterwirft.

 

Sezes­si­on: Kom­men wir zurück zu Coro­na und zu der Fra­ge, ob es neben den Gemein­sam­kei­ten nicht auch Unter­schie­de zwi­schen Coro­na und den Hys­te­rien der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te gibt. Denn immer­hin schei­nen sowohl die Angst vor dem Wald­ster­ben als auch die vor dem Atom­tod die Gesell­schaft nicht in den Grund­fes­ten erschüt­tert zu haben.

 

Marc Kre­cher: Die Hys­te­rie­kur­ve ist ja mit der Zeit lang­sam und in Stu­fen ange­stie­gen, erst heu­te zeigt sie einen stei­len Ver­lauf. Coro­na besitzt daher in der Tat eine Beson­der­heit. Die Kri­se zer­stört für alle ver­nehm­bar fun­da­men­ta­le Struk­tu­ren: näm­lich die tra­gen­den und seit Jahr­zehn­ten eta­blier­ten Rechts­struk­tu­ren einer frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Gesell­schaft. Mit dem Infek­ti­ons­schutz­ge­setz ist das Grund­ge­setz jetzt schon »grund­los« geworden.

Coro­na ist gera­de dabei, Wirt­schafts­struk­tu­ren, Kom­mu­ni­ka­ti­ons­struk­tu­ren, Finanz­struk­tu­ren und man­ches mehr an den Rand des Cha­os zu brin­gen. Denn nur von dort läßt sich ein gestan­de­nes Sys­tem trans­for­mie­ren. Aber Coro­na hat das nicht begon­nen oder aus­ge­löst. Es ist viel­mehr das Dog­ma des anthro­po­ge­nen Kli­ma­wan­dels, wel­ches in Deutsch­land seit 2011 die Grund­la­ge für die »Gro­ße Trans­for­ma­ti­on« ist, von der man­che immer noch glau­ben mögen, daß es sich nur um eine Ener­gie­trans­for­ma­ti­on han­delt. Das wäre aber lei­der sehr naiv. Mit Coro­na ist Euro­pa dabei, die­se öko­so­zia­lis­ti­sche Trans­for­ma­ti­on von einer glei­ten­den und zuwei­len dis­rup­ti­ven Pha­se in eine destruk­ti­ve Pha­se hin­über­zu­lei­ten, in der Platz gemacht wird für den auto­ri­tä­ren Staat, nicht sel­ten ver­harm­lo­send als »par­ti­zi­pa­ti­ve Demo­kra­tie« bezeich­net. Frau Mer­kel selbst hat­te im Janu­ar 2020 mit ihrer Rede in Davos den Weg vor­ge­ge­ben. Das Virus mag zufäl­lig daher­ge­kom­men sein, aber sei­ne Beför­de­rung zum angeb­li­chen Kil­ler ist vor dem Hin­ter­grund der Gro­ßen Trans­for­ma­ti­on kein Zufall.

 

Sezes­si­on: In Ihrem Buch posi­tio­nie­ren Sie sich, auch unter Bezug­nah­me auf Hay­ek, recht ein­deu­tig gegen den Kon­ser­va­tis­mus, der die Gemein­schaft gegen­über dem Indi­vi­du­um zu sehr beto­ne und der mensch­li­chen Krea­ti­vi­tät miß­traue. Was ver­ste­hen Sie unter Frei­heit, gibt es Gren­zen, die der Mensch aner­ken­nen muß?

 

Marc Kre­cher: Um dabei auf Sie­fer­le zurück­zu­kom­men: Ich per­sön­lich sehe in der Frei­heit des Indi­vi­du­ums den ein­zi­gen Weg ech­ter Sta­bi­li­tät. Das ist aber nicht eine Frei­heit, die sich aus der Unter­wer­fung unter die sitt­li­che Gesamt­kör­per­schaft und deren volon­té géné­ra­le ergibt. Es ist viel­mehr – und hier bin ich sehr von Hen­ri Berg­son beein­flußt – die schöp­fe­ri­sche Frei­heit des Men­schen, die des­sen Ganz­heit in die des Staa­tes inklu­diert. Die Pro­duk­te sei­ner Intel­li­genz sind dar­in Teil die­ser par­ti­ku­la­ren Ganz­heit, aus der sich viel mehr als nur Pro­duk­te und Eigen­tum erge­ben. Berg­son sprach von der »Spit­ze der gesam­ten Per­sön­lich­keit«, die sich in die Zukunft ein­bohrt und die­se ohne Unter­laß eröff­net. Dar­in bestehe das freie Leben und Han­deln. Kon­ser­va­tis­mus und Sozia­lis­mus füh­ren den Men­schen hin­ge­gen an der Lei­ne und erschaf­fen zusam­men mit einer ent­grenz­ten Sys­tem­dy­na­mik erneut eine posi­ti­ve Wis­sen­schaft im Sin­ne einer mecha­nis­ti­schen Kon­zep­ti­on, ein Fich­te­sches Uhr­werk als Staat.

Die Gren­zen der schöp­fe­ri­schen Frei­heit erge­ben sich aus dem Respekt vor dem Nächs­ten. Der Staat und sein ter­ri­to­ria­les Rechts­sys­tem haben die Auf­ga­be, die­sen Respekt zu sichern, gleich­zei­tig alles dafür zu tun, Frei­heit und Fort­schritt zu ermög­li­chen. Und zwar im Hier und Jetzt. Die Defi­ni­ti­on von »Respekt« wird hin­ge­gen immer ein Dilem­ma unab­hän­gig von der Staats­form blei­ben. Es ist qua­si eine dau­er­haf­te Auf­ga­be der Gesell­schaf­ten, die­ses Dilem­ma in Frie­den und Frei­heit zu lösen.

 

Sezes­si­on: Sie bli­cken opti­mis­tisch in die Zukunft. Die pes­si­mis­ti­schen Vor­her­sa­gen sei­en nicht ein­ge­trof­fen, der Mensch­heit gehe es bes­ser als jemals zuvor. Ist das nicht eine etwas ein­sei­ti­ge Bewer­tung, die nur unter dem Maß­stab einer völ­lig von den nicht­ma­te­ri­el­len Lebens­be­din­gun­gen abse­hen­den Betrach­tungs­wei­se aufgeht?

 

Marc Kre­cher: Nein, gera­de nicht. Denn die Ent­wick­lung seit der Indus­tria­li­sie­rung hat ja nicht nur mate­ri­el­len Wohl­stand für immer mehr Men­schen geschaf­fen. Sie hat auch die Mög­lich­kei­ten für die nicht­ma­te­ri­el­len Lebens­be­dürf­nis­se ver­grö­ßert. Der Zugang zu Wis­sen, zu Kom­mu­ni­ka­ti­on, zu indi­vi­du­el­ler Selbst­ent­fal­tung und zum Abbau sozia­ler Schran­ken, genau­so wie zu Hygie­ne, zu Medi­zin und zu bes­se­ren Nah­rungs­mit­teln und ande­rem. Über­all auf der Welt haben sich die Län­der auf den Weg gemacht. Afri­ka hinkt hin­ter­her, ist aber auch auf dem Sprung zu einer bes­se­ren Welt.

Nicht daß ich vor den immer noch aus­rei­chend gro­ßen Pro­ble­men die Augen ver­schlie­ßen will. Aber ich bin der Ansicht, daß vie­le Pro­ble­me gera­de in der Unfrei­heit kon­ser­va­ti­ver und kol­lek­ti­ver Struk­tu­ren mit­be­grün­det sind. Genau­so aber auch in der poli­ti­schen Ver­hin­de­rung schöp­fe­ri­scher Frei­heit selbst in hoch­ent­wi­ckel­ten Staa­ten. Für ers­te­res steht in mei­nen Augen der Islam, der es seit nun­mehr 700 Jah­ren nicht geschafft hat, sich phi­lo­so­phisch wie­der auf die Grund­la­ge offe­ner Gesell­schaf­ten zu stel­len. Vor dem 13. Jahr­hun­dert war das, rela­tiv betrach­tet, durch­aus der Fall.

Vie­le Pro­ble­me des Nahen Ostens und sons­ti­ger isla­mi­scher Län­der haben ihren tie­fen Grund im tra­di­tio­na­lis­ti­schen Prin­zip. Alte his­to­ri­sche Ereig­nis­se wie die Fit­na bestim­men noch heu­te die mör­de­ri­schen Ver­hält­nis­se zwi­schen Schii­ten und Sun­ni­ten. Das schafft glo­ba­le Pro­ble­me, zum Bei­spiel durch Migra­ti­on und natür­lich durch Krieg.

Aber auch bei uns wer­den Frei­heit und ech­ter Fort­schritt zuneh­mend ein­ge­schränkt oder behin­dert. Zum Bei­spiel dadurch, daß das breit­ge­fä­cher­te Wis­sen durch unzu­läng­li­che Medi­en­struk­tu­ren bei der Mas­se auf der Stre­cke bleibt, wenn sich Regie­run­gen nur noch auf apo­ka­lyp­ti­sche Kli­ma­vi­sio­nen und deren Abwen­dung kon­zen­trie­ren. Anstatt Mil­li­ar­den in den frei­en Zugang zu breit ange­leg­tem Wis­sen zu inves­tie­ren, wer­den die­se Gel­der in ein­sei­ti­ge poli­ti­sche Vor­ga­ben für Ener­gie­tech­no­lo­gien ver­senkt. Das Schick­sal des Pla­ne­ten soll gar davon abhän­gen: klei­ner geht’s nicht. Vor dem Hin­ter­grund einer regel­rech­ten Daten­ex­plo­si­on bei gleich­zei­ti­ger Zunah­me kom­ple­xer Sys­tem­pro­zes­se in Wis­sen­schaft und Tech­nik ist es unbe­dingt erfor­der­lich, den Vor­stel­lungs­raum von Wis­sen bei der brei­ten Bevöl­ke­rung mas­siv zu erweitern.

Hier braucht es grund­le­gen­de Refor­men und neue Visio­nen für die Zukunft, weil sich sonst eine wei­te­re Gefahr ergibt, die heu­te mehr denn je sicht­bar wird: glo­ba­lis­ti­sche Struk­tu­ren, deren Kyber­ne­tik zuneh­mend aus nicht­legitimierten Finanz- und Inter­es­sens­netz­wer­ken her­aus erfolgt. In der Mit­te die­ser Netz­wer­ke sit­zen regel­rech­te Olig­ar­chen, die sich künst­li­che, selbst­er­hal­ten­de Märk­te – zum Bei­spiel für Impf­stof­fe – schaf­fen und mitt­ler­wei­le gro­ße Tei­le der Staats­or­ga­ni­sa­ti­on unter ihre Geschäfts­in­ter­es­sen und Welt­vi­sio­nen zwin­gen. Mit Ange­bot und Nach­fra­ge hat das wenig zu tun, son­dern eher mit Zwangs­be­glü­ckung. Den Bürger­interessen muß es aber immer mög­lich sein, sich dage­gen zur Wehr zu set­zen oder mit­re­den zu kön­nen. Aber da müs­sen wir erst ein­mal wie­der hinkommen.

 

 

Nichts schreibt sich
von allein!

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