Sezession: Sehr geehrter Herr Dr. Krecher, Sie sind nicht nur Geologe, sondern haben auch einen Master of Science in Energiemanagement. Aus diesem doppelten Blickwinkel heraus haben Sie nun ein Buch mit dem Titel Vom Klimawandel zu Corona veröffentlicht. Was hat die Geologie zum Klimawandel zu sagen?
Marc Krecher: Vor allem, daß er sich extrem zyklisch verhält und sehr stark von der Plattentektonik und vom solaren Einfluß auf die Erde abhängig ist. Je kürzer die Betrachtungszeiträume werden, um so mehr treten ozeanische, meteorologische, gravitative und andere Effekte hinzu. Die Sonne im Zusammenspiel mit dem Einfluß der kosmischen Strahlung ist dabei immer ein Faktor auf den unterschiedlichen zeitlichen und physikalischen Ebenen.
Obwohl viele Geologen das Dogma vom menschengemachten Klimawandel übernommen haben, relativieren doch etliche die Aussagen der Klimaforscher. In der Geologie arbeiten die Wissenschaftler mit einem ganz anderen Zeitgefühl. In den unfaßbar langen Zeiträumen geschehen Dinge quasi regelmäßig, die im Zeitraum einiger Generationen unvorstellbar sind. Das bringt eine gewisse Gelassenheit mit sich, die es erlaubt, die Aussagen von Klimawissenschaftlern in aller Ruhe zu analysieren, anstatt im Panikmodus der Masse mitzuschwingen.
Ein Beispiel: Wenn Politiker und Klimawissenschaftler behaupten, die Inseln würden untergehen, weil der Meeresspiegel steigt, dann sage ich als Sedimentgeologe, daß das nicht geschehen wird. Denn der Meeresspiegel ist nur eine Komponente der Küstendynamik, und die ist seit dem mittleren Holozän nicht mehr dominant. In Wahrheit basieren die Aussagen auf numerischen Systemsimulationen, die den Globus im schmelzenden Eis versinken lassen, weil der CO2-Gehalt der Atmosphäre stetig steigt und angeblich für die Wärme verantwortlich sei.
Ich nenne das in meinem Buch einen »Wissenschaftsautismus«: Generationen von Wissenschaftlern sitzen in der Falle eines einfachen und zugleich politischen Parameters, während die wahren Prozesse viel zu komplex sind, um so einen Konsens zu generieren. Immer wenn es die Möglichkeit gibt, geologische Vorgänge und Daten im zeitlichen Detail zu untersuchen, zeigt sich, daß nicht das CO2 der Hauptverantwortliche ist, sondern meistens der solare Einfluß. Letzterer wird entweder durch gravitativ-planetarische Prozesse gesteuert oder aber durch die internen solaren Prozesse selbst. CO2 steuert auch, vor allem das Biomassewachstum. Auch das hat wieder Folgen für Klima und Leben.
Sezession: Wie ist das Dogma des menschengemachten Klimawandels entstanden?
Marc Krecher: Diese Geschichte ist wirklich spannend: Ihre Ursprünge reichen Jahrhunderte zurück, in eine Zeit, als die Forscher noch dachten, alles setze sich aus Stoffen zusammen. Für die Verbrennung und die Wärmewirkung war lange das Phlogiston verantwortlich: ein mysteriöser Stoff. Als die These unterging, suchten sie den nächsten Stoff: CO2. Mit der zunehmenden Bevölkerung, vor allem in den Industrialisierungszonen, kam zugleich die Angst vor Übervölkerung und Nahrungsknappheit auf. Der Schwede Svante Arrhenius verband beide Probleme: CO2-Zunahme und Übervölkerung – allerdings im Positiven. Denn mit dem CO2 konnte der Nahrungsknappheit durch das Biomassewachstum entgegengewirkt werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung gekoppelt. Der Mensch wurde zunehmend gar als Krebszelle gesehen, die das Biosphärengewebe der Erde durch tumorartiges Wachstum gefährde. Der globale Temperaturanstieg, der die Erde aus der bitterkalten Episode der kleinen Eiszeit herausholte, wurde als Fieber beschrieben, welches die Erde als Lebewesen, als Super-Ökosystem, bedroht. All dies übersetzte sich in politische Maßnahmen und Forderungen, die nach und nach den anthropogenen Klimawandel zum Dogma verdichteten. Von der gleichzeitig massiv steigenden Sonnenaktivität, die bis 2010 auf höchstem Niveau anhielt und als die längste Aktivitätsperiode seit mindestens 8000 Jahren gilt, wurde und wird nicht gesprochen.
Es ist verrückt: Die Aussage, daß nur das menschliche CO2 schuld am Klimawandel hat, sagt ja zugleich, daß die Sonne überhaupt keine Bedeutung für das Klima hat. Wie selbstentlarvend ist das eigentlich? Und heute? Heute werden Übervölkerung und Pandemien gekoppelt. Der Mensch verseucht quasi die Erde. Er sei selber wie ein Virus – aber das Fieber steigt bei weitem nicht so wie ursprünglich berechnet.
Sezession: Was verstehen wir unter Klima im Unterschied zum Wetter, wenn Sie schreiben, »das heutige Klima ist das weitgehend normale Klima der letzten 2000 Jahre«?
Marc Krecher: Je weiter wir zurückschauen, desto gröber wird das Besteck, mit dem sich ein vergangenes »Wetter« bestimmen ließe. Wir rutschen dann automatisch ins »Klima« hinein, eine statistische Größe, die eine Art durchschnittliches Wetter mit bestimmten Eigenschaften definiert. Die Meteorologie hat den Zeitraum dieser Größe auf 30 Jahre bestimmt. Aber um auch nur ein paar Jahrzehnte für die Zeit vor 1000 und mehr Jahren zu analysieren, bedarf es sehr guter Daten. Es gibt diese Daten, allerdings selten in der nötigen Dichte. In ihrer Genauigkeit sind die Ergebnisse daher sicher nicht mit ein paar Jahren im 21. Jahrhundert zu vergleichen.
Im arktischen Raum wurden Daten gesammelt, die Aussagen zum Klima der letzten 2000 Jahre zulassen. Er ist zugleich der Raum, in dem Sonnenaktivität und Klimawandel am stärksten wirken. Und dabei zeigt sich sehr deutlich, daß das historische, überwiegend natürlich-warme Niveau dem heutigen viel näher kommt als der Kälte der kleinen Eiszeit.
Insbesondere in der römischen Kaiserzeit und zum Mittelalter hin gab es offenbar immer wieder sprunghafte Anstiege der Temperatur im arktischen Raum, die auch das heutige Niveau erreichten, vor allem wenn die Fehlergrenzen berücksichtigt werden. Die kleine Eiszeit hingegen zeigt sich als phasenweise, außergewöhnlich tiefe Temperaturdepressionen, die über mehrere Jahrhunderte zwischen ca. 1250 und 1850 aufgetreten sind. Diese Phasen korrelieren mit der niedrigsten solaren Modulation kosmischer Strahlen im Holozän. Da sind wir heute lange schon wieder raus – zum Glück.
Sezession: Vor diesem Hintergrund könnte man die klimapolitischen Maßnahmen auch als Klimahysterie beschreiben, und damit haben sie Anteil an dem, was wir unter dem Begriff »Angstpolitik« zusammenfassen. Waldsterben und Atom waren die Ängste der 1970er und 1980er Jahre. Heute sind es Klima und Corona. Ihr Buch beschäftigt sich unter anderem mit dem Zusammenhang zwischen diesen beiden großen Panikerzählungen unserer Tage.
Marc Krecher: Es läßt sich beobachten, daß Bürger einerseits gegen die Grundrechtseinschränkungen auf die Straße gehen und dafür als Coronaleugner diffamiert werden, zugleich diese selbst weiterhin fest an den anthropogenen Klimawandel glauben und sodann die Kritiker auch wieder als Klimaleugner bezeichnen. Dabei zeigt schon das ganze System der Herabwürdigungen, daß wir es hier mit verwandten politischen Themen zu tun haben.
Es gibt eindeutige und wiederkehrende gesellschaftliche Kommunikationsmuster, wenn man die Phänomene »Großes Waldsterben«, »Klimawandel« und »Corona« miteinander vergleicht. Beim Großen Waldsterben der 1970er und 1980er Jahre wurde vom »ökologischen Holocaust« gesprochen. Wer das ökologisch in Abrede gestellt hätte, wäre sprachlich verdammt nahe am Holocaustleugner gewesen. Das hat man damals lieber sein gelassen.
»Klimaleugner« ist mittlerweile ein fest etablierter Begriff der deutschen Sprache geworden. Und nun kommt »Coronaleugner« hinzu. Mit dem Begriff Leugner wird ja dem Kritiker nicht die Kritik vorgeworfen, sondern eine Lüge unterstellt. Und gegen diese Lüge wird eine Autorität aufgeboten, die als »die« Wissenschaft benannt wird.
Soll heißen: Wir wissen genug, »science is settled«, da gibt es nichts mehr zu kritisieren. Wir kennen das auch aus dem Mittelalter: »Extra ecclesiam nulla salus!« wurde damals dem Ketzer geantwortet. Und wie bereits vor Hunderten von Jahren spielt die Schuld des Menschen in allen drei Themenkomplexen erneut eine große Rolle: Die Extravaganz des einzelnen und der »Undisziplinierten« ist ja schon immer ein Dorn im Auge der Macht gewesen.
Ein anderes Muster ist die Expertengläubigkeit. Es ist ja fast schon belustigend, wie aus ein paar wenigen medialen Experten immer gleich »die« Wissenschaft gemacht wird. Von Herrn Drosten wurde lange Zeit in der Mehrzahl gesprochen. Beim Großen Waldsterben gab es damals auch einen Drosten: der hieß Bernhard Ulrich. Und für den Klimawandel ist Herr Schellnhuber der Fachmann.
Stets wurde und wird mit Apokalypse gedroht: Nur die sofortige Umkehr könne sie abwenden, »denn stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch«. Selbstverbrennung, abbremsender Golfstrom, Millionen von Coronatoten – epidemiologische »Kernschmelze« ist das Wort für das Schreckensszenario unserer Tage, es steht so im Dokument des Innenministeriums. Vor 40 Jahren war es der »plötzliche Waldtod«, der schleichend daherkam. Parallelen zum plötzlichen Kindstod waren rein zufällig. Der Tod kam übrigens nie.
Alle drei großen Zeitphänomene sollten und sollen ihre Grundlage außerdem in der »exponentiellen« Vermehrung des Menschen haben. Der sei wie ein Tumor, der das Biogewebe zerstöre – solche misanthropen Phrasen finden sich zuhauf in der wissenschaftlichen Literatur. Und so erklärt sich ein anderes gemeinsames Muster, in dem Computersimulationen mit Variablen, Szenarien und Mastergleichungen immer wieder exponentielle Gefahrenverläufe produzieren und damit den Menschen vor sich selbst erschrecken lassen.
Es war der Club of Rome, der damals in den 1970ern über Systemsimulationen zum erstenmal öffentlich die Angst vor der Umweltzerstörung durch den Menschen verbreitet hat. Aber geht es wirklich um den Menschen? Ging und geht es nicht jedesmal vielmehr um diejenigen, welche die Freiheit des Individuums hervorheben, anstatt sich dem Kollektiv eines holistischen Weltbildes zu unterwerfen?
Sezession: Aber war und ist an den Gefahrenlagen nicht doch etwas real? Ist die schiere Masse Mensch nicht doch der große Auslauger, der Vernutzer, sozusagen der überfüllte Stall? Lassen sich Gefahren nicht doch ganz konkret messen, mit empirischer Evidenz belegen und zudem eigenen Auges beobachten?
Marc Krecher: In meinem Buch gehe ich ja detailliert auf diese Frage ein. Es gibt zu viele Beispiele gerade der empirischen Evidenz, die zeigen, daß dieses Bild so nicht richtig sein kann. Ich glaube auch: Wenn dem so wäre, dann müßte »die« Wissenschaft nicht ständig exponentiell verlaufende Gefahren vorausberechnen. Der Mensch würde selber die nötigen Schritte einleiten, ganz ohne sich jeden Abend einen Lauterbach hinter die Binde zu kippen.
Vielmehr lassen wir uns von Systemsimulationen und Horrorbildern treiben, um sodann das Vorsorgeprinzip zu bemühen. Vorsorge vor dem, was angeblich kommt. Nicht aber vor dem, was schon da ist, denn das läßt sich meistens gar nicht belegen. Das ist politische Machtausübung in seiner perfidesten Form: nämlich durch die Verbreitung von Angst.
Sezession: In den langen Zeiträumen, in denen der Menschheit keine fossilen Brennstoffe zur Verfügung standen, waren die Gesellschaftsstrukturen verhältnismäßig stabil, was den Umwelthistoriker Rolf Peter Sieferle zu der Vermutung veranlaßte, »daß auf der Basis des Gebrauchs fossiler Energieträger prinzipiell keine Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur möglich ist, die sich längerfristig stationär reproduzieren ließe.« Mit anderen Worten: Was ist schlecht am Vorsorgeprinzip, ohne das es der Mensch doch nie geschafft hätte, seßhaft zu werden?
Marc Krecher: Wie oft mußten ganze Völkerschaften alleine im Mittelalter auf Wanderung gehen, auch ohne fossile Brennstoffe? Die historische Grundlage der Aussage von Rolf Peter Sieferle müßte man sich daher vielleicht noch mal genauer anschauen. Zumal in vorindustriellen Zeiten maximal nur ein Achtel der heutigen Bevölkerungzahl auf dem Planeten gelebt hat. Und dafür, daß der Mensch sich so vermehren konnte, scheint der störende Einfluß auf die Reproduktion nicht sehr groß gewesen zu sein.
Längerfristig stationär waren auch die ganz frühen Gesellschaften nicht wirklich, wenn ich daran denke, daß diese kleinen Stämme regelmäßig nach gut 30 Jahren ihre Waldsiedlung aufgeben mußten, um neuen Wald zu finden – der Wettbewerb um die besten Plätze lief vermutlich nicht immer friedlich ab. Am Ende des Mittelalters, bis zum Vorabend der Industrialisierung, war der Wald jedenfalls kahlgeschlagen: das wirklich große Waldsterben!
Dank Kohle, Zement und Stahl konnte bei uns der Wald auf breiter Flur wieder wachsen – auch irgendwie eine Form der Vorsorge. Und zwar durch Entwicklung und Fortschritt. Es ist ja nicht das Vorsorge-»Prinzip«, was hier stört, es ist die Gefahr der willkürlichen Machtausübung durch eine dominante Logik, die den Menschen zur Krebszelle stilisiert. Und diese Logik nutzt eine wenig durchschaubare Systemdynamik, aus der heraus düstere Zukunftsszenarien einer politischen Viabilität dienen, die das Individuum einer Art Schutzkollektiv unterwirft.
Sezession: Kommen wir zurück zu Corona und zu der Frage, ob es neben den Gemeinsamkeiten nicht auch Unterschiede zwischen Corona und den Hysterien der vergangenen Jahrzehnte gibt. Denn immerhin scheinen sowohl die Angst vor dem Waldsterben als auch die vor dem Atomtod die Gesellschaft nicht in den Grundfesten erschüttert zu haben.
Marc Krecher: Die Hysteriekurve ist ja mit der Zeit langsam und in Stufen angestiegen, erst heute zeigt sie einen steilen Verlauf. Corona besitzt daher in der Tat eine Besonderheit. Die Krise zerstört für alle vernehmbar fundamentale Strukturen: nämlich die tragenden und seit Jahrzehnten etablierten Rechtsstrukturen einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft. Mit dem Infektionsschutzgesetz ist das Grundgesetz jetzt schon »grundlos« geworden.
Corona ist gerade dabei, Wirtschaftsstrukturen, Kommunikationsstrukturen, Finanzstrukturen und manches mehr an den Rand des Chaos zu bringen. Denn nur von dort läßt sich ein gestandenes System transformieren. Aber Corona hat das nicht begonnen oder ausgelöst. Es ist vielmehr das Dogma des anthropogenen Klimawandels, welches in Deutschland seit 2011 die Grundlage für die »Große Transformation« ist, von der manche immer noch glauben mögen, daß es sich nur um eine Energietransformation handelt. Das wäre aber leider sehr naiv. Mit Corona ist Europa dabei, diese ökosozialistische Transformation von einer gleitenden und zuweilen disruptiven Phase in eine destruktive Phase hinüberzuleiten, in der Platz gemacht wird für den autoritären Staat, nicht selten verharmlosend als »partizipative Demokratie« bezeichnet. Frau Merkel selbst hatte im Januar 2020 mit ihrer Rede in Davos den Weg vorgegeben. Das Virus mag zufällig dahergekommen sein, aber seine Beförderung zum angeblichen Killer ist vor dem Hintergrund der Großen Transformation kein Zufall.
Sezession: In Ihrem Buch positionieren Sie sich, auch unter Bezugnahme auf Hayek, recht eindeutig gegen den Konservatismus, der die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum zu sehr betone und der menschlichen Kreativität mißtraue. Was verstehen Sie unter Freiheit, gibt es Grenzen, die der Mensch anerkennen muß?
Marc Krecher: Um dabei auf Sieferle zurückzukommen: Ich persönlich sehe in der Freiheit des Individuums den einzigen Weg echter Stabilität. Das ist aber nicht eine Freiheit, die sich aus der Unterwerfung unter die sittliche Gesamtkörperschaft und deren volonté générale ergibt. Es ist vielmehr – und hier bin ich sehr von Henri Bergson beeinflußt – die schöpferische Freiheit des Menschen, die dessen Ganzheit in die des Staates inkludiert. Die Produkte seiner Intelligenz sind darin Teil dieser partikularen Ganzheit, aus der sich viel mehr als nur Produkte und Eigentum ergeben. Bergson sprach von der »Spitze der gesamten Persönlichkeit«, die sich in die Zukunft einbohrt und diese ohne Unterlaß eröffnet. Darin bestehe das freie Leben und Handeln. Konservatismus und Sozialismus führen den Menschen hingegen an der Leine und erschaffen zusammen mit einer entgrenzten Systemdynamik erneut eine positive Wissenschaft im Sinne einer mechanistischen Konzeption, ein Fichtesches Uhrwerk als Staat.
Die Grenzen der schöpferischen Freiheit ergeben sich aus dem Respekt vor dem Nächsten. Der Staat und sein territoriales Rechtssystem haben die Aufgabe, diesen Respekt zu sichern, gleichzeitig alles dafür zu tun, Freiheit und Fortschritt zu ermöglichen. Und zwar im Hier und Jetzt. Die Definition von »Respekt« wird hingegen immer ein Dilemma unabhängig von der Staatsform bleiben. Es ist quasi eine dauerhafte Aufgabe der Gesellschaften, dieses Dilemma in Frieden und Freiheit zu lösen.
Sezession: Sie blicken optimistisch in die Zukunft. Die pessimistischen Vorhersagen seien nicht eingetroffen, der Menschheit gehe es besser als jemals zuvor. Ist das nicht eine etwas einseitige Bewertung, die nur unter dem Maßstab einer völlig von den nichtmateriellen Lebensbedingungen absehenden Betrachtungsweise aufgeht?
Marc Krecher: Nein, gerade nicht. Denn die Entwicklung seit der Industrialisierung hat ja nicht nur materiellen Wohlstand für immer mehr Menschen geschaffen. Sie hat auch die Möglichkeiten für die nichtmateriellen Lebensbedürfnisse vergrößert. Der Zugang zu Wissen, zu Kommunikation, zu individueller Selbstentfaltung und zum Abbau sozialer Schranken, genauso wie zu Hygiene, zu Medizin und zu besseren Nahrungsmitteln und anderem. Überall auf der Welt haben sich die Länder auf den Weg gemacht. Afrika hinkt hinterher, ist aber auch auf dem Sprung zu einer besseren Welt.
Nicht daß ich vor den immer noch ausreichend großen Problemen die Augen verschließen will. Aber ich bin der Ansicht, daß viele Probleme gerade in der Unfreiheit konservativer und kollektiver Strukturen mitbegründet sind. Genauso aber auch in der politischen Verhinderung schöpferischer Freiheit selbst in hochentwickelten Staaten. Für ersteres steht in meinen Augen der Islam, der es seit nunmehr 700 Jahren nicht geschafft hat, sich philosophisch wieder auf die Grundlage offener Gesellschaften zu stellen. Vor dem 13. Jahrhundert war das, relativ betrachtet, durchaus der Fall.
Viele Probleme des Nahen Ostens und sonstiger islamischer Länder haben ihren tiefen Grund im traditionalistischen Prinzip. Alte historische Ereignisse wie die Fitna bestimmen noch heute die mörderischen Verhältnisse zwischen Schiiten und Sunniten. Das schafft globale Probleme, zum Beispiel durch Migration und natürlich durch Krieg.
Aber auch bei uns werden Freiheit und echter Fortschritt zunehmend eingeschränkt oder behindert. Zum Beispiel dadurch, daß das breitgefächerte Wissen durch unzulängliche Medienstrukturen bei der Masse auf der Strecke bleibt, wenn sich Regierungen nur noch auf apokalyptische Klimavisionen und deren Abwendung konzentrieren. Anstatt Milliarden in den freien Zugang zu breit angelegtem Wissen zu investieren, werden diese Gelder in einseitige politische Vorgaben für Energietechnologien versenkt. Das Schicksal des Planeten soll gar davon abhängen: kleiner geht’s nicht. Vor dem Hintergrund einer regelrechten Datenexplosion bei gleichzeitiger Zunahme komplexer Systemprozesse in Wissenschaft und Technik ist es unbedingt erforderlich, den Vorstellungsraum von Wissen bei der breiten Bevölkerung massiv zu erweitern.
Hier braucht es grundlegende Reformen und neue Visionen für die Zukunft, weil sich sonst eine weitere Gefahr ergibt, die heute mehr denn je sichtbar wird: globalistische Strukturen, deren Kybernetik zunehmend aus nichtlegitimierten Finanz- und Interessensnetzwerken heraus erfolgt. In der Mitte dieser Netzwerke sitzen regelrechte Oligarchen, die sich künstliche, selbsterhaltende Märkte – zum Beispiel für Impfstoffe – schaffen und mittlerweile große Teile der Staatsorganisation unter ihre Geschäftsinteressen und Weltvisionen zwingen. Mit Angebot und Nachfrage hat das wenig zu tun, sondern eher mit Zwangsbeglückung. Den Bürgerinteressen muß es aber immer möglich sein, sich dagegen zur Wehr zu setzen oder mitreden zu können. Aber da müssen wir erst einmal wieder hinkommen.