Auch wenn die Gasrechnung doppelt so teuer wie im Vorjahr ist und die Lebensmittelpreise um ein Drittel gestiegen sind, lebt es sich für die meisten Bewohner der BRD weiterhin “gefühlt” kommod.
Sie werden von der Propaganda damit beschäftigt, über Wassersparen beim Duschen zu zweit, Stromsparen durch Stand-by-Ausschalten und Heizkostensparen durch Temperatursenkung um ein Grad mit ihren Mitmenschen ohne Unterlaß zu diskutieren – die Volksgemeinschaft muß in der Illusion der Informiertheit zusammenhalten, dann “schaffen wir das”.
Nun schon zum dritten Mal. Zweimal haben wir “es” schon geschafft: Deutschland ist weder “islamisiert” worden, noch sind alle “geimpft, genesen oder gestorben”. So darf man sich seines BRD-Lebens weiterhin erfreuen. Nun gibt es halt “Teuerungen”. Doch die Supermärkte sind ja noch voll, bei “Dr. Oetker” soll es Lieferengpässe geben, aber sonst? Wir meistern “die Krise” schon. Im Wirtschaftsteil der FAZ steht ja, daß die Wirtschaft bereits einen Aufschwung verzeichnet.
Und so hört man auch die “Moralbourgeoisie” (Alexander Wendt) den nächsten Urlaub planen, sich E‑Autos zulegen und sich in den sozialen Medien damit brüsten, durch rechtzeitige “klimafreundliche Komplettdämmung des Hauses und die neue Pelletsheizung / die neuen Solarpaneele” prima vorgesorgt zu haben. Es gibt auch eine “krisenbewußte” Ignoranz, schließlich liest der BRD-Bürger Zeitung.
Der Duden versteht unter “Ignoranz”
Unwissenheit, Unkenntnis auf einem Gebiet, auf dem man von dem Betreffenden eine gewisse Sachkenntnis voraussetzt.
Bloßes Nichtwissen ist keine Ignoranz. Die oben beschriebenen Verhaltensweisen erscheinen also nur demjenigen Beobachter als Ignoranz, der die Existenz von etwas voraussetzt, wovon die Leute eigentlich Kenntnis haben sollten. Der Ignorante ist (abgesehen von Fällen rationaler Ignoranz, d.h. bewußtem Aussparen bestimmter Wissensaneignung, weil diese arbeitsteilig an andere delegiert ist) sich nicht dessen bewußt, daß er ignorant ist.
Dem ignoranzfeststellenden Beobachter erscheint der Ignorante deswegen so beschränkt, weil er etwas für ersteren Offenkundiges nicht zur Kenntnis nimmt. Der Beobachter setzt also eine bestimmte Sachkenntnis voraus, eine Wirklichkeitswahrnehmung, an der es dem Ignoranten eben mangelt.
In Mit Linken leben hatten wir vom “Ich-seh-etwas-das-du-nicht-siehst-Spiel” gesprochen: zwei Menschen sehen komplett andere Wirklichkeiten, obwohl sie äußerlich dasselbe Land bewohnen.
Was ist für den einen denn das Offenkundige, das der andere nicht sieht? Der oben beschriebene BRD-Typus erscheint demjenigen als ignorant, der ahnt, daß kein Stein mehr auf dem anderen bleibt, daß wir es nicht bloß mit einer “Krise” zu tun haben, auch nicht mir deren zwei, drei oder mehreren innerhalb weniger Jahre, sondern daß sich vor unseren Augen die alte Welt zerlegt. Man mag es “Great Reset” oder “Systemzusammenbruch” oder “Dritter Weltkrieg” nennen, es wurde jedenfalls ein unumkehrbarer Prozeß ausgelöst.
Wer dies vermutet, läuft bisweilen mit einer Art “zweitem Gesicht” herum, einer Haltung zur Welt, die ich in Selbstrettung schon folgendermaßen beschrieben hatte:
Er sieht all das mit einem parallellaufenden Bewußtseinsstrom im Kopf, als Ausdruck von etwas, das politisch gewollt erscheint, das auf Biegen und Brechen zur neuen Normalität gemacht werden soll. Es gibt fast kein Alltagsphänomen, das nicht mit dem zweiten Gesicht verstörende Züge offenbart. Das zweite Gesicht kann das Denken anregen und zugleich das Leben lahmlegen.
Ein Schaufenster erzeugt in ihm den Gedanken, daß es bald leer sein wird, der Betrieb insolvent; ein Fahrrad am Wegesrand, daß es vielleicht bald das einzige Fortbewegungsmittel sein wird, vorausgesetzt, es gibt noch Ersatzteile; der Restaurantbesuch generiert das Gefühl des Tanzorchesters auf der Titanic.
Beim Kochen überlegt er sich, welche industriellen Voraussetzungen und Transportwege ein hochverarbeitetes Lebensmittel mit sich bringt und wie ohne all dies auszukommen wäre. Und beim Lichtanschalten, ob das wohl morgen früh noch gehen wird. Ganz zu schweigen vom Geldabheben am Bankomaten, vielleicht wäre es klug, vor dem Tag X alles Ersparte in Bargeld oder Goldmünzen umzutauschen? Die Gasrechnung ist nur der Anfang von etwas, das “politisch gewollt erscheint, das auf Biegen und Brechen zur neuen Normalität gemacht werden soll” .…
Im selben kaplaken-Bändchen hatte ich eine unserer notwendigen Siebensachen des geistigen Vorbereitetseins als “Abschiedlichkeit” bezeichnet.
Ist derjenige mit dem Zusammenbruchs-Bewußtseinsstrom im Kopf ein abschiedlich Gestimmter? Er blickt total desillusioniert auf “das System”, das ihn so lange am Leben gehalten hat, und von dem wir uns nun offenbar kollektiv verabschieden. Mancher, der die Welt auf diese Weise wahrnimmt, haßt die BRD (oder die Globalisierung, den “Wertewesten” oder den Neoliberalismus) und sehnt ihr baldiges Ende inbrünstig herbei. Innerlich ist er gespalten, er will die Dinge behalten und loswerden zugleich.
Der unaufhörliche Bewußtseinsstrom, das “zweite Gesicht”, mit dem wahrgenommen jedes Detail verstörend wirkt, die Angst vor dem Systemzusammenbruch, der gleichzeitig ersehnt wird – diese Weltverlustwahrnehmung legt, wenn man sie die Führung über die eigene Seele übernehmen läßt, das Leben lahm.
Abschiedlichkeit unterscheidet sich von Rückwärtsgewandtheit. Der Rückwärtsgewandte sehnt sich zurück, ist voller Melancholie, denkt von der Vergangenheit her und ist der Gegenwart hilflos ausgeliefert. Der Abschiedliche ordnet zunächst einmal die Überfülle der Gegenwart.
Abschiedlich gestimmt und gesinnt zu sein ist eine noble Antwort auf die unbestreitbare Tatsache, daß in dieser Welt alles vergänglich, also dem schließlichen Untergang verfallen und schon deshalb problematisch ist. In der Verfassung der Abschiedlichkeit lernen wir zu entsagen, zu verzichten und gelassen zu sein.
Der Ignorante lebt unbeirrt weiter, aber seine Wohllebe ist um den Preis der “Apperzeptionsverweigerung” (Heimito von Doderer) erkauft, ihm fehlt jegliche Abschiedlichkeit.
Der Beirrte hingegen kann nicht mehr in der Wirklichkeit leben, er ist auf falsche Art abschiedlich gestimmt. Sein Denken ist abstrakt, denn jede einzelne konkrete Erfahrung überwölbt ein medial induziertes Szenario des Was-wäre-Wenn. Es fehlt ihm der gelassene Blick auf die Vergänglichkeit: selbst das eigene Leben wird er nicht retten können.
Jeden Augenblick so auszukosten als wäre er der letzte, ist als Meditationsübung bekannt. Gerade in einer Lebenslage, die ganz irreal zwischen ungebrochener Wohllebe und medial wahrgenommenem baldigem Untergang changiert, gerät der so Meditierende allerdings sehr leicht in eine “manische” Abschiedlichkeit, die ihn den Tag X umso mehr herbeisehnen läßt.
Den Kenntnishorizont des Desillusionierten zu haben, darauf aber weder rückwärtsgewandt noch manisch zu reagieren, sich aber auch nie wieder in die “Wurschtigkeit” des Ignoranten zurückfallen lassen zu können – dies entspräche der Abschiedlichkeit als aktuell nötigster Tugend.
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Caroline Sommerfeld: Selbstrettung. Unsere Siebensachen, Kaplaken 69 – hier bestellen.
Caroline Sommerfeld: Versuch über den Riß, Kaplaken 78 – hier bestellen.
RMH
Ich glaube, zwischen den 2 hier dargestellten Positionen gibt es sehr, sehr viele Abstufungen und Schattierungen. Menschen, mit Immobile und Geld, investieren klar erst einmal in die sog. "energetische Sanierung" (Euphemismus) ihres Hauses, was sollen sie sonst auch noch mit ihrer Kohle machen? Ob deswegen gleich eine Ignoranz oder ein notwendig falsches Bewusstsein, das "Richtige" zu tun vorliegt - völlig offen. Viele machen es in der Tat, weil es erst einmal eine rationale Option ist. Genauso, wie es eine rationale Option ist, wenn man nur vom Monatsersten bis Monatsletzten sein Leben durch Arbeit finanzieren kann, dass man dann nicht mehr 100% gibt, sondern in einen Vorsichtigkeitsmodus ob des Kommenden umschaltet (bei einer Minderheit geht es dann auch in den Protestmodus). Alle Kreise haben eines gemein: Nirgendwo findet man mehr die Übereinstimmung zwischen Handeln, Denken und Wünschen. Die sog. Dissonanzen nehmen auf breiter Front zu. Selbst die Hurra, meine PV-Anlage macht auch im November den Puffer voll-Freuer, haben ein inneres Unwohlsein, in manchen Fällen nur unbewusst. Folge ist: Die Erkrankungen nehmen zu - das Leistungsvermögen ab. Jeder kleine Schnupfen wirft die buchstäblich Geschwächten gleich mehrere Tage hin. Auch wenn man sich aus eigenem Bemühen zum Optimismus immer wieder sagt, das Glas ist immer noch halb voll und das rational auch begründen kann, so ist nur noch die Hoffnung, "es wird schon noch gut gehen", die letzte Motivation.