Gutes – Der Jungeuropa-Verlag legt mit Heimat Europa nach Die Unzulänglichen und Der falsche Belgier sein bereits drittes Buch aus der Feder des französischen Schriftstellers Pierre Drieu la Rochelle (1893–1945) vor.
Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Reiseberichten und anderen Texten, die der Grenzgänger zwischen “rechts” und “links” zwischen 1931 und 1942 für verschiedene Zeitschriften quer durch das politische Spektrum verfaßt hat.
Man darf hier allerdings keine geschliffenen schöngeistigen Betrachtungen à la Robert Byron (Europa 1925, Der Weg nach Oxiana) erwarten. Drieus Reisen sind vielmehr Stationen einer vor allem politischen Spurensuche, deren Leitgedanken die Vereinigung Europas und die Überwindung der kapitalistisch-kommunistischen Dichotomie sind. Bekanntlich landete er auf diese Weise im Lager des Faschismus, den er als eine Form des Sozialismus und revolutionären Autoritarismus auffaßte.
So verfolgte er mit besonderem Interesse die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien, die er zwar aus wacher Distanz, aber doch überwiegend mit Bewunderung und Faszination schilderte. Dabei zeigte er sich in der Vorkriegszeit keineswegs als unbedingter Deutschenfreund, da für ihn die Idee eines europäischen Zusammenspiels und Gleichgewichts absoluten Vorrang hatte, was voraussetzt, daß die verschiedenen Partikularnationalismen gehegt und eingedämmt werden.
So entwirft er in einem Text aus dem Jahr 1935 eine post-habsburgische Allianz der “Donauländer”, an der Tschechen, Ungarn, Slowaken, Rumänen und Österreicher teilhaben sollen, als mitteleuropäisches Gegengewicht zum geopolitischen Druck des Deutschen Reiches. Auch seine Bewertung der Tschechoslowakei unter der Regierung von Edvard Beneš ist zu diesem Zeitpunkt äußerst wohlwollend, während er den Volkstumskampf der Sudetendeutschen unter Konrad Henlein eher kritisch betrachtet.
Dem Deutschland Hitlers prophezeit er schon früh (ebenfalls 1935) einen gewaltsamen, vernichtenden Zusammenstoß mit der Sowjetunion Stalins, die er ebenfalls überraschend positiv bewertet. So meint er, in Stalin und seiner Führungselite faschistische Züge in seinem Sinne entdeckt zu haben.
Erst spät, während des Krieges, als er sich im besiegten Frankreich der Kollaboration anschließt, setzt Drieu (vergebliche) Hoffnungen auf das Reich als mögliches Instrument der europäischen Einigung. 1942 zeigt er sich anläßlich einer Dichtertagung in Weimar, an der etliche französische Autoren teilnahmen, fasziniert von dem Gedanken einer Allianz zwischen Rußland und Deutschland, einer “Umarmung” der Genies der “Slawen und Germanen”.
Nicht nur hier zeigen sich die romantischen Impulse Drieus, die seine politischen Urteile und Parteinahmen stark beeinflußt haben. Etliche Beiträge sind Spanien gewidmet, das er 1936 zu Beginn des Bürgerkriegs besuchte. In diesem Land “des Blutes, der Wollust und des Todes” (nach einem der berühmtesten Werke von Maurice Barrès) begegnet ihm – zu seinem großen Glück – ein alter, verlorengegangener Bekannter wieder, der Krieg, jene prägende und intensivste Erfahrung seiner Jugendzeit.
So ist Heimat Europa auch eine faszinierende Zeitreise, die einen ungewohnten und aufschlußreichen Blick auf das Pulverfaß der Vorkriegszeit bietet, gesehen mit den Augen eines äußerst kontroversen Ausnahmeschriftstellers.
Die Edition des Jungeuropa-Verlags läßt nichts zu wünschen übrig: von der sehr schönen bibliophilen Ausstattung im dunkelblauen Leineneinband bis hin zu den kenntnisreichen Kommentaren des Drieu-Experten Benedikt Kaiser, die zur historischen Einordnung der Texte unerläßlich sind.
Passend zur Lektüre kann man Sol Invictus hören:
He went looking for Europe, took love in his hand
With eyes of sunlight, like burning sand
Went to the west, rode to the east
Heard of life and honour, looked into the eyes of the beast…
Pierre Drieu La Rochelle: Heimat Europa. Reiseberichte und andere Texte 1931–1942, 272 Seiten, 24 €.
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Wahres – Von Drieu zu einem weiteren französischen “Kultautor”, der allerdings überzeugter Antifaschist war und eine Art von christlichem Anarchismus vertrat: Jacques Ellul (1912–1994). Ich habe ihn letztes Jahr hier porträtiert.
Sein neben La Technique ou l’enjeu du siècle (1954) wohl bedeutendstes Werk, Propagandes (1962), wurde erst letztes Jahr erstmalig ins Deutsche übersetzt. Es erschien im Herbst 2021 im Westend-Verlag, nicht zufällig mitten in der Walpurgisnacht der “Corona-Pandemie”.
Als Weihnachtsgeschenk ist Elluls Propaganda zugegebenermaßen eine etwas makabre Wahl, und auch die Lektüre der insgesamt 477 Seiten (davon vierzig Anmerkungsapparat) ist alles andere als ein Vergnügen. Das “Wahre” will eben hart erarbeitet werden. Elluls gründliche, ja akribische Analyse der Wirkungsweisen, Techniken und psychologischen Folgen verschiedener Propagandamethoden und ‑strategien übertrifft alles, was sonst noch zu diesem Thema geschrieben wurde.
Dabei geht er nicht den bequemen Weg, sich auf Beispiele aus antiliberalen politischen Systemen wie Stalinismus, Maoismus, Faschismus und Nationalsozialismus zu beschränken, sondern er sieht in der Propaganda, die auf den menschlichen Geist eine zutiefst korrumpierende Wirkung ausübt, ein zentrales Steuerungselement der modernen Gesellschaften überhaupt, auch der sogenannten “demokratischen” und “liberalen”.
Eine verstörende Lektüre, die vieles dazu beiträgt, die Ereignisse der letzten bald drei Jahre zu erhellen und zu ermessen, was wir in der Zukunft zu erwarten haben.
Jacques Ellul: Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird, 477 Seiten, 28 €.
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Schönes: Kein Bildband, sondern ein Stück “schöne Literatur”. Der in Wien ansässige Castrum-Verlag schmückt sich mit dem berühmten Signet der “Blätter für die Kunst”, deren Geist der Verlagsgründer Ledio Albani zu pflegen und in die heutige Zeit zu übertragen anstrebt. Auch der Name des Verlags verweist auf den George-Kreis und die seinem Andenken verpflichtete Stiftung “Castrum Peregrini”.
Diese deutliche Bezugnahme will Albani allerdings nicht als thematische oder formale Einschränkung verstanden haben: “Ohne ein bestimmtes literarisches Genre anzusprechen, soll jedem Gedanken in der Tradition klassischer, deutscher Literatur und Philosophie ein Veröffentlichungsorgan dargeboten werden.”
Eines der drei bislang erschienenen Bücher des Verlages ist der Debütroman Die Bogomilischen Gräber von Denial Bahtijaragic, geboren 1983 als Sohn eines bosnischen Vaters und einer serbischen Mutter. 1992 flüchtete die Familie vor dem Krieg in Bosnien nach Wien, wo Bahtijaragic heute noch lebt.
Der Roman, eigentlich eine Erzählung in fünf Kapiteln, ist offensichtlich stark autobiographisch. Der Autor schildert die Zuspitzung und Eskalation der Konflikte zwischen Serben und Bosniern und die Flucht einer Familie nach Österreich aus der Perspektive eines Kindes, in dessen Wahrnehmung sich Traum und Phantasie mischen.
Eines Tages im April 1992 erfährt der neunjährige Almas, der aus einem gehobenen bürgerlichen Milieu stammt, daß sein bewunderter Vater, Spezialarzt und Krankenhausdirektor, als Bosnier auf einer serbischen Todesliste steht. Die Schlinge um den Hals der “gemischten” Familie – die Mutter Almas’ ist wie Bahtijaragics Mutter Serbin – zieht sich immer weiter zu, bis ihr keine andere Wahl mehr bleibt, als ihre Heimatstadt Prijedor und das zerfallende Jugoslawien über Ungarn zu verlassen.
Pläne, nach Paris zum exilierten Vater der Mutter zu ziehen, zerschlagen sich. Die Familie strandet in Wien-Ottakring, wo sie eine soziale Deklassierung erdulden muß. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, muß die kultivierte Mutter, die Theater und Kunst liebt, sich als Putzfrau verdingen, der Vater, dessen Diplom in Österreich nicht anerkannt wird, “in einer großen Halle” Obst und Gemüse waschen.
Über Zeitungen, Fernsehen, Berichte von Flüchtlingen, gelegentliche Briefe, die durch die Frontlinien sickern, erfährt Almas mehr und mehr von den “ethnischen Säuberungen” und Massakern, die nun seine ehemalige Heimat in Blutströmen ertränken. Mit Entsetzen begreift er, daß er und seine Familie diesem Los nur knapp entronnen sind (das Cover des Buches zeigt Särge von Opfern von Srebrenica).
Diese Konfrontation Almas’ mit einem unerbittlichen und unerklärlichen Maelstrom, den alle klugen Diplomaten der Welt nicht aufhalten können, und dessen verhängnisvolle Wucht seine wie Halbgötter verehrten Eltern erschreckend verwundbar und sterblich macht und beinahe bricht, steht im Zentrum dieser dunkel gefärbten, eigentümlich stillen und nach innen gekehrten Erinnerungen, die in eine lyrische Meditation über das Schicksal des bosnischen Volkes münden.
Einmal aufgeschlagen, konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen und habe es in einem Zug ausgelesen.
Denial Bahtijaragic: Die Bogomilischen Gräber, 152 Seiten, 25 €.
Niekisch
"Stationen einer vor allem politischen Spurensuche"
Etwas Schöngeistiges zu Weihnachten von Drieu wären "Die Memoiren des Jan Raspe" über Vincent van Gogh.