»Vertikale der Macht« – Thomas Fasbender im Gespräch

Erik Lehnert im Gespräch mit dem Putin-Biographen Thomas Fasbender -- PDF der Druckfassung aus Sezession 107/ April 2022

SEZESSION: Sehr geehr­ter Herr Fas­ben­der, daß Ruß­land welt­po­li­tisch wie­der auf Augen­hö­he agie­ren kann, ver­dankt es einem Mann, dem Sie gera­de eine umfang­rei­che Bio­gra­phie gewid­met haben: Wla­di­mir Putin. Wie lau­te­te sei­ne poli­ti­sche Agen­da, als er im August 1999 zunächst Minis­ter­prä­si­dent und wenig spä­ter Prä­si­dent Ruß­lands wurde?

FASBENDER: Es war der dama­li­ge Prä­si­dent Boris Jel­zin, der nach der tief­grei­fen­den Finanz- und Wirt­schafts­kri­se 1998 erkann­te, daß in der rus­si­schen Poli­tik ein grund­sätz­lich neu­er, von Sta­bi­li­tät und Ord­nung gepräg­ter Kurs von­nö­ten war. Die­sem Schwenk ver­dankt Putin sei­nen ent­schei­den­den Auf­stieg vom Direk­tor des Geheim­diens­tes FSB 1998 an die Staats­spit­ze 2000. Er war der idea­le Kan­di­dat: ein Mann der Staats­si­cher­heit, dem der Mar­xis­mus-Leni­nis­mus nie etwas bedeu­tet hat­te, dafür hin­ge­ge­ben an das Ide­al eines nach innen sta­bi­len und nach außen siche­ren Staats­we­sens. Geo­po­li­tisch ent­spra­chen sei­ne Vor­stel­lun­gen denen der rus­si­schen poli­ti­schen Klas­se. Die war damals davon über­zeugt, daß Ruß­land sich in die Ers­te Welt, also die ent­wi­ckel­ten Indus­trie­län­der, inte­grie­ren und in irgend­ei­ner noch zu defi­nie­ren­den Form gemein­sam mit den USA und Euro­pa die Welt­ge­schi­cke len­ken würde.

SEZESSION: Der gegen­wär­ti­ge Kon­flikt um die Ukrai­ne, der die gan­ze Welt in Atem hält, wird von Putin dar­auf zurück­ge­führt, daß die NATO-Ost­erwei­te­rung gegen Zusa­gen ver­sto­ße, die Ruß­land 1990 gemacht wor­den sei­en. Was hat es damit auf sich?

FASBENDER: Die Archi­ve bele­gen, daß ame­ri­ka­ni­sche und euro­päi­sche Poli­ti­ker in den Jah­ren 1990 / 91 zumin­dest latent miß­ver­ständ­li­che Aus­sa­gen in die­se Rich­tung gemacht haben. In Ruß­land wird heu­te deut­lich kri­ti­siert, daß sol­che Aus­sa­gen nicht zum Inhalt eines Ver­trags­werks wur­den. Der gegen­wär­ti­ge Kon­flikt gehört jedoch in einen grö­ße­ren Kon­text. Für die rus­si­sche Außen­po­li­tik gilt die Dok­trin, daß es jen­seits der West­gren­ze kei­ne domi­nan­te und erst recht kei­ne Mono­pol­macht geben darf. Ein ana­lo­ges Denk­mo­dell exis­tiert in Groß­bri­tan­ni­en. Fak­tisch war das in der Geschich­te zwei­mal der Fall, 1812 und 1941, als die Fran­zo­sen bzw. die Deut­schen das gesam­te kon­ti­nen­ta­le West- und Mit­tel­eu­ro­pa beherrsch­ten. In bei­den Fäl­len waren die Fol­gen für Ruß­land katastrophal.

SEZESSION: War­um hat Ruß­land nichts gegen die ers­ten bei­den Ost­erwei­te­run­gen 1999 und 2004 unternommen?

FASBENDER: Was hät­te es tun sol­len? Für ein mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen war, kei­ne fünf­zehn Jah­re nach dem Zusam­men­bruch der UdSSR, weder der Wil­le noch die Sub­stanz vor­han­den. Bei Ein­tref­fen der Nach­richt der NATO-Bom­bar­die­rung Ser­bi­ens 1999 hat der rus­si­sche Pre­mier­mi­nis­ter Pri­ma­kow, der in die USA unter­wegs war, sein Flug­zeug über dem Atlan­tik umdre­hen las­sen. Viel mehr als sol­che sym­bo­li­schen Akte war nicht drin. Man soll­te aber den Groll nicht unter­schät­zen, der sich seit jenen Jah­ren auf­ge­staut hat. Und der sich jetzt, wo das glo­ba­le geo­po­li­ti­sche Blatt sich gegen den Wes­ten wen­det, Luft macht.

SEZESSION: Laut John J. Mears­hei­mer hat die Ukrai­ne die Krim ver­lo­ren und ist in einen Krieg mit Ruß­land ver­wi­ckelt, weil Ruß­land auf die ukrai­ni­schen Annä­he­rungs­ver­su­che an die NATO gar nicht anders reagie­ren konn­te, wenn es nicht taten­los der Eta­blie­rung einer frem­den Macht vor sei­ner Haus­tür zuse­hen woll­te. Wel­ches Ziel ver­folgt Putin in der Ukraine?

FASBENDER: Wie gesagt, wei­te­re NATO-Mit­glie­der an sei­ner West­gren­ze vom Nord­meer bis zum Schwar­zen Meer wird Ruß­land nicht zulas­sen. Geo­gra­phie ist Schick­sal. Mears­hei­mer hat auch gesagt, daß der klei­ne Nach­bar einer Groß­macht außen­po­li­tisch nicht völ­lig frei agie­ren kann. Bei den ost­sla­wi­schen Staa­ten Ukrai­ne und Bela­rus kommt hin­zu, daß sie gemein­sam mit Ruß­land eine his­to­risch-kul­tu­rel­le Ein­heit bil­den, die soge­nann­te Rus­si­sche Welt. Putin hat des öfte­ren beklagt, daß die­se Ein­heit mit dem Aus­ein­an­der­fal­len der UdSSR zer­bro­chen ist. Es geht Ruß­land aber nicht nur dar­um, daß die Ukrai­ne nicht in die NATO (und die NATO nicht in die Ukrai­ne) kommt. Gesucht wird ein Modus viven­di, der den jeder­zei­ti­gen Aus­bruch eines neu­en Krim­kriegs unmög­lich macht. Als Putins zen­tra­le Zie­le in der gegen­wär­ti­gen Aus­ein­an­der­set­zung sehe ich die Selbst­ver­pflich­tung der Ukrai­ne zu anhal­ten­der Neu­tra­li­tät und zum Ver­zicht auf die mili­tä­ri­sche Rück­erobe­rung der Halbinsel.

SEZESSION: In der Nacht vom 23. zum 24. Febru­ar war sei­ne Geduld offen­bar am Ende: Ruß­land begann mit einer mili­tä­ri­schen Ope­ra­ti­on gegen die Ukrai­ne, die sich bald als Angriffs­krieg ent­pupp­te. Was ist das Ziel die­ses Krie­ges, die Ver­trei­bung der ukrai­ni­schen Regie­rung oder der Anschluß der Ukraine?

FASBENDER: Der rus­si­sche Prä­si­dent muß das Gefühl gehabt haben, sei­ne Inter­es­sen nur auf dem Wege einer Mili­tär­ope­ra­ti­on durch­set­zen zu kön­nen. Daß er damit einen zuneh­mend eska­lie­ren­den Angriffs­krieg vom Zaun gebro­chen hat, ist weder ratio­nal erklär­bar noch mora­lisch ent­schuld­bar. De fac­to ris­kiert er Ruß­lands Stel­lung als Teil der zivi­li­sier­ten Welt. Alle Ruß­land­freun­de, sei­en es Staa­ten oder Indi­vi­du­en, sind durch die Inva­si­on extrem vor den Kopf gesto­ßen. Was hat Putin sich vor­ge­stellt? Da über­fällt er die Ukrai­ne mit gera­de ein­mal 70 000 Mann ent­lang einer Front von an die 2000 Kilo­me­tern. Kei­ne mas­si­ven Pan­zer­spit­zen wie die Wehr­macht 1940 im Wes­ten, son­dern moto­ri­sier­te Infan­te­rie, Fall­schirm­sprin­ger und nächt­li­che Sabo­ta­ge­trupps. Das klei­ne Besteck. Er muß über­zeugt gewe­sen sein, die Ukrai­ner bin­nen ein, zwei Tagen nie­der­zu­rin­gen: Kiew umzin­gelt, die Selen­s­kij-Regie­rung ver­hand­lungs­be­reit oder abge­setzt. Ein rus­si­sches Mario­net­ten­re­gime in Reich­wei­te. Dann ein Sieg­frie­den aus dem Bil­der­buch. Die Ukrai­ne ver­pflich­tet sich zu ewi­ger Neu­tra­li­tät, gewährt ihren natio­na­len Min­der­hei­ten Auto­no­mie, wird erneut zum Puf­fer zwi­schen Ost und West in Euro­pa. Ein irrea­ler Traum. Statt des­sen begrün­det die­ser Krieg eine neue Eis­zeit. Ruß­land wird zum Paria.

SEZESSION: Am Rand der Olym­pi­schen Spie­le in Peking haben sich Chi­na und Ruß­land die Hän­de gereicht und einen Pakt gegen den US-ame­ri­ka­ni­schen Ein­fluß vor ihren Haus­tü­ren geschmie­det. Haben sie damit auch den Grund­stein für eine mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung gelegt?

FASBENDER: Man soll­te die Pekin­ger Insze­nie­rung nicht über­be­wer­ten. Rus­sisch-chi­ne­si­sche Ver­bin­dun­gen sind Ver­nunft­ehen auf Zeit. Die mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung ent­steht ohne­hin nicht nach einem bestimm­ten Plan. Sie ist das Ergeb­nis von Zweck­bünd­nis­sen, Kon­flik­ten und Ein­schät­zun­gen. Zu letz­te­ren gehört die Erkennt­nis, daß der Wes­ten im wirt­schaft­li­chen, tech­no­lo­gi­schen und mili­tä­ri­schen Wett­be­werb zurück­fällt. Chi­na und Ruß­land, aber auch ande­re Län­der, zie­hen dar­aus ihre Schluß­fol­ge­run­gen. Die geo­po­li­ti­schen Ereig­nis­se der 2010er Jah­re, von der Neu­en Sei­den­stra­ße über die Anne­xi­on der Krim bis zur Nicht­an­er­ken­nung der Haa­ger Recht­spre­chung zum Süd­chi­ne­si­schen Meer durch Peking, wären ohne die­se Wahr­neh­mung nicht vor­stell­bar. Der west­li­che Abzug aus Afgha­ni­stan 2021 kam gewis­ser­ma­ßen als letz­te Bestätigung.

SEZESSION: Betrach­ten wir den Lebens­weg des Man­nes, der auf das geo­po­li­ti­sche Spiel­feld wie­der etwas Bewe­gung gebracht hat. Putin stammt aus ein­fa­chen Ver­hält­nis­sen und war bis 1990 für den KGB in der DDR tätig, zuletzt als Major. Was wis­sen wir über sei­ne dama­li­ge Tätigkeit?

FASBENDER: Putin war vier­ein­halb Jah­re in der KGB-Resi­den­tur in Dres­den sta­tio­niert, von 1985 bis Anfang 1990. In die UdSSR zurück­ge­kehrt ist er übri­gens als Oberst­leut­nant. Um die­se Jah­re ran­ken sich Spe­ku­la­tio­nen, Gerüch­te und Über­trei­bun­gen (auch Unter­trei­bun­gen), aber auch eini­ges Beleg­ba­re. In der Bio­gra­phie wid­me ich die­ser Zeit drei­ßig Sei­ten. Putin war wohl haupt­säch­lich damit beschäf­tigt, aus­rei­se­wil­li­ge DDR-Bür­ger als soge­nann­te Funk­agen­ten in der BRD anzu­wer­ben, aus­län­di­sche Stu­den­ten und Mes­se­be­su­cher abzu­schöp­fen sowie Tech­no­lo­gie­spio­na­ge zu betrei­ben. Inter­es­sant ist sei­ne durch Zeu­gen bestä­tig­te Funk­ti­on als Betreu­er von Ter­ro­ris­ten der west­deut­schen RAF und der fran­zö­si­schen Action direc­te. In der letz­ten Pha­se der DDR, als deren Schick­sal abseh­bar war, war er zudem mit dem Auf­bau von KGB-Infor­man­ten unter DDR-Bür­gern befaßt. Legen­där ist auch, wie er Ende 1989 eine auf­ge­brach­te Men­ge vom Sturm der Dres­de­ner Resi­den­tur abhielt.

SEZESSION: Eini­ge Namen aus der Dres­de­ner Zeit tau­chen spä­ter wie­der auf, als Putin sich ins Zen­trum der Macht bewegt. In dem Cha­os der frü­hen 1990er Jah­ren, als die Sowjet­uni­on zer­fiel und Ruß­land von einer Kri­se in die nächs­te tru­del­te, brauch­te es aber sicher mehr als ein paar alte Freun­de, um als Sie­ger ins Ziel zu kommen?

FASBENDER: Die ent­schei­den­de Wen­dung für ­Putins spä­te­res Schick­sal war, daß er 1990 weni­ge Mona­te nach der Rück­kehr aus der DDR in den Stab des spä­te­ren Peters­bur­ger Bür­ger­meis­ters Ana­to­lij Sobt­schak auf­ge­nom­men wur­de. Dort kam sein Talent als Macher oder »Fixer« zur Ent­fal­tung. Schon bald war er so etwas wie Sobt­schaks rech­te Hand, 1992 dann stell­ver­tre­ten­der Bür­ger­meis­ter. An der Sei­te von ­Sobt­schak hat er sich auch gegen den August­putsch 1991 gestellt. Putins Erfah­run­gen mit der rea­len Demo­kra­tie im neo­ka­pi­ta­lis­ti­schen St. Peters­burg der frü­hen Neun­zi­ger haben sei­ne poli­ti­schen Anschau­un­gen und Instink­te ent­schei­dend geprägt. 1996, nach dem abrup­ten Ende der Ära Sobt­schak, hat ihm das per­sön­li­che Netz­werk zu einem Pos­ten im Umkreis der Mos­kau­er Kreml-Admi­nis­tra­ti­on ver­hol­fen. Den kome­ten­haf­ten Auf­stieg ab 1998, zuerst als Ers­ter Stell­ver­tre­ter des Chefs der Prä­si­di­al­ver­wal­tung, kurz dar­auf als FSB-Direk­tor, 1999 als Pre­mier­mi­nis­ter und 2000 als Prä­si­dent, ver­dankt er maß­geb­lich dem Ein­druck, den er bei Prä­si­dent Jel­zin hin­ter­las­sen hat. Das war nicht das Werk obsku­rer grau­er Kar­di­nä­le; sol­che Mythen soll­te man mit einem gro­ßen Korn Salz genießen.

SEZESSION: Mit wel­chen Metho­den und wel­chen Unter­stüt­zern hat Putin sei­ne Macht so fes­ti­gen kön­nen, daß er weit­ge­hend unan­ge­foch­ten regie­ren kann?

FASBENDER: Die ent­schei­den­de Säu­le sei­ner Herr­schaft ist die soge­nann­te Putin-Mehr­heit. Die ent­stand bereits 1999, als er als frisch­ge­ba­cke­ner Pre­mier­mi­nis­ter und gegen den Rat des über­wie­gen­den Teils der poli­ti­schen Klas­se den Zwei­ten Tsche­tsche­ni­en­krieg ent­fach­te. Seit­her hat sie ihn nicht im Stich gelas­sen. Ihre jeder­zei­ti­ge Abruf­bar­keit ist der Zau­ber­stab sei­ner Macht. Dazu bedarf es auch kei­ner groß­ar­ti­gen Wahl­ma­ni­pu­la­tio­nen, die die­nen vor­nehm­lich ande­ren ­Zwe­cken. Maß­nah­men zur Stär­kung des Staa­tes nach innen und außen, auch wenn sie west­li­chen Vor­stel­lun­gen von Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit kraß zuwi­der­lau­fen, bewir­ken in der Regel eine Kon­so­li­die­rung sei­ner Mehr­heit. Das war so 2003 nach der Ver­haf­tung von Michail ­Cho­dor­kow­skij, 2008 nach dem kur­zen Georgien­krieg und 2014 nach der Krim-Anne­xi­on. Auch die zuletzt immer spür­ba­re­re Unter­drü­ckung der Oppo­si­ti­on ändert dar­an nichts.

Die Putin-Mehr­heit wur­zelt in den brei­ten Bevöl­ke­rungs­schich­ten. Unter der ­Intel­li­gen­zi­ja, den jun­gen, urba­nen Mit­tel­schich­ten und den Nach­fah­ren der Nomen­kla­tu­ra, der ­sowje­ti­schen Ober­schicht, fällt die Unter­stüt­zung deut­lich gerin­ger aus. Da west­li­che Aus­län­der vor allem in sol­chen Krei­sen ver­keh­ren, gibt es die Ansicht, die Putin-Mehr­heit sei ein ­Pro­pa­gan­da­phä­no­men und in Wirk­lich­keit sei­en die meis­ten Men­schen kri­tisch ein­ge­stellt. Man kann dem nur ent­geg­nen: Wenn Pro­pa­gan­da so mäch­tig ist, war­um hat sie dann in der UdSSR (oder in der DDR) nicht gewirkt?

Putin ist auch im 23. Jahr sei­ner Herr­schaft der ein­zi­ge Poli­ti­ker, der die unter­schied­li­chen Lager inner­halb der Füh­rungs­eli­te aus­ta­rie­ren kann. Und das nicht zuletzt, weil alle wis­sen, daß nur er in der Lage ist, »sei­ne« Mehr­heit jeder­zeit zu mobi­li­sie­ren. Jeder Nach­fol­ger im Prä­si­den­ten­amt wird gezwun­gen sein, dar­aus eine eige­ne Mehr­heit zu schaf­fen – ansons­ten fehlt ihm inner­halb der Macht­eli­te die ent­schei­den­de Legi­ti­ma­ti­on. Die irgend­wann bevor­ste­hen­de Ope­ra­ti­on Macht­wech­sel (und die Siche­rung von ­Putins per­sön­li­cher Zukunft) wird somit eine ganz außer­or­dent­li­che Her­aus­for­de­rung dar­stel­len, mög­li­cher­wei­se die größ­te in Putins gesam­tem poli­ti­schen Leben.

SEZESSION: Wo sehen Sie Unter­schie­de und Gemein­sam­kei­ten zwi­schen der Demo­kra­tie in Ruß­land und in Deutsch­land, die ja gewis­ser­ma­ßen bei­de gelenkt wer­den, auch wenn hier­zu­lan­de sicher­lich etwas subtiler?

FASBENDER: Sie unter­stel­len eine Ver­gleich­bar­keit, die es nicht gibt. Bei­de Gesell­schaf­ten, die rus­si­sche und die deut­sche, sind von Grund auf ver­schie­den. In Deutsch­land wir­ken tief­ver­wur­zel­te Tra­di­tio­nen der loka­len Teil­ha­be und des Föde­ra­lis­mus; in Ruß­land sieht man im Staat die Obrig­keit, von der viel erwar­tet wird: Sicher­heit, Sta­bi­li­tät, Füh­rung – auch wenn am Ende nur wenig Gutes zu erwar­ten ist. Inso­fern war Putins Wie­der­her­stel­lung der »Ver­ti­ka­le der Macht« für die über­wie­gen­de Mehr­heit eine Erlö­sung nach dem ers­ten post­so­wje­ti­schen Jahr­zehnt. Indi­vi­du­el­le Frei­heits­an­sprü­che wer­den im vor­po­li­ti­schen Raum rea­li­siert, der­weil die Macht in den Hän­den einer klei­nen, sich koop­tie­ren­den Füh­rungs­schicht liegt. Der Begriff »gelenk­te Demo­kra­tie« kenn­zeich­net zudem die ers­te Pha­se von Putins Herr­schaft. Seit Mit­te der 2010er Jah­re hat sich eine Ord­nung eta­bliert, die tref­fen­der mit dem Attri­but auto­ri­tär-popu­lis­tisch beschrie­ben ist. Mit der Wahr­neh­mung des Wes­tens als einer schwin­den­den Grö­ße ver­lie­ren auch die west­li­chen Wer­te an Auto­ri­tät. Das gilt welt­weit. Vor­wür­fe west­li­cher Poli­ti­ker wegen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, unge­nü­gen­den Minderheiten­schutzes oder man­geln­der Rechts­staat­lich­keit ver­hal­len inzwi­schen unge­hört, ob in Chi­na, Ruß­land oder ande­ren Ländern.

SEZESSION: Sie haben selbst lan­ge in Ruß­land gelebt. Wie ist es um den rus­si­schen Rechts­staat bestellt, der in den hie­si­gen Medi­en ja in den grells­ten Far­ben gemalt wird?

FASBENDER: Man muß dif­fe­ren­zie­ren. Glaubt man den Berich­ten aus­län­di­scher Mana­ger, hat sich der Rechts­schutz jeden­falls in Wirt­schafts­an­ge­le­gen­hei­ten unter Putin ins­ge­samt ver­bes­sert. Auch die Klein­kor­rup­ti­on auf der Stra­ße und in Ämtern wur­de in wei­ten Tei­len ein­ge­dämmt. Den­noch darf man den rus­si­schen Rechts­staat nicht an bun­des­deut­schen Maß­stä­ben mes­sen. Wie so oft in Ruß­land gilt auch vor Gericht, daß im Zwei­fel der Stär­ke­re recht behält. Die Kunst besteht dar­in, es gar nicht zur gericht­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung kom­men zu las­sen. Ganz anders sieht es beim Kampf der Mäch­ti­gen gegen die Oppo­si­ti­on aus; da macht der Staat das Recht ziem­lich unver­blümt zum Instru­ment sei­ner Herrschaft.

SEZESSION: An einer Stel­le Ihres Buches erwäh­nen sie drei rus­si­sche Den­ker, denen sich ­Putin ver­pflich­tet fühlt: den sla­wo­phi­len Anti­bol­sche­wis­ten Iwan Iljin, den Reli­gi­ons­phi­lo­so­phen ­Niko­lai Berdja­jew und den Mys­ti­ker ­Wla­di­mir Solo­wjow. Auf den ers­ten Blick eine merk­wür­di­ge Gale­rie für einen Ex-KGB-Mann. Was kön­nen wir dar­aus für Putins poli­ti­sche Agen­da ableiten?

FASBENDER: Die drei Den­ker ver­mit­teln in der Tat eine Vor­stel­lung sei­nes Welt­bilds. Indem er an das 19. Jahr­hun­dert anknüpft, reiht Putin sich ein in die wach­sen­de Zahl eura­si­scher und asia­ti­scher Stim­men, die in der west­li­chen Moder­ne nur ein vor­über­ge­hen­des Phä­no­men sehen, wenn nicht gar einen his­to­ri­schen Irr­weg. Auf gewis­se Wei­se endet unter Putin der »Pivot to Euro­pe«, den Zar Peter I. um 1700 ein­ge­lei­tet hat. Ruß­land fühlt sich wei­ter­hin als Teil Euro­pas, doch wei­te Tei­le der Gesell­schaft gehen auf Distanz zur moder­nen, west­lich-euro­päi­schen Welt­an­schau­ung. Gleich­zei­tig sind pro-euro­päi­sche Sicht­wei­sen unter den gebil­de­ten, urba­nen Schich­ten weit ver­brei­tet. Die lan­ge Pha­se der euro­pä­isch-ame­ri­ka­ni­schen Domi­nanz betrifft und beein­flußt alle Gesell­schaf­ten, welt­weit. Für Ruß­land als das eura­si­sche Land per se gilt das ganz beson­ders. Den­noch geht Ruß­land einen ande­ren als den west­eu­ro­päi­schen Weg. Gut mög­lich, daß es irgend­wann zur Brü­cke zwi­schen dem alten Wes­ten und dem neu­en Osten wird.

SEZESSION: Putin greift gern selbst zur Feder, wenn es dar­um geht, gegen­wär­ti­ge poli­ti­sche Kon­stel­la­tio­nen geschichts­po­li­tisch ein­zu­ord­nen. Neben der Ukrai­ne betrifft das ganz beson­ders das Ver­hält­nis zu Deutsch­land, das immer mal wie­der von ihm the­ma­ti­siert wird. Das Ergeb­nis ist dann meist eine prag­ma­ti­sche Geschichts­klit­te­rung, die von Sta­lins Rol­le bei der Ent­fes­se­lung des Zwei­ten Welt­kriegs nichts ver­lau­ten läßt.

FASBENDER: Die neue rus­si­sche Geschichts­schrei­bung besitzt einen betont inte­gra­ti­ven Cha­rak­ter. Es geht ihr dar­um, Scher­ben zusam­men­zu­fü­gen und Brü­che zu kit­ten, vor allem die kar­di­na­len Brü­che 1917 und 1991. The­men wie Schuld und Ver­ant­wor­tung wer­den dabei leicht unter den Tisch gekehrt; das gilt nach innen wie nach außen. Die Sta­lin­zeit mit ihren Mil­lio­nen Opfern wird als »Ära der Repres­sio­nen« ver­harm­lost. Die Orga­ni­sa­ti­on Memo­ri­al, die sich seit der Pere­stroi­ka der Auf­ar­bei­tung die­ser Zeit wid­met, wur­de letz­tes Jahr ver­bo­ten. Offen­sicht­lich soll der Name Josef Sta­lin allein mit dem Sieg im Gro­ßen Vater­län­di­schen Krieg 1941 – 45 asso­zi­iert wer­den. Mit Blick auf den Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs 1939 hat das einen hef­ti­gen His­to­ri­ker­streit mit Polen aus­ge­löst. Dort las­tet man bei­den Inva­so­ren, Deutsch­land und der UdSSR, die gemein­sa­me Kriegs­schuld an. Wobei inter­es­sant ist, daß Polen damals nicht mit einer Kriegs­er­klä­rung auf den sowje­ti­schen Ein­marsch reagiert hat. Auch Lon­don hat­te die bri­ti­sche Bei­stands­ga­ran­tie auf einen deut­schen Angriff beschränkt. Laut der rus­si­schen Argu­men­ta­ti­on ging es Sta­lin bei der Unter­zeich­nung des Nicht­an­griffs­pakts mit Deutsch­land nicht um die Anzet­te­lung eines Wel­ten­brands, son­dern um die Wie­der­her­stel­lung der 1921 im Frie­den von Riga ver­lo­re­nen sowje­ti­schen Gebie­te. Die­se Aus­ein­an­der­set­zung wird sich noch lan­ge hinziehen.

SEZESSION: Wel­che Rol­le spielt Deutsch­land in ­Putins poli­ti­schen Plä­nen? Und wel­che Hal­tung soll­te Deutsch­land zu Ruß­land ein­neh­men, wenn wir uns ein­mal die unwahr­schein­li­che Mög­lich­keit einer sou­ve­rä­nen Außen­po­li­tik vorstellen?

FASBENDER: Deutsch­land betreibt sei­ne Außen­po­li­tik auch heu­te als sou­ve­rä­ner Staat. Nur hat sich die poli­ti­sche Klas­se der Bun­des­re­pu­blik ent­schie­den, bestimm­te Sou­ve­rä­ni­täts­rech­te an die Orga­ne der Euro­päi­schen Uni­on zu dele­gie­ren. Zudem koor­di­niert die deut­sche Regie­rung ihre Außen­po­li­tik eng mit den EU- und NATO-Part­nern. Die Fra­ge zielt wahr­schein­lich dar­auf ab, wie eine an natio­nal­staat­li­chen Inter­es­sen aus­ge­rich­te­te deut­sche Ruß­land­po­li­tik aus­sä­he. Der Gedan­ke ist berech­tigt; ich bin über­zeugt, daß die EU mit ihrem geo­po­li­ti­schen Anspruch schei­tern wird. Ruß­land hat das erkannt; nicht umsonst lau­fen die Ver­hand­lun­gen in der gegen­wär­ti­gen Kri­se zwi­schen Mos­kau und Washington.

Oder den­ken Sie an die zen­tri­fu­ga­le Dyna­mik in Ost­mit­tel­eu­ro­pa, sol­che ehr­gei­zi­gen Kon­zep­te wie Visegrád, Inter­ma­ri­um oder das neue Lub­lin-Drei­eck. Ost­mit­tel­eu­ro­pa war bis in die Mit­te des 20. Jahr­hun­derts durch Deutsch­land, bis 1918 auch durch das Habs­bur­ger Reich mit­ge­prägt. Das rus­si­sche Deutsch­land­bild spie­gel­te lan­ge Zeit die­se unter­ge­gan­ge­nen Ver­hält­nis­se. Das ändert sich erst im 21. Jahr­hun­dert. Der nach 1945 ver­blie­be­ne Rumpf­staat Deutsch­land glänzt (noch) als Wirt­schafts­macht, besitzt aber kei­ner­lei geo­po­li­ti­sches Gewicht. Wenn die EU sich als geo­po­li­ti­scher Fak­tor nicht eta­bliert (und sie wird sich nicht eta­blie­ren), bleibt den west­eu­ro­päi­schen Alt­mäch­ten eine Rand­exis­tenz in der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Islam und dem Migra­ti­ons­druck aus dem Süden.

Ich erin­ne­re an die Pro­gno­sen des US-Geo­stra­te­gen Geor­ge Fried­man von 2009: Groß­bri­tan­ni­en wen­det dem Kon­ti­nent den ­Rücken zu, Frank­reich und Deutsch­land ver­lie­ren mas­siv an Bedeu­tung, die Ostmittel­europäer mit Polen im Zen­trum ste­hen vor einem Come-back. Für die 2020er Jah­re sagt Fried­man ein rus­si­sches Deba­kel vor­aus. Putin hat also allen Grund, die End­pha­se sei­ner Herr­schaft mit größ­ter Umsicht anzu­ge­hen. Die deut­schen Zie­le sind offen­sicht­lich: sich nicht zu Zwe­cken der US-Geo­po­li­tik miß­brauchen zu las­sen, nicht zum Schau­platz eines neu­en Krie­ges zu wer­den und alles dar­an­zu­set­zen, daß die his­to­risch-kul­tu­rel­le Ein­heit Euro­pas, und zwar von Por­tu­gal bis Ruß­land, nicht ganz vor die Hun­de geht.

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