SEZESSION: Sehr geehrter Herr Fasbender, daß Rußland weltpolitisch wieder auf Augenhöhe agieren kann, verdankt es einem Mann, dem Sie gerade eine umfangreiche Biographie gewidmet haben: Wladimir Putin. Wie lautete seine politische Agenda, als er im August 1999 zunächst Ministerpräsident und wenig später Präsident Rußlands wurde?
FASBENDER: Es war der damalige Präsident Boris Jelzin, der nach der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise 1998 erkannte, daß in der russischen Politik ein grundsätzlich neuer, von Stabilität und Ordnung geprägter Kurs vonnöten war. Diesem Schwenk verdankt Putin seinen entscheidenden Aufstieg vom Direktor des Geheimdienstes FSB 1998 an die Staatsspitze 2000. Er war der ideale Kandidat: ein Mann der Staatssicherheit, dem der Marxismus-Leninismus nie etwas bedeutet hatte, dafür hingegeben an das Ideal eines nach innen stabilen und nach außen sicheren Staatswesens. Geopolitisch entsprachen seine Vorstellungen denen der russischen politischen Klasse. Die war damals davon überzeugt, daß Rußland sich in die Erste Welt, also die entwickelten Industrieländer, integrieren und in irgendeiner noch zu definierenden Form gemeinsam mit den USA und Europa die Weltgeschicke lenken würde.
SEZESSION: Der gegenwärtige Konflikt um die Ukraine, der die ganze Welt in Atem hält, wird von Putin darauf zurückgeführt, daß die NATO-Osterweiterung gegen Zusagen verstoße, die Rußland 1990 gemacht worden seien. Was hat es damit auf sich?
FASBENDER: Die Archive belegen, daß amerikanische und europäische Politiker in den Jahren 1990 / 91 zumindest latent mißverständliche Aussagen in diese Richtung gemacht haben. In Rußland wird heute deutlich kritisiert, daß solche Aussagen nicht zum Inhalt eines Vertragswerks wurden. Der gegenwärtige Konflikt gehört jedoch in einen größeren Kontext. Für die russische Außenpolitik gilt die Doktrin, daß es jenseits der Westgrenze keine dominante und erst recht keine Monopolmacht geben darf. Ein analoges Denkmodell existiert in Großbritannien. Faktisch war das in der Geschichte zweimal der Fall, 1812 und 1941, als die Franzosen bzw. die Deutschen das gesamte kontinentale West- und Mitteleuropa beherrschten. In beiden Fällen waren die Folgen für Rußland katastrophal.
SEZESSION: Warum hat Rußland nichts gegen die ersten beiden Osterweiterungen 1999 und 2004 unternommen?
FASBENDER: Was hätte es tun sollen? Für ein militärisches Eingreifen war, keine fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR, weder der Wille noch die Substanz vorhanden. Bei Eintreffen der Nachricht der NATO-Bombardierung Serbiens 1999 hat der russische Premierminister Primakow, der in die USA unterwegs war, sein Flugzeug über dem Atlantik umdrehen lassen. Viel mehr als solche symbolischen Akte war nicht drin. Man sollte aber den Groll nicht unterschätzen, der sich seit jenen Jahren aufgestaut hat. Und der sich jetzt, wo das globale geopolitische Blatt sich gegen den Westen wendet, Luft macht.
SEZESSION: Laut John J. Mearsheimer hat die Ukraine die Krim verloren und ist in einen Krieg mit Rußland verwickelt, weil Rußland auf die ukrainischen Annäherungsversuche an die NATO gar nicht anders reagieren konnte, wenn es nicht tatenlos der Etablierung einer fremden Macht vor seiner Haustür zusehen wollte. Welches Ziel verfolgt Putin in der Ukraine?
FASBENDER: Wie gesagt, weitere NATO-Mitglieder an seiner Westgrenze vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer wird Rußland nicht zulassen. Geographie ist Schicksal. Mearsheimer hat auch gesagt, daß der kleine Nachbar einer Großmacht außenpolitisch nicht völlig frei agieren kann. Bei den ostslawischen Staaten Ukraine und Belarus kommt hinzu, daß sie gemeinsam mit Rußland eine historisch-kulturelle Einheit bilden, die sogenannte Russische Welt. Putin hat des öfteren beklagt, daß diese Einheit mit dem Auseinanderfallen der UdSSR zerbrochen ist. Es geht Rußland aber nicht nur darum, daß die Ukraine nicht in die NATO (und die NATO nicht in die Ukraine) kommt. Gesucht wird ein Modus vivendi, der den jederzeitigen Ausbruch eines neuen Krimkriegs unmöglich macht. Als Putins zentrale Ziele in der gegenwärtigen Auseinandersetzung sehe ich die Selbstverpflichtung der Ukraine zu anhaltender Neutralität und zum Verzicht auf die militärische Rückeroberung der Halbinsel.
SEZESSION: In der Nacht vom 23. zum 24. Februar war seine Geduld offenbar am Ende: Rußland begann mit einer militärischen Operation gegen die Ukraine, die sich bald als Angriffskrieg entpuppte. Was ist das Ziel dieses Krieges, die Vertreibung der ukrainischen Regierung oder der Anschluß der Ukraine?
FASBENDER: Der russische Präsident muß das Gefühl gehabt haben, seine Interessen nur auf dem Wege einer Militäroperation durchsetzen zu können. Daß er damit einen zunehmend eskalierenden Angriffskrieg vom Zaun gebrochen hat, ist weder rational erklärbar noch moralisch entschuldbar. De facto riskiert er Rußlands Stellung als Teil der zivilisierten Welt. Alle Rußlandfreunde, seien es Staaten oder Individuen, sind durch die Invasion extrem vor den Kopf gestoßen. Was hat Putin sich vorgestellt? Da überfällt er die Ukraine mit gerade einmal 70 000 Mann entlang einer Front von an die 2000 Kilometern. Keine massiven Panzerspitzen wie die Wehrmacht 1940 im Westen, sondern motorisierte Infanterie, Fallschirmspringer und nächtliche Sabotagetrupps. Das kleine Besteck. Er muß überzeugt gewesen sein, die Ukrainer binnen ein, zwei Tagen niederzuringen: Kiew umzingelt, die Selenskij-Regierung verhandlungsbereit oder abgesetzt. Ein russisches Marionettenregime in Reichweite. Dann ein Siegfrieden aus dem Bilderbuch. Die Ukraine verpflichtet sich zu ewiger Neutralität, gewährt ihren nationalen Minderheiten Autonomie, wird erneut zum Puffer zwischen Ost und West in Europa. Ein irrealer Traum. Statt dessen begründet dieser Krieg eine neue Eiszeit. Rußland wird zum Paria.
SEZESSION: Am Rand der Olympischen Spiele in Peking haben sich China und Rußland die Hände gereicht und einen Pakt gegen den US-amerikanischen Einfluß vor ihren Haustüren geschmiedet. Haben sie damit auch den Grundstein für eine multipolare Weltordnung gelegt?
FASBENDER: Man sollte die Pekinger Inszenierung nicht überbewerten. Russisch-chinesische Verbindungen sind Vernunftehen auf Zeit. Die multipolare Weltordnung entsteht ohnehin nicht nach einem bestimmten Plan. Sie ist das Ergebnis von Zweckbündnissen, Konflikten und Einschätzungen. Zu letzteren gehört die Erkenntnis, daß der Westen im wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Wettbewerb zurückfällt. China und Rußland, aber auch andere Länder, ziehen daraus ihre Schlußfolgerungen. Die geopolitischen Ereignisse der 2010er Jahre, von der Neuen Seidenstraße über die Annexion der Krim bis zur Nichtanerkennung der Haager Rechtsprechung zum Südchinesischen Meer durch Peking, wären ohne diese Wahrnehmung nicht vorstellbar. Der westliche Abzug aus Afghanistan 2021 kam gewissermaßen als letzte Bestätigung.
SEZESSION: Betrachten wir den Lebensweg des Mannes, der auf das geopolitische Spielfeld wieder etwas Bewegung gebracht hat. Putin stammt aus einfachen Verhältnissen und war bis 1990 für den KGB in der DDR tätig, zuletzt als Major. Was wissen wir über seine damalige Tätigkeit?
FASBENDER: Putin war viereinhalb Jahre in der KGB-Residentur in Dresden stationiert, von 1985 bis Anfang 1990. In die UdSSR zurückgekehrt ist er übrigens als Oberstleutnant. Um diese Jahre ranken sich Spekulationen, Gerüchte und Übertreibungen (auch Untertreibungen), aber auch einiges Belegbare. In der Biographie widme ich dieser Zeit dreißig Seiten. Putin war wohl hauptsächlich damit beschäftigt, ausreisewillige DDR-Bürger als sogenannte Funkagenten in der BRD anzuwerben, ausländische Studenten und Messebesucher abzuschöpfen sowie Technologiespionage zu betreiben. Interessant ist seine durch Zeugen bestätigte Funktion als Betreuer von Terroristen der westdeutschen RAF und der französischen Action directe. In der letzten Phase der DDR, als deren Schicksal absehbar war, war er zudem mit dem Aufbau von KGB-Informanten unter DDR-Bürgern befaßt. Legendär ist auch, wie er Ende 1989 eine aufgebrachte Menge vom Sturm der Dresdener Residentur abhielt.
SEZESSION: Einige Namen aus der Dresdener Zeit tauchen später wieder auf, als Putin sich ins Zentrum der Macht bewegt. In dem Chaos der frühen 1990er Jahren, als die Sowjetunion zerfiel und Rußland von einer Krise in die nächste trudelte, brauchte es aber sicher mehr als ein paar alte Freunde, um als Sieger ins Ziel zu kommen?
FASBENDER: Die entscheidende Wendung für Putins späteres Schicksal war, daß er 1990 wenige Monate nach der Rückkehr aus der DDR in den Stab des späteren Petersburger Bürgermeisters Anatolij Sobtschak aufgenommen wurde. Dort kam sein Talent als Macher oder »Fixer« zur Entfaltung. Schon bald war er so etwas wie Sobtschaks rechte Hand, 1992 dann stellvertretender Bürgermeister. An der Seite von Sobtschak hat er sich auch gegen den Augustputsch 1991 gestellt. Putins Erfahrungen mit der realen Demokratie im neokapitalistischen St. Petersburg der frühen Neunziger haben seine politischen Anschauungen und Instinkte entscheidend geprägt. 1996, nach dem abrupten Ende der Ära Sobtschak, hat ihm das persönliche Netzwerk zu einem Posten im Umkreis der Moskauer Kreml-Administration verholfen. Den kometenhaften Aufstieg ab 1998, zuerst als Erster Stellvertreter des Chefs der Präsidialverwaltung, kurz darauf als FSB-Direktor, 1999 als Premierminister und 2000 als Präsident, verdankt er maßgeblich dem Eindruck, den er bei Präsident Jelzin hinterlassen hat. Das war nicht das Werk obskurer grauer Kardinäle; solche Mythen sollte man mit einem großen Korn Salz genießen.
SEZESSION: Mit welchen Methoden und welchen Unterstützern hat Putin seine Macht so festigen können, daß er weitgehend unangefochten regieren kann?
FASBENDER: Die entscheidende Säule seiner Herrschaft ist die sogenannte Putin-Mehrheit. Die entstand bereits 1999, als er als frischgebackener Premierminister und gegen den Rat des überwiegenden Teils der politischen Klasse den Zweiten Tschetschenienkrieg entfachte. Seither hat sie ihn nicht im Stich gelassen. Ihre jederzeitige Abrufbarkeit ist der Zauberstab seiner Macht. Dazu bedarf es auch keiner großartigen Wahlmanipulationen, die dienen vornehmlich anderen Zwecken. Maßnahmen zur Stärkung des Staates nach innen und außen, auch wenn sie westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit kraß zuwiderlaufen, bewirken in der Regel eine Konsolidierung seiner Mehrheit. Das war so 2003 nach der Verhaftung von Michail Chodorkowskij, 2008 nach dem kurzen Georgienkrieg und 2014 nach der Krim-Annexion. Auch die zuletzt immer spürbarere Unterdrückung der Opposition ändert daran nichts.
Die Putin-Mehrheit wurzelt in den breiten Bevölkerungsschichten. Unter der Intelligenzija, den jungen, urbanen Mittelschichten und den Nachfahren der Nomenklatura, der sowjetischen Oberschicht, fällt die Unterstützung deutlich geringer aus. Da westliche Ausländer vor allem in solchen Kreisen verkehren, gibt es die Ansicht, die Putin-Mehrheit sei ein Propagandaphänomen und in Wirklichkeit seien die meisten Menschen kritisch eingestellt. Man kann dem nur entgegnen: Wenn Propaganda so mächtig ist, warum hat sie dann in der UdSSR (oder in der DDR) nicht gewirkt?
Putin ist auch im 23. Jahr seiner Herrschaft der einzige Politiker, der die unterschiedlichen Lager innerhalb der Führungselite austarieren kann. Und das nicht zuletzt, weil alle wissen, daß nur er in der Lage ist, »seine« Mehrheit jederzeit zu mobilisieren. Jeder Nachfolger im Präsidentenamt wird gezwungen sein, daraus eine eigene Mehrheit zu schaffen – ansonsten fehlt ihm innerhalb der Machtelite die entscheidende Legitimation. Die irgendwann bevorstehende Operation Machtwechsel (und die Sicherung von Putins persönlicher Zukunft) wird somit eine ganz außerordentliche Herausforderung darstellen, möglicherweise die größte in Putins gesamtem politischen Leben.
SEZESSION: Wo sehen Sie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Demokratie in Rußland und in Deutschland, die ja gewissermaßen beide gelenkt werden, auch wenn hierzulande sicherlich etwas subtiler?
FASBENDER: Sie unterstellen eine Vergleichbarkeit, die es nicht gibt. Beide Gesellschaften, die russische und die deutsche, sind von Grund auf verschieden. In Deutschland wirken tiefverwurzelte Traditionen der lokalen Teilhabe und des Föderalismus; in Rußland sieht man im Staat die Obrigkeit, von der viel erwartet wird: Sicherheit, Stabilität, Führung – auch wenn am Ende nur wenig Gutes zu erwarten ist. Insofern war Putins Wiederherstellung der »Vertikale der Macht« für die überwiegende Mehrheit eine Erlösung nach dem ersten postsowjetischen Jahrzehnt. Individuelle Freiheitsansprüche werden im vorpolitischen Raum realisiert, derweil die Macht in den Händen einer kleinen, sich kooptierenden Führungsschicht liegt. Der Begriff »gelenkte Demokratie« kennzeichnet zudem die erste Phase von Putins Herrschaft. Seit Mitte der 2010er Jahre hat sich eine Ordnung etabliert, die treffender mit dem Attribut autoritär-populistisch beschrieben ist. Mit der Wahrnehmung des Westens als einer schwindenden Größe verlieren auch die westlichen Werte an Autorität. Das gilt weltweit. Vorwürfe westlicher Politiker wegen Menschenrechtsverletzungen, ungenügenden Minderheitenschutzes oder mangelnder Rechtsstaatlichkeit verhallen inzwischen ungehört, ob in China, Rußland oder anderen Ländern.
SEZESSION: Sie haben selbst lange in Rußland gelebt. Wie ist es um den russischen Rechtsstaat bestellt, der in den hiesigen Medien ja in den grellsten Farben gemalt wird?
FASBENDER: Man muß differenzieren. Glaubt man den Berichten ausländischer Manager, hat sich der Rechtsschutz jedenfalls in Wirtschaftsangelegenheiten unter Putin insgesamt verbessert. Auch die Kleinkorruption auf der Straße und in Ämtern wurde in weiten Teilen eingedämmt. Dennoch darf man den russischen Rechtsstaat nicht an bundesdeutschen Maßstäben messen. Wie so oft in Rußland gilt auch vor Gericht, daß im Zweifel der Stärkere recht behält. Die Kunst besteht darin, es gar nicht zur gerichtlichen Auseinandersetzung kommen zu lassen. Ganz anders sieht es beim Kampf der Mächtigen gegen die Opposition aus; da macht der Staat das Recht ziemlich unverblümt zum Instrument seiner Herrschaft.
SEZESSION: An einer Stelle Ihres Buches erwähnen sie drei russische Denker, denen sich Putin verpflichtet fühlt: den slawophilen Antibolschewisten Iwan Iljin, den Religionsphilosophen Nikolai Berdjajew und den Mystiker Wladimir Solowjow. Auf den ersten Blick eine merkwürdige Galerie für einen Ex-KGB-Mann. Was können wir daraus für Putins politische Agenda ableiten?
FASBENDER: Die drei Denker vermitteln in der Tat eine Vorstellung seines Weltbilds. Indem er an das 19. Jahrhundert anknüpft, reiht Putin sich ein in die wachsende Zahl eurasischer und asiatischer Stimmen, die in der westlichen Moderne nur ein vorübergehendes Phänomen sehen, wenn nicht gar einen historischen Irrweg. Auf gewisse Weise endet unter Putin der »Pivot to Europe«, den Zar Peter I. um 1700 eingeleitet hat. Rußland fühlt sich weiterhin als Teil Europas, doch weite Teile der Gesellschaft gehen auf Distanz zur modernen, westlich-europäischen Weltanschauung. Gleichzeitig sind pro-europäische Sichtweisen unter den gebildeten, urbanen Schichten weit verbreitet. Die lange Phase der europäisch-amerikanischen Dominanz betrifft und beeinflußt alle Gesellschaften, weltweit. Für Rußland als das eurasische Land per se gilt das ganz besonders. Dennoch geht Rußland einen anderen als den westeuropäischen Weg. Gut möglich, daß es irgendwann zur Brücke zwischen dem alten Westen und dem neuen Osten wird.
SEZESSION: Putin greift gern selbst zur Feder, wenn es darum geht, gegenwärtige politische Konstellationen geschichtspolitisch einzuordnen. Neben der Ukraine betrifft das ganz besonders das Verhältnis zu Deutschland, das immer mal wieder von ihm thematisiert wird. Das Ergebnis ist dann meist eine pragmatische Geschichtsklitterung, die von Stalins Rolle bei der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs nichts verlauten läßt.
FASBENDER: Die neue russische Geschichtsschreibung besitzt einen betont integrativen Charakter. Es geht ihr darum, Scherben zusammenzufügen und Brüche zu kitten, vor allem die kardinalen Brüche 1917 und 1991. Themen wie Schuld und Verantwortung werden dabei leicht unter den Tisch gekehrt; das gilt nach innen wie nach außen. Die Stalinzeit mit ihren Millionen Opfern wird als »Ära der Repressionen« verharmlost. Die Organisation Memorial, die sich seit der Perestroika der Aufarbeitung dieser Zeit widmet, wurde letztes Jahr verboten. Offensichtlich soll der Name Josef Stalin allein mit dem Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1941 – 45 assoziiert werden. Mit Blick auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 hat das einen heftigen Historikerstreit mit Polen ausgelöst. Dort lastet man beiden Invasoren, Deutschland und der UdSSR, die gemeinsame Kriegsschuld an. Wobei interessant ist, daß Polen damals nicht mit einer Kriegserklärung auf den sowjetischen Einmarsch reagiert hat. Auch London hatte die britische Beistandsgarantie auf einen deutschen Angriff beschränkt. Laut der russischen Argumentation ging es Stalin bei der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts mit Deutschland nicht um die Anzettelung eines Weltenbrands, sondern um die Wiederherstellung der 1921 im Frieden von Riga verlorenen sowjetischen Gebiete. Diese Auseinandersetzung wird sich noch lange hinziehen.
SEZESSION: Welche Rolle spielt Deutschland in Putins politischen Plänen? Und welche Haltung sollte Deutschland zu Rußland einnehmen, wenn wir uns einmal die unwahrscheinliche Möglichkeit einer souveränen Außenpolitik vorstellen?
FASBENDER: Deutschland betreibt seine Außenpolitik auch heute als souveräner Staat. Nur hat sich die politische Klasse der Bundesrepublik entschieden, bestimmte Souveränitätsrechte an die Organe der Europäischen Union zu delegieren. Zudem koordiniert die deutsche Regierung ihre Außenpolitik eng mit den EU- und NATO-Partnern. Die Frage zielt wahrscheinlich darauf ab, wie eine an nationalstaatlichen Interessen ausgerichtete deutsche Rußlandpolitik aussähe. Der Gedanke ist berechtigt; ich bin überzeugt, daß die EU mit ihrem geopolitischen Anspruch scheitern wird. Rußland hat das erkannt; nicht umsonst laufen die Verhandlungen in der gegenwärtigen Krise zwischen Moskau und Washington.
Oder denken Sie an die zentrifugale Dynamik in Ostmitteleuropa, solche ehrgeizigen Konzepte wie Visegrád, Intermarium oder das neue Lublin-Dreieck. Ostmitteleuropa war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts durch Deutschland, bis 1918 auch durch das Habsburger Reich mitgeprägt. Das russische Deutschlandbild spiegelte lange Zeit diese untergegangenen Verhältnisse. Das ändert sich erst im 21. Jahrhundert. Der nach 1945 verbliebene Rumpfstaat Deutschland glänzt (noch) als Wirtschaftsmacht, besitzt aber keinerlei geopolitisches Gewicht. Wenn die EU sich als geopolitischer Faktor nicht etabliert (und sie wird sich nicht etablieren), bleibt den westeuropäischen Altmächten eine Randexistenz in der Auseinandersetzung mit dem Islam und dem Migrationsdruck aus dem Süden.
Ich erinnere an die Prognosen des US-Geostrategen George Friedman von 2009: Großbritannien wendet dem Kontinent den Rücken zu, Frankreich und Deutschland verlieren massiv an Bedeutung, die Ostmitteleuropäer mit Polen im Zentrum stehen vor einem Come-back. Für die 2020er Jahre sagt Friedman ein russisches Debakel voraus. Putin hat also allen Grund, die Endphase seiner Herrschaft mit größter Umsicht anzugehen. Die deutschen Ziele sind offensichtlich: sich nicht zu Zwecken der US-Geopolitik mißbrauchen zu lassen, nicht zum Schauplatz eines neuen Krieges zu werden und alles daranzusetzen, daß die historisch-kulturelle Einheit Europas, und zwar von Portugal bis Rußland, nicht ganz vor die Hunde geht.