Literalität – LiteRarität

Die Lesekompetenzen deutscher Kinder nehmen weiter dramatisch ab.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Der IQB-Bil­dungs­trend und eine aktu­el­le Stu­die der Kul­tus­mi­nis­ter­kon­fe­renz zur Grund­schu­le wei­sen das aus. Hier wur­de das bereits thematisiert.

Grund für den Schwund an ele­men­ta­ren Befä­hi­gun­gen ist das Schul­sys­tem selbst. Fal­sche Ent­schei­dun­gen der Bil­dungs­po­li­tik führ­ten dazu, daß die Schu­le in ihren Kern­be­rei­chen mitt­ler­wei­le dys­funk­tio­nal erscheint; es gelingt ihr immer weni­ger, kul­tu­rel­le Stan­dards zu ver­mit­teln, die vor Jahr­zehn­ten ganz selbst­ver­ständ­lich waren. Die Lehr­kräf­te sind enga­giert und rin­gen mehr denn je mit enor­men Belas­tun­gen, lau­fen aber meist kri­tik­los und auto­ri­täts­gläu­big in fal­scher Rich­tung mit.

Schon weil genau jene Päd­ago­gik noch wei­ter for­ciert wird, die in das Dilem­ma führ­te, ist von der gegen­wär­ti­gen Poli­tik und ihrer frag­wür­di­gen Anthro­po­lo­gie kei­ne Bes­se­rung zu erwar­ten. Aktu­ell ver­spricht man sich die vor­zugs­wei­se von tech­ni­schen Inno­va­tio­nen, also von Lap­top- und Tablet-Klas­sen und von teu­ren Smart-Boards. Auf­rüs­tung der Peri­phe­rie bei hoh­len Ker­nen. Die neu­en Gerä­te wer­den über ihre Funk­ti­on als Werk­zeu­ge hin­aus feti­schi­siert, als wür­de ein Mit­tel, ein Medi­um, ein Tool aus­glei­chen kön­nen, was an Inhal­ten und Befä­hi­gun­gen fehlt.

Die Digi­ta­li­sie­rung kann wegen der inves­tier­ten Mil­li­ar­den durch­aus funk­tio­nie­ren, aber das wird bei der nach­zu­ho­len­den Alpha­be­ti­sie­rung und Lite­r­a­ri­sie­rung nicht hel­fen. Gar nicht, im Gegen­teil. Dazu bedürf­te es ver­än­der­ter Ziel­stel­lun­gen und eher einer Rück­be­sin­nung auf ruhi­ges und gründ­li­ches Ver­mit­teln von Grund­be­fä­hi­gun­gen und auf den rei­chen Fun­dus lite­ra­ri­schen Erbes. Das ner­vö­se Kli­cken und Weg­kli­cken, Scrol­len und Wischen ver­stärkt das Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit­syn­drom, aber Lese­bü­cher, über Jahr­zehn­te der Ein­tritt in die Lite­ra­tur, gel­ten als unmo­dern und wer­den daher kaum mehr ver­legt, soge­nann­te Ganz­schrif­ten über­dies immer weni­ger voll­stän­dig gelesen.

Im Sin­ne ver­meint­li­cher Bil­dungs­ge­rech­tig­keit und Inklu­si­on sind seit drei­ßig Jah­ren Inhal­te redu­ziert, Anfor­de­run­gen gesenkt und Bewer­tun­gen infla­tio­niert wor­den. Inter­es­san­te und her­aus­for­dern­de The­men ver­schwan­den zuguns­ten der Her­aus­bil­dung soge­nann­ter Metho­den­kom­pe­tenz. Indem man Inhal­te aus­dünn­te und auf ech­te Qua­li­fi­ka­ti­on ver­zich­te­te, wur­de der Unter­richt nicht nur weni­ger anspruchs­voll, son­dern damit lang­wei­li­ger und fader. Inspi­ra­ti­on kann nur noch von beson­de­ren Leh­rer­per­sön­lich­kei­ten aus­ge­hen, die inof­fi­zi­ell anti­zy­klisch unter­wegs sind und über eine Bil­dung ver­fü­gen, die das Berufs­bild selbst nicht mehr vor­aus­setzt.

Wes­halb aber über­haupt lesen, wofür Lite­ra­tur? – Die Kul­tus­bü­ro­kra­tie, häu­fig von Nicht­le­sern besetzt, faßt das Lesen­kön­nen all­zu tech­nisch und rein prag­ma­tisch als eine „Kom­pe­tenz“ auf, so als bräuch­te es die um ihrer selbst wil­len. Schü­ler sol­len ein­fach lesen kön­nen, klar. Aber Lesen und Lite­ra­tur sind mehr als eine blo­ße Tech­nik, und wenn das Ver­mö­gen immer wei­ter ver­lo­ren geht, fehlt damit mehr als nur eine blo­ße Befä­hi­gung zu irgendwas.

Die Ent­wick­lung des Men­schen beglei­te­te sein Bedürf­nis, Geschich­ten zu erzäh­len und zu hören. Die­se fik­tio­na­len Erzäh­lun­gen lie­ßen uns von jeher auf­mer­ken, gera­de wenn sie der Phan­ta­sie ent­spran­gen; sie übten unser anpas­sungs­ori­en­tier­tes Bewußt­sein und gaben unse­rem Sozi­al­le­ben wich­ti­ge Impul­se. An Lite­ra­tur konn­te unser Geist für die Wirk­lich­keit pro­ben. Jedes Kind bekommt gern etwas vor­ge­le­sen; es spürt ganz ursprüng­lich die Anzie­hungs­kraft des Fiktionalen.

Ste­ven Pin­ker beschreibt das so:

„Das Leben ist wie ein Schach­spiel, und Geschich­ten sind gewis­ser­ma­ßen Bücher mit berühm­ten Schach­par­tien, die gute Spie­ler stu­die­ren, damit sie auf ähn­li­che Situa­tio­nen vor­be­rei­tet sind.“ – Unse­rem Geist wird also ein Erfah­rungs­schatz ver­mit­telt, auf des­sen Grund­la­ge er sich selbst aus­pro­bie­ren kann.

Was genau aber zieht uns an Erzäh­lun­gen, an Lite­ra­tur an, was löst die Span­nung in uns aus? –

Der Kern allen Erzäh­lens und jedes Dra­mas ist der Kon­flikt. Lesend wer­den wir Zeu­ge von Schwie­rig­kei­ten, von Ärger, Not und dem Rin­gen mit Lei­den­schaf­ten, uns wer­den tie­fe Schuld und ver­zwei­fel­te Süh­ne geschil­dert. Wir sind davon gefes­selt, wie die lite­ra­ri­schen Gestal­ten ihre Zie­le ver­fol­gen und dabei Wider­stän­de über­win­den – oder wie sie tra­gisch schei­tern müs­sen. Ohne das Erleb­nis die­ser uns selbst grund­ver­trau­ten Kon­flik­te, die­ses mensch­li­chen Dra­mas wür­den wir nicht wei­ter­le­sen, son­dern uns langweilen.

Es soll also dra­ma­tisch sein, es soll uns packen, im Kri­mi, im Thril­ler bis ins Extrem, auf daß wir unse­re Erfah­run­gen mit dem Gele­se­nen abglei­chen, uns dabei posi­tio­nie­ren, mit den Gestal­ten mit­fie­bern und ihre Situa­tio­nen und Hand­lun­gen per­ma­nent beur­tei­len. Wir lesen, weil wir uns mit den Hel­den der Lite­ra­tur ver­glei­chen wol­len; wir glei­chen unse­re Erfah­run­gen und Wahr­neh­mun­gen mit ihnen ab, wir fra­gen uns: Wie wür­de ich mich in die­sem Kon­flikt verhalten?

Wir ord­nen uns ein, so wie wir das in tat­säch­li­chen Kon­flik­ten des All­tags eben­so tun. Wir üben uns, lesend, fürs Leben; wir ent­de­cken lite­ra­ri­sche Figu­ren, die wir vor­bild­lich fin­den und bewun­dern, und wir has­sen deren Gegen­spie­ler. Jedes Buch stellt also eine umfas­sen­de kogni­ti­ve und emo­tio­na­le Trai­nings­ein­heit dar.

Mit Joy­ce Carol Oates ist das Lesen „das ein­zi­ge Mit­tel, mit dem wir unwill­kür­lich und oft hilf­los in die Haut eines ande­ren schlüp­fen, in die Stim­me des ande­ren, in die See­le des ande­ren … und in ein Bewußt­sein ein­tre­ten, das uns nicht bekannt ist.“

Kön­nen Her­an­wach­sen­de immer weni­ger lesen, so fehlt ihnen nicht ein­fach nur eine Befä­hi­gung unter ande­ren, son­dern über­haupt der Zugang zu Mythen, Geschich­ten und Fabeln, die der Schlüs­sel zu unse­rem see­li­schen und sozia­len Wesen sind. Zudem bedür­fen wir ihrer als Ver­bin­dung zum Geist und zum Emp­fin­den unse­rer Mit­men­schen. Man könn­te das erwei­tern, etwa auf die Musik und ins­be­son­de­re den Gesang. Es wird nicht nur weni­ger gele­sen, son­dern gleich­falls weni­ger gemein­sam gesungen.

Alle Mythen suchen danach, wohin wir Ver­lo­re­nen in dem ganz gro­ßen Bild der Welt gehö­ren. Woher kom­men wir, wohin gehen wir? Wo ist der Halt unterm schwan­ken­den Grund des Daseins? Mag sein, des­we­gen der Hang zum tri­via­li­sier­ten Mythos, also zur Fan­ta­sy-Lite­ra­tur oder deren eige­ner Schwund­form, den tech­nisch so per­fekt und fas­zi­nie­rend auf­ge­zo­ge­nen Com­pu­ter­spie­len, die Her­an­wach­sen­de in ihren Bann zie­hen. Bes­ser als nichts, ein­ge­stan­den, aber die­se Medi­en rei­chen zu viel zu, sie bedie­nen die Phan­ta­sie eher pas­siv, als sie aktiv zu mobilisieren.

Joseph Camp­bell sprach vom „Mono­my­thos“, einer Scha­blo­ne für alle Geschich­ten von Belang, nach der ein zunächst wider­stre­ben­der Held zum Han­deln auf­ge­for­dert wird, sich in Aben­teu­er stür­zen, lei­den, sich bewäh­ren muß, um nach lan­ger Rei­se gereift nach Hau­se zurück­zu­keh­ren. Die­se Rei­se aber ist unser aller Leben, ob wir uns nun als Held sehen mögen oder nicht. Gewis­ser­ma­ßen bre­chen wir alle wie Par­zi­val zu unse­ren bio­gra­phi­schen Irrun­gen auf.

Eine ein­zi­ge Geschich­te, etwa Ambro­se Bier­ce‘ „Der Zwi­schen­fall an der Eulen­fluß-Brü­cke“ oder Isaak Babels „Der Tod Dol­gu­schows“, kann das Wesen und damit die Not unse­rer Exis­tenz unmit­tel­bar auf weni­gen Sei­ten einfangen.

Mythen, aber gleich­sam Lite­ra­tur wid­men sich den ganz gro­ßen The­men, also der Erfah­rung des Todes und der Angst vor Aus­lö­schung und Ver­schwin­den. Leben und Tod als Dop­pel­aspek­te des Daseins. Wenn wir über unse­ren Ursprung nach­sin­nen, stel­len wir gleich­sam die Fra­ge nach unse­rem Ende. Dar­über nach­zu­den­ken, wie wir unser Leben füh­ren, heißt dar­über nach­zu­sin­nen, daß der Tod unaus­weich­lich ist. Für unse­rer Hier und Jetzt ist das eine domi­nie­ren­de Erkennt­nis, die uns exis­ten­ti­ell der Ver­ant­wor­tung für ein mög­lichst sinn­vol­les Leben von Wert unter­wirft. Star­ke Lite­ra­tur the­ma­ti­siert das.

Inso­fern pro­ble­ma­tisch, daß der Deutsch­un­ter­richt in der Ober­stu­fe redu­ziert auf das Ana­ly­sie­ren von Tex­ten, weni­ger auf die Inter­pre­ta­ti­on abstellt. In Nach­ah­mung ger­ma­nis­ti­scher Ober­se­mi­na­ren wer­den Text­fi­gu­ren und Stil­mit­tel gesucht, aber im Ver­lau­fe die­ses dilet­tan­ti­schen Sezie­rens geht die eigent­li­che Wir­kung der Lite­ra­tur an den Abitu­ri­en­ten vor­bei. Ergie­bi­ger wäre es, über­grei­fen­de geis­tes­ge­schicht­li­che Zusam­men­hän­ge und The­men­be­zü­ge zu erken­nen oder über­haupt zu erle­sen, was einen an dem lite­ra­ri­schen Stoff wirk­lich ent­facht. Oder war­um er einen eben nicht entzündet.

Der klas­si­sche deut­sche Schul­auf­satz ging frü­her von The­men und Pro­ble­men aus, er ver­lang­te Refle­xi­on, Posi­tio­nie­rung und Urteil, gab also sub­jek­ti­ver Wider­spieg­lung Raum. Mitt­ler­wei­le sol­len Tex­te über Lite­ra­tur ledig­lich unver­stan­den ein­ge­pauk­tes ste­ri­les Theo­rie­wis­sen anwenden.

Ver­ste­hen Her­an­wach­sen­de also immer weni­ger zu lesen, so fehlt ihnen damit nicht nur das Ver­mö­gen, Buch­sta­ben anein­an­der­zu­rei­hen, Wor­te und Sät­ze und prag­ma­ti­sche Tex­te zu ver­ste­hen, son­dern sie ver­lie­ren über­haupt den Anschluß an die Stof­fe, die unser mensch­li­ches Wesen illus­trie­ren und problematisieren.

Wenn nach moder­ner Metho­dik schon Leh­rern Tex­te schnell als viel zu lang gel­ten, wenn das exem­pla­ri­sche Prin­zip domi­niert, also nur­mehr Aus­zü­ge aus Wer­ken gele­sen wer­den, wenn Abitu­ri­en­ten kaum das Feuil­le­ton der gro­ßen Tages­zei­tun­gen ver­ste­hen kön­nen, auch das alles angeb­lich zu lang, viel zu lang, dann ist das mit enor­mem Schwund an Eigen­kul­tur ver­bun­den. Ganz abge­se­hen davon, daß es nun mal an Muße und Zurück­ge­lehnt­heit fehlt. Oder ein­fach an der guten alten Lesecouch.

Der Anschluß an die euro­päi­schen Quel­len, zu gewähr­leis­ten nur über die alten Spra­chen und die Kennt­nis des Chris­ten­tums, ist außer­halb von ein paar letz­ten lie­bens­wer­ten For­schungs­be­rei­chen bereits völ­lig ver­lo­ren. Nun­mehr droht der Link zu den gro­ßen lite­ra­ri­schen Stof­fen auch der Moder­ne auf­ge­löst zu wer­den. Alles – im Wort­sin­ne – dekon­stru­iert und nur noch über die Spick­zet­tel­samm­lung Wiki­pe­dia zu erle­sen. Infor­ma­ti­on statt Bildung.

Klar kann die Mehr­heit der Kin­der noch lesen. Wenn „nur“ 44 Pro­zent am Ende der Klas­se vier den Regel­stan­dard nicht errei­chen, dann sind immer­hin noch über die Hälf­te der Kin­der des Lesens mäch­tig. Und wenn „nur“ zwan­zig Pro­zent aller Neunt­kläß­ler in deut­schen Schu­len laut PISA-Test als funk­tio­na­le Analpha­be­ten gel­ten, dann kön­nen acht­zig Pro­zent noch etwas mit Lite­ra­tur­spra­che anfan­gen. Aber was ist mit dem Rest, der die­se Kul­tur ver­lor? Er bil­det eine Art Ver­fü­gungs­mas­se, der eige­ne Ortun­gen und Urtei­le zeit­le­bens schwer­fal­len werden.

Sind das nicht die soge­nann­ten ein­fa­chen Leu­te, jene, die frü­her ihren Kin­dern aus Mär­chen­bü­chern vor­la­sen? Das war doch Hochkultur.

Die Kul­tus­bü­ro­kra­ten geben sich nach dem jeweils nächs­ten depri­mie­ren­den Test kurz betrof­fen, machen dann aber in glei­cher Rich­tung wei­ter und ver­ste­hen die Schu­le vor­zugs­wei­se noch als einen sozi­al­päd­ago­gi­schen und vor allem poli­ti­schen, also staats­bür­ger­kund­li­chen Ver­an­stal­tungs­ort.

Hier im Kom­men­ta­ri­at wird gern nach Lösun­gen geru­fen. Gesell­schaft­lich gibt es der­zeit kei­ne. Die Bil­dungs­po­li­tik ist in ihren selbst­er­fül­len­den Pro­phe­zei­un­gen ver­rannt, und selbst die gän­gi­gen Tests fol­gen Meß­ver­fah­ren, die das eigent­lich Defi­zi­tä­re kaum in den Blick neh­men. – Zwar stellt die AfD rich­ti­ge Anträ­ge, bringt die Pro­ble­me also in den poli­ti­schen Ent­schei­dungs­ver­lauf ein, wird aber durch­weg geblockt.

Alles zu Ändern­de obliegt längst der indi­vi­du­el­len Ver­ant­wor­tung: Mut zum Buch, Kin­dern span­nen­de Geschich­ten vor­le­sen, gemein­sam Illus­tra­tio­nen beschrei­ben, also ver­su­chen, die Lust aufs Lesen zu wecken.

– – –

Hei­no Bos­sel­mann hat jüngst das Kapla­ken Altern­des Land vor­ge­legt – hier bestel­len.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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Kommentare (17)

brueckenbauer

9. Januar 2023 11:06

Die sogenannten "einfachen Leute" waren früher nicht diejenigen, die ihren Kindern aus Märchenbüchern vorlasen, sondern die, die ihren Kindern Märchen erzählten, weil sie selbst nicht lesen konnten. Das Lesen wurde von oben eingeführt - damit die Leut besser wussten, was die Regierung von ihnen wollte.

Hajo Blaschke

9. Januar 2023 13:05

@brueckenbauer, dass muss aber sehr viel früher gewesen sein. In Preußen z.B. galt ab 1717 Schulpflicht und von da an konnte praktisch jeder lesen. Und schreiben.

RMH

9. Januar 2023 14:13

@brueckenbauer, hat aber auch wieder nicht ganz unrecht, denn die Anordnung einer Schulpflicht und deren Umsetzung und Befolgung sind 2 Paar Schuhe. Und selbst in der guten alten Schule gab's immer eine Quote von Analphabeten. Bücher hatten einfache Leute auch kaum, da Luxusgut. Eine Gesangbuch oder ein Gebetbuch, in evangelischen Gegenden evtl. eine Bibel und dann war Schluss - Gerade Märchen waren noch weit nach den ersten Sammlungen (Gebr. Grimm) Teil einer mündlichen Überlieferungstradition. Hat sich alles erst ab Beginn des letzten Jahrhunderts ein bisschen gebessert. Entgegen @bruckenbauer war Lesen und Schreibenkönnen aber schon im Interesse der Herrschenden. Die deutsche Armee im Kaiserreich und später auch, hat von Bildungsstand seiner Untertanen jedenfalls klar profitiert.

RMH

9. Januar 2023 14:21

Meine Frau und ich haben unseren Kindern, wie allweil empfohlen und weil es uns selber auch Freude bereitete, sehr viel vorgelesen. Große Bücherleser wurden meine Kinder deshalb nicht.

Im Gegenteil, es gab lange Zeiten, da waren sie mit nichts zum Lesen zu bewegen (nur schulisch benötigte Fachliteratur wurde gelesen, aber nichts Beletristisches zusätzlich), erst mit fortgeschrittener Jugend trat hier eine kleine  Verbesserung ein, aber "Leseratten" wurden sie keine, trotz überreichen Angebots im Elternhaus. Im Nachhinein betrachtet, hat Vorlesen nichts gebracht.

Maiordomus

9. Januar 2023 14:24

Lesen war zur Zeit des Humanismus, noch kurz vor der Reformation und auch innerhalb derselben, eine Voraussetzung, als mündige Person zum Wort Gottes, also zur Bibel. zu gelangen. 1515 appellierte ein Heiliglandpilger aus der Schweiz noch vor seiner Abfahrt in Venedig brieflich an seine Tochter, bei genauer Beschreibung des Standortes in der häuslichen Bibliothek, für ihn täglich aus deutscher Bibel einen Psalter, geeignete Fürbitte für solche, die auf dem Meer unterwegs sind, alle 2 Tage laut zu lesen, "Du hast die Gnade lesen zu können", schrieb der Vater bei seiner Bitte. Lesen und Schreiben war beim Kaufmannsstand im Frühkapitalismus auch ausserreligiös ein absolutes Erfordernis. Vorlesen und laut lesen, Lippenbewegung, auch beim Lesen des Breviers durch Geistliche, war in der Frühzeit des Lesens elementar, eine praktische Befähigung zur Orientierung. 

PS.  Artikel von HB ist, ich fürchte, mutmasslich über dem Durchschnittsniveau gegenwärtiger deutscher Ministerinnen. Dass jemand wie HB unterrichten sollte, scheint mir vordringlicher als Mitgliedschaft in einem Parlament. Dies gilt sogar wohl auch für den Politiker BH. 

eike

9. Januar 2023 15:17

"Wir lesen, weil wir uns mit den Helden der Literatur vergleichen wollen; wir gleichen unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen mit ihnen ab, wir fragen uns: Wie würde ich mich in diesem Konflikt verhalten?"

So recht Herr Bosselmann mit seiner Kritik an der schwindenden Lesekompetenz hat, so voll schießt er am Thema vorbei.

Jeder Oberschüler würde ihm zu Recht entgegenhalten: Um mich mit Helden zu identifizieren und in Konflikte zu projizieren brauche ich keine Lesekompetenz, das kann ich viel intensiver auf dem Netflix-Sofa.

Wenn ich Deutschlehrer wäre, würde ich sage: Thema verfehlt.

 

Gimli

9. Januar 2023 19:10

Wir haben unsren beiden Söhnen sowie beiden Mädels sehr sehr viel vorgelesen und nur Viola liest freiwillig und viel, die Jungs gar nicht (Cave!) und Lilly ein wenig. Das korreliert nicht wirklich mit deren Schulnoten. 
Der Jungs Helden sind weder Tom Sawyer noch Iron Man. Eher noch iwelche tiktok Stars. 
Vllt überschätzt man einfach „das gute Buch“ und dessen Form. Literatur kann mehr sein als das und im heutigen Leben sind Fiktionen zwischen Buchdeckeln  auf 300 Seiten weniger relevant als MINT Fakten. Literatur ist Zeitvertreib und korreliert mE nicht mit „Herzensbildung“ oder Intelligenz. Lesen ist Vergnügung. 

Waldgaenger aus Schwaben

9. Januar 2023 20:26

Noch ein Jahrhundert Leser — und der

Geist selber wird stinken.

Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die
Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das
Denken.

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra.

Vielleicht ist was Wahres dran an dem Zitat. Vielleicht sind wir Zeugen der Entstehung eines neuen Geistesadels. Eine Entwicklung, die, wer sich rechts nennt, nicht von vorneherein verdammenswert finden muss.

Dazu gehört, wer Texte mit einem Lesbarkeitsindex

von unter 30 lesen und verstehen kann.

BTW: Ich kämpfe mich gerade durch Ratzingers (der spätere Papst Benedikt XVI) "Einführung in das Christentum" (Heino Bosselmanns Rezension  steht übrigens bei Amazon ganz oben!)

Eo

9. Januar 2023 21:16

 

Wie wahr !
Aber es sind allgemein die den Menschen bildenden und formenden Kulturtechniken, die mehr und mehr auf der Strecke bleiben und einer Knöpfchendrück- oder Wisch-n-weck-'Technik' Platz machen und so strukturelle Analphabeten hervorbringen. Im 19. Jahrhundert zB. konnten, wenn auch nicht alle, doch recht viele ansatzweise zeichnen und eine recht ordentliche Skizze aufs Papier bringen.

Die Erwähnung 
von Ambrose Bierce‘ Erzählung „Der Zwischenfall an der Eulenfluß-Brücke“ hat mich trotz der bitteren Story etwas wehmütig an vergangene Zeiten erinnert, als ich noch unimäßig damit befaßt war, eine Schreibwerkstatt für Kunststudenten zu leiten. 

Und eine Schreibaufgabe
-- für die ein Erster Satz vorgegeben wurde, der weiter zu schreiben war, ohne den Autor zu nennen, bei dreien zur Auswahl -- hatte als Ausgangspunkt ebendiesen Satz: "Ein Mann stand auf einer Eisenbahnbrücke und sah auf die schnellen Wasser 20 Fuß unter sich."

Im übrigen ist A. Bierce
zu empfehlen, vor allem auch sein sarkastisches 'The Devil's Dictionary', das alle woken Kaltscherkänzler gewiß im Dreieck springen läßt. Dagegen ist Pippi Langstrumpf-Negerkönig Pippifax. Im DD heißt es zB. unter: Mulatte, subst. masc. -- Kind zweier Rassen, das sich beider schämt. (zit. aus meim Inselbändchen  (Nr. 890).

 

ede

10. Januar 2023 01:09

Sehr schöner Text Herr Bosselmann. Ich teile Ihre Skepsis betr. Digitalisierung der Schule (mir hängt das Wort zum Halse raus).

@RMH: Bezüglich der Prägungswirkung der Eltern sollten Sie nicht so pessimistisch sein. Die Hänschenkleins haben sich schon alles gemerkt, aber erst mal gucken ob's auch stimmt.

Maiordomus

10. Januar 2023 10:56

Was praktizierende Eltern/Opas bei Bosselmann kritisieren oder relativieren, ist ernst zu nehmen. Selber habe ich in Jung-Verwandtschaft gerade ein Mädchen, das regelmässig, sogar sehr viel liest, sich darum schnell vom Tisch verabschiedet. Meine Enkelbuben scheinen aber diesbezüglich eine Katastrophe zu sein, wobei selbst Videogeschmack aus der Sicht eines lebenslangen Freundes grosser Filme unter aller Kanone ist, und beim Sport zählt fast nur der  bevorzugte FC, schon Pelé interessiert kaum mehr, zu schweigen, dass man sich für die Helden von Bern interessieren würde. Was das Mädchen betrifft, dominieren alle Bände Harry Potter allzu einseitig. Selber las ich mich damals durch fast alle Karl May durch,  doch auch Sachbücher wie "Weltentdecker", die mir in diesem Alter von Magellan bis Scott incl. Stanley und Livingstone alle ein Begriff waren, sah den Kolonialismus deswegen auch als Römer-Leser positiv. Gewarnt wurde ich damals vor Tarzan, galt als Schund. Dass ich ab 12 Jahren dann Krimis von Dürrenmatt las, war nebst St. Exupéry Einstieg in die intellektuelle Welt, wozu von Anfang an gut geschriebene Sachbücher und für die Exotik z.B. Kiplings Original-Dschungelbuch bis hin zu "Kim" beitrugen, ferner Robinson und Lederstrumpf, heute gewiss "woke", aber auch schon die Schwarze Spinne als 1. Meisterwerk Heimatliteratur. Früh anregend fand ich Warnung eines Predigers vor Nietzsche, hörte erstmals das Wort "geschlechtskrank". 

Niekisch

10. Januar 2023 11:27

"So recht Herr Bosselmann mit seiner Kritik an der schwindenden Lesekompetenz hat, so voll schießt er am Thema vorbei."

@ eike 9.1. 15:17: Gerne nehme ich Heino Bosselmann in Schutz. Steven Pinker ist mit seiner Aussage „Das Leben ist wie ein Schachspiel, und Geschichten sind gewissermaßen Bücher mit berühmten Schachpartien, die gute Spieler studieren, damit sie auf ähnliche Situationen vorbereitet sind.“ der Auslösende für das Vermischen von Sprache und Lesen als Formungsmittel, nicht Herr Bosselmann. Wir hatten das Thema schon in einem der Vorartikel: Die Sprache geht dem Lesen evolutiv zeitlich voraus. Das menschliche Gehirn hat von außerhalb seiner selbst durch die Sinnesorgane aufgenommene Phänomene auch ohne Lesekompetenz zu Bildern von der Welt verarbeitet und durch "Predective Processing" ( versuchte Korrektur von Vorhersagefehlern ) angepaßt. Die Lesefähigkeit ist eine Anpassungserweiterung der Kommunikation.

Bei Steven Pinker müssen wir hinsichtlich seiner Aussagen besonders kritsch sein. Er hat z.B. gegen Millers  "Cultural - Courtship - Modell" argumentiert, bei Kreativität handele es sich um ein reines Epiphänomen ohne echten Selektionsvorteil, obwohl Studien sogar einen negativen Zusammenhang zw. Kreativität und Reproduktionserfolg ergeben haben ( Sterzer aaO, S. 289 ) 

heinrichbrueck

10. Januar 2023 15:41

Die "einfachen Leute" konnten noch Märchen erzählen, sie hatten ein Gedächtnis. Frauen hatten ihre Gebetbücher, sonst waren Bücher eher Mangelware. 
Das Zusammenspiel von Auswendigkönnen und Wahrheit, mit Harry Potter nicht zu haben. Wofür sich der andere Harry gegenwärtig mit stabiler Währung bezahlen läßt, zeigt eine Ideologie, deren Opferkompetenz kein Ziel der Hochkultur ist. 
Vorlesen oder Erzählen, wo stecken die tieferen Wurzeln? 

Niekisch

10. Januar 2023 18:34

"Vorlesen oder Erzählen, wo stecken die tieferen Wurzeln? "

@ heinrichbrueck 15:41: Die tiefsten Wurzeln könnten in dem Zeitpunkt liegen, als unsere weiblichen Vorfahren infolge nachlassender Körperbehaarung ihren Nachwuchs nicht mehr  unter sich oder später beim aufrechten Gang nicht mehr vor dem Oberkörper festgekrallt mit sich tragen konnten. Als die Kleinen sich selbständig entfernten, mußte der Kontakt durch Laute aufrechterhalten werden. Ein Vorgang evolutiver Anpassung, der über die Sprache zum Lesenkönnen führte.

Gotlandfahrer

11. Januar 2023 00:40

Bei solch frustrierenden Befunden rufe ich mir immer das kulturelle Niveau und die demographische Präsenz der Bandkeramiker in Erinnerung: Eine handvoll Leseunkundiger war die Keimzelle europäischer Kultur. Natürlich geht es hier den Bach runter, aber das ist nichts Neues. Ich meine das gar nicht gallig-sarkastisch, sondern sehe in der Degeneration auch die Chance des Rückbaus kognitiver Überschussblüte, die die Menschen von ihren Instinkten entfernt hat. Konkret: Das digitale Smiley-Gegrunze der letzten Generation dimmt ihre Fähigkeit, die komplexen Unterwerfungsnarrative, denen sich unsereins noch ausgesetzt sah, überhaupt nachvollziehen zu können. In dem Maße, wie diese aber auf einen paläontologischen Opferkult zusammenschnurren, ergeben sich wieder neue Chancen der Befreiung von Schadkomplexität.  Wenn die Menschen nichtmal verstehen, dass sie nichts verstehen, dann war die Unkundigkeit die notwendige Vermeidung nagenden Zweifels.

Lila Schwarz

12. Januar 2023 23:58

Herr Bosselmann sagt etwas Wichtigesindem er auf die Armut an Geschichten, Bilder, menschlicher Tiefe, Einfühlungsvermögen hinweist, die dadurch entsteht, dass man sich nicht mehr die Muße nimmt, sich in Welten und Akteure mit anderer Lebenswelt und anderem Geisteshintergrund hineinzuvertiefen. Schwerer wiegt aber meiner Ansicht nach, dass das systematische Extrahieren von Inhalten, Bedeutungsebenen und Sprach- und Denkstrukturen aus auch dem einfachsten Text nicht mehr ernsthaft geübt wird. Eine echte Textanalyse, die Form, Mittel und geistesgeschichtliche Querverbindungen herausarbeitet, verschafft auch dem einfachsten Text literarisch einen Wert. Zu sehen ist dieser Mangel an der Art und Weise, wie es vielen Menschen nicht mehr möglich ist, sich vorzustellen, was das Gegenüber wissen muss, um eine geschilderte Situation zu verstehen. Menschen funktionieren nicht wie die Datenbank einer Suchmaschine, in die man ein halbes Wort eingibt und die dann daraus die vollständige Erklärung eines naheliegenden Themenkomplexes paratstellt. Sprache ist das Bauen von Räumen, Gebäuden, Städten und Dörfern. Wer nur Dämmplatten liest, wird nicht mehr vor dem inneren Auge sehen können, wenn sein Gegenüber beschreibt, wie sehr er das weitläufige, prunkvoll Treppenhaus der Gründerzeitvilla oder die Dielen und den Kachelofen in der fensterladengeschmückten kleinen Moorkate vermisst. Wer nur Dämmplatten liest, wird sich auch in Zukunft mit dem Bau von rechteckigen Blöcken zufrieden geben und andere Baupläne als Altpapier betrachten.

Kurativ

16. Januar 2023 04:58

Aus meiner Sicht sind Laptop- und Tablet-Klassen und teure Smart-Boards genau das Falsche. Man holt Ursachen auch noch in die Klassen. Es wäre wichtiger, wenn die (jungen) Menschen intensiver die Sensualität von Papier und Schreiber erfahren. Bei den digitalen Medien ist das Ergebnis gleich wieder weg, wenn man den Schalter betätigt. Aus dem Internet in die Realität und in die Sensualität sollte das Motto sein

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