Begriffe um Gehlen

von Götz Kubitschek (GK), Erik Lehnert (EL) und Caroline Sommerfeld (CS) -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

Arnold Geh­len (19041976) hat ein Gesamt­werk vor­ge­legt, das kaum aus­ge­schöpft wer­den kann. Sei­ne Begriffs­mo­bi­li­sie­rung ist elek­tri­sie­rend, sein Stil klar und unver­wech­sel­bar, und wer von rechts an ihn her­an­tritt, fin­det rasch Zugang, sieht sich bestä­tigt und erkennt den gro­ßen Den­ker. Wir haben aus sei­nem Fun­dus eini­ges her­vor­ge­klaubt und prä­sen­tie­ren Grund­be­grif­fe und Anknüpfungspunkte.

 

 

ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT

Geh­len gilt heu­te für gewöhn­lich als Sozio­lo­ge. Dar­an ist soviel rich­tig, daß er zuletzt einen Lehr­stuhl für Sozio­lo­gie in Aachen inne­hat­te. Aller­dings begann Geh­len sei­ne aka­de­mi­sche Kar­rie­re als Phi­lo­soph. Er pro­mo­vier­te in Phi­lo­so­phie bei Hans Driesch, der Zoo­lo­gie stu­diert hat­te, und muß dort bereits mit der zeit­ge­nös­si­schen Natur­phi­lo­so­phie in Berüh­rung gekom­men sein.

In sei­ner Habi­li­ta­ti­on zeigt sich Geh­len noch den The­men des Deut­schen Idea­lis­mus ver­pflich­tet, was in den 1930er Jah­ren zuneh­mend durch sein Inter­es­se an der anthro­po­lo­gi­schen For­schung auf­ge­ho­ben wur­de. Geh­len hat die Lek­tü­re der Schrif­ten des ame­ri­ka­ni­schen Prag­ma­tis­mus, ins­be­son­de­re deren Hand­lungs­leh­re, als wich­tigs­ten Anstoß beschrie­ben, die Phi­lo­so­phie nicht mehr als Meta­phy­sik, son­dern als Erfah­rungs­wis­sen­schaft zu betrei­ben. Er lös­te sich damit auch von einem sei­ner Lehr­meis­ter, Max Sche­ler, des­sen Phi­lo­so­phi­sche Anthro­po­lo­gie noch ganz meta­physisch aus­ge­rich­tet war. 

Geh­len woll­te den Men­schen zum eigent­li­chen, zen­tra­len The­ma der Phi­lo­so­phie erhe­ben, was nur gelin­gen kön­ne, wenn man dem »Zwang« ent­ge­he, »über ihn hin­aus­zu­fra­gen«. Die Fra­ge­stel­lung muß beim Men­schen so anset­zen, daß unlös­ba­re Pro­ble­me, wie das Leib-See­le-Pro­blem, nicht das Zen­trum bil­den. Geh­len sah daher in der »Hand­lung« das mensch­li­che Schlüs­sel­phä­no­men, von dem aus sowohl die psy­chi­sche als auch die phy­si­sche Sei­te des Men­schen erhellt wer­den könne.

Mit die­ser »empi­ri­schen Phi­lo­so­phie« reha­bi­li­tiert Geh­len die Erfah­rung, die bis dahin als Empi­rie der Meta­phy­sik unter­ge­ord­net wur­de. ­Geh­len faßt den Begriff der Erfah­rung dazu ganz lebens­praktisch im Sin­ne der »Lebens­er­fah­rung« auf, die dafür sor­ge, daß der erfah­re­ne Mensch den Lebens­si­tua­tio­nen nicht unter­wor­fen, son­dern gewach­sen sei.            (EL)

 

KULTURSCHWELLE

Wenn, so schreibt Geh­len in sei­ner Dia­gno­se Die See­le im tech­ni­schen Zeit­al­ter (1949), die Mensch­heit eine »abso­lu­te Kul­tur­schwel­le« betre­te, »wer­den die bis­her gül­ti­gen geschicht­li­chen Rhyth­men durch eine qua­li­ta­tiv ein­zig­ar­ti­ge Ereig­nis­rei­he über­la­gert. Das heißt: kein Sek­tor der Kul­tur und kein Nerv im Men­schen wird von die­ser Trans­for­ma­ti­on uner­grif­fen bleiben.«

Nichts wird mehr so sein, wie es war, weil ein neu­es Ord­nungs­prin­zip, eine nie dage­we­se­ne Zugriffs­mög­lich­keit Ver­hal­tens­wei­sen Raum zu bie­ten beginnt, die zuvor nicht denk­bar waren. Nach Geh­len war dies bis­her nur zwei­mal in der Geschich­te der Mensch­heit der Fall: ers­tens im Über­gang von der Jäger- zur Acker­bau­ge­sell­schaft, also vom noma­di­schen zum seß­haf­ten Leben, das eine völ­lig ande­re Wei­se von Dau­er, Pfle­ge, Kul­ti­vie­rung, Inbe­sitz­nah­me, Ver­tei­di­gung und Aus­dif­fe­ren­zie­rung zur Fol­ge hatte.

Zwei­tens im Über­gang zum »Indus­tria­lis­mus«, den Geh­len durch den Zugriff auf anor­ga­ni­sche Kräf­te gekenn­zeich­net sieht, durch einen ener­ge­ti­schen Zustrom in unser Leben und unser Ver­wirk­li­chungs­po­ten­ti­al also, der erst seit gut 200 Jah­ren erfolgt und mit der Erschlie­ßung von Öl, Gas und Kern­kraft einen vor­läu­fi­gen Höhe­punkt erreicht hat. Was frü­her an Mann­stun­den und Pfer­de­kräf­ten vor­han­den war und aus dem Anbau von Nah­rung in Form gehal­ten wer­den muß­te, wird heu­te durch Ener­gie­trä­ger ersetzt, die spie­lend Hun­dert­tau­sen­de Tag­wer­ke ersetzen.

Daß dies zunächst im Rah­men einer über Jahr­hun­der­te erwor­be­nen, kul­ti­vie­ren­den Vor­sicht und Ver­nunft ein­ge­setzt wur­de und zu einem aus der Seß­haf­tig­keit her­rüh­ren­den kul­tu­rel­len Sprung führ­te, beschreibt Geh­len eben­so wie die Fahr­läs­sig­keit und die Ver­nut­zung, die je län­ger, je stär­ker um sich grif­fen und grei­fen. Jedoch läßt er sich nicht auf eine rück­wärts­ge­wand­te und damit wir­kungs­los-rühr­se­li­ge Kul­tur­kri­tik ein – er weist sie sogar spöt­telnd zurück, denn sie habe nichts aus­zu­rich­ten gegen die ent­bin­den­den, aus-lösen­den Kräf­te, die sich selbst »als Frei­heit, als Eröff­nung neu­er Hori­zon­te, als Flug aus dem Käfig emp­fin­den müssen«.

Aber natür­lich teilt Geh­len auch den Opti­mis­mus der von allen Hem­mun­gen und Bin­dun­gen Eman­zi­pier­ten nicht. Viel­mehr sei es unmög­lich, »anzu­ge­ben, was in die­sem Feu­er ver­bren­nen wird, was umge­schmol­zen und was sich als wider­ste­hend erwei­sen wird.«

Wir leben also in einer Über­gangs­zeit. Zwei­er­lei woll­te man Geh­len aber doch fra­gen: Wür­de er den Sprung in die digi­ta­le Welt bereits als nächs­te Kul­tur­schwel­le bezeich­nen oder gehört er als Aus­for­mung noch in den »Indus­tria­lis­mus«? Und zwei­tens: Was kam mit Chris­tus in die Welt? Für jeden Gläu­bi­gen ist doch durch ihn nichts mehr so, wie es zuvor war. Aber das ist wohl eine ­Kate­go­rie, die nicht in die Erfah­rungs­wis­sen­schaf­ten ein­ge­speist wer­den kann.              (GK)

 

INSTITUTIONEN

Bei Geh­lens Beschrei­bung des Men­schen als ­eines instinkt­un­si­che­ren Wesens, das unter Antriebs­über­schuß lei­det, blieb zunächst die Fra­ge unbe­ant­wor­tet, wie der Mensch es schafft, nicht nur sein Leben zu füh­ren, son­dern auch sei­ne objek­ti­ve Kul­tur, die Sit­ten und die Tra­di­tio­nen, wei­ter­zu­ge­ben. Die klas­si­sche Ant­wort der Reli­gi­on, bei ­Geh­len zunächst als »obers­te Füh­rungs­sys­te­me« bezeich­net, konn­te ihn schon bald selbst nicht mehr über­zeu­gen, weil unklar blieb, wie die reli­giö­se Vor­stel­lungs­kraft in der Lage sein soll, die feh­len­den Instink­te des Men­schen zu ersetzen.

Die Ant­wort, die Geh­len schließ­lich 1956 in Urmensch und Spät­kul­tur prä­sen­tier­te, lau­te­te: Es sind die Insti­tu­tio­nen, die den Men­schen wie eine zwei­te Natur umge­ben und dafür sor­gen, daß sein Ver­hal­ten in bestimm­ten Bah­nen ver­läuft und sich nicht im Anar­chis­mus ver­liert. Sie geben ihm die Sicher­heit des Ver­hal­tens, indem sie sich als gesell­schaft­lich sank­tio­nier­te Ver­hal­tens­mus­ter eta­blie­ren, die für alle Ange­hö­ri­gen einer Kul­tur ver­bind­lich sind. Sie bedeu­ten für den welt­of­fe­nen Men­schen zudem Ent­las­tung von vie­len Ent­schei­dun­gen, die er jetzt nicht mehr selbst tref­fen muß, son­dern die bereits für ihn getrof­fen wur­den. Insti­tu­tio­nen sind »die For­men, die ein sei­ner Natur nach ris­kier­tes und unsta­bi­les, affekt­über­las­te­tes Wesen fin­det, um sich gegen­sei­tig und sich selbst zu ertra­gen, etwas, wor­auf man in sich und den ande­ren zäh­len und sich ver­las­sen kann«.

Sie üben dabei natür­lich Macht über den Men­schen aus und sche­ma­ti­sie­ren ihn, was immer wie­der zur Infra­ge­stel­lung und Spren­gung von Insti­tu­tio­nen führ­te. Geh­len weist aber dar­auf hin, daß die Ent­las­tungs­funk­ti­on der Insti­tu­tio­nen dafür sorgt, daß beim Men­schen Ener­gie­re­ser­ven frei­ge­setzt wer­den, um inner­halb der insti­tu­tio­nell vor­ge­ge­be­nen Umstän­de sei­ne Per­sön­lich­keit unter Beweis zu stel­len. Die Alter­na­ti­ve ist der »Sub­jek­ti­vis­mus«, der dazu führt, daß der Mensch man­gels ver­bind­li­cher Insti­tu­tio­nen sein »noch vor­han­de­nes Inne­res« zur all­ge­mei­nen Gül­tig­keit erhöht.

»Nie waren die Men­schen ent­schie­de­ner als heu­te auf die gerin­gen Reser­ven ihrer zufäl­li­gen Vor­ei­gen­schaf­ten zurück­ge­wor­fen, nie waren die­se Reser­ven stär­ker bean­sprucht und folg­lich in eben die­sem Zustan­de ver­letz­ba­rer.«             (EL)

 

GEWOHNHEIT

Arnold Geh­len beginnt sei­nen frü­hen lebens­phi­lo­so­phi­schen Essay Refle­xio­nen über die Gewohn­heit (1927) mit der Beschrei­bung eines Wim­per­tier­chens, das bei einem Berüh­rungs­reiz zunächst Rück­zugs­ver­hal­ten zeigt, bei Wie­der­ho­lung des Rei­zes aller­dings dar­in nach­läßt. Beläs­tigt man die­sen Sten­tor noto­risch, zum Bei­spiel durch ste­tes Ein­rie­seln von Fremd­kör­pern in den Heu­auf­guß, in dem das Tier­chen lebt, zeigt es erst den übli­chen kur­zen Rück­zug, dann Selbst­schutz durch Ein­stül­pung und schließ­lich hek­ti­sche Flucht.

Mit die­sem Bei­spiel aus der Tier­ver­hal­tens­for­schung will Geh­len dar­auf hin­wei­sen, daß Wie­der­ho­lung sowohl in ihrer pri­mi­tivs­ten Anla­ge beim Tier als auch in den höchs­ten For­men mensch­li­cher Geis­tig­keit eine Dop­pel­ge­stalt trägt: »Im Wie­der­hol­ten gewah­re ich zwei Absich­ten: das Behar­ren­de, das Iden­tisch-sein-Wol­len­de, das Selbst-sein-Wol­len­de, das, was sich durch­setzt –; dage­gen das Vor­wärts­trei­ben­de, In-Eins-Set­zen­de, Ver­wan­deln­de, Umwech­seln­de und Bezau­bern­de: die gro­ße Kate­go­rie ἀλλοίωσις, Über­gang.« (Refle­xio­nen über die Gewohn­heit, S. 101)

In gewis­ser Wei­se kann man die Gewohn­heit (das Wie­der­ho­lungs­ver­hal­ten aller Wesen) als die­je­ni­ge Kate­go­rie der Geh­len­schen Anthro­po­lo­gie ver­ste­hen, auf der alles Spä­te­re beruht: sein Frei­heits­be­griff, sei­ne Insti­tu­tio­nen­leh­re, sei­ne Moral­kri­tik. Immer geht es ihm einer­seits um die Behar­rungs­ten­denz (der Insti­tu­tio­nen, der Krea­tür­lich­keit des Men­schen, der not­wen­dig kon­ser­va­tiv-sta­bi­li­sie­ren­den Struk­tu­ren der Exis­tenz), ande­rer­seits um die Fort­schrittsten­denz, die die­se nicht erhal­ten, son­dern über­for­men will.

Es exis­tiert mit­hin nichts den Men­schen Bestim­men­des, dem nicht die­se Dop­pel­fi­gur der Wie­der­ho­lung inne­wohnt. Inso­fern hebt sich Geh­len sowohl von den­je­ni­gen sei­ner phi­lo­so­phi­schen Vor­gän­ger ab, die das gro­ße Lob der Gewohn­heit anstimm­ten (von Aris­to­te­les und Des­car­tes über Bacon bis zu Kant in sei­ner ­Anthro­po­lo­gie), als auch von den­je­ni­gen, die unter mensch­li­cher Frei­heit die Über­schrei­tung des alten Sat­zes »Der Mensch ist ein Gewohn­heits­tier« ver­stan­den (Pla­ton, Tho­mas von Aquin, die deut­schen Idea­lis­ten, Kant in sei­ner Vernunftethik).

Geh­lens Anthro­po­lo­gie läßt sich mit Hil­fe sei­ner frü­hen Gewohn­heits­theo­rie als exis­ten­ti­el­le Auf­ge­spannt­heit des Men­schen zwi­schen den Polen Sta­bi­li­tät und Wan­del ver­ste­hen.     (CS)

 

ASKESE

Ließ sich oben anhand des Begriffs der »Gewohn­heit« das Zwie­ge­spann aus Behar­rungs- und Fort­schrittsten­denz in allem Mensch­li­chen zei­gen, so ergibt sich für den Geh­len-Leser irgend­wann die Fra­ge, was für eine Exis­ten­z­wei­se dem Anthro­po­lo­gen eigent­lich vor­schwebt, in der die Ent­frem­dung (Fort­schrittsten­denz) den Men­schen nicht wie­der so weit ent­las­tet, daß er zurück­fällt ins Tie­ri­sche (Behar­rungs­ten­denz). Gesamt­ge­sell­schaft­lich liegt Geh­lens Ant­wort in sei­ner Insti­tu­tio­nen­leh­re vor. Doch auch Insti­tu­tio­nen kön­nen zu star­ren Gehäu­sen kris­tal­li­sie­ren und die Frei­heit des Men­schen ab einem gewis­sen Grad der Über­grif­fig­keit emp­find­lich ein­schrän­ken oder sogar unmög­lich machen. Sol­che Zustän­de hat jeder Kri­ti­ker des »Coro­na-Maß­nah­men­staats« unlängst am eige­nen Lei­be und an der eige­nen See­le erfah­ren können.

Wor­in liegt die Frei­heit des Men­schen, der sich nicht von Insti­tu­tio­nen »ver­bren­nen las­sen« will? Geh­lens genia­le Ant­wort lau­tet, im sel­ben sprach­li­chen Bild blei­bend: Die Frei­heit eines sol­chen Men­schen liegt dar­in, sich selbst zu ver­bren­nen. Die­sem Gedan­ken liegt eine drei Jahr­tau­sen­de alte Tra­di­ti­on der anti­ken und christ­li­chen Aske­se-Vor­stel­lun­gen zugrun­de. Unter »Aske­se« ver­steht Geh­len an einer Stel­le lapi­dar, »daß man sich zunächst ein­mal min­des­tens von dem aus­schließt, was Berg­son den all­ge­mei­nen Wett­lauf nach dem Wohl­le­ben nannte.«

Die oben zitier­te »zuneh­men­de Ent­las­tung von der Arbeit, weil der Druck der Not nach­läßt«, führt näm­lich not­wen­dig zu all­ge­mei­nem Wett­lauf nach dem Wohl­leben. An einem lin­ken Kul­tur (!)zen­trum las ich vor ein paar Jah­ren ein Pla­kat mit der Auf­schrift: »Pri­vi­le­gi­en für alle«. Der Asket ver­ord­net sich selbst – aus frei­en Stü­cken, eben: weil er Mensch ist und nicht Tier, weil er kann und nicht muß – einen Selbst­aus­schluß vom Wohlleben.

Die aske­ti­sche Lebens­form ist für Geh­len schließ­lich die (ein­zi­ge?) wirk­lich wider­stän­di­ge Lebens­form: »Schon in die­ser Form näm­lich, als disci­pli­na und sti­mu­lans, als Kon­zen­tra­ti­on geis­ti­ger und wil­lent­li­cher Selbst­kon­trol­le, wäre die Aske­se gefähr­lich zu leben und der gemein­sa­men Geg­ner­schaft des Kapi­ta­lis­mus und des Kom­mu­nis­mus sicher, die ja in dem einen Punk­te: Wett­lauf nach dem Wohl­le­ben oder, um es vor­neh­mer aus­zu­drü­cken, Hebung des Lebens­stan­dards, völ­lig über­ein­stim­men.«             (CS)

 

MÄNGELWESEN

Die Beschrei­bung des Men­schen als »Mängel­wesen« gehört zu den bekann­tes­ten Begrif­fen, die Geh­len geprägt hat. Das hat zum einen mit dem vor­der­grün­di­gen Para­do­xon zu tun, das dar­in liegt, die Kro­ne der Schöp­fung nicht im Hin­blick auf Gott, son­dern auf die Tier­welt als Män­gel­we­sen zu cha­rak­te­ri­sie­ren. Zum ande­ren bil­det die­ser Begriff wie kaum ein zwei­ter den Anspruch des Men­schen ab, sich immer wei­ter selbst zu ver­voll­komm­nen. Wäre er kein Mängel­wesen, gäbe es auch nichts zu ver­bes­sern, zu trai­nie­ren, zu erlernen.

Geh­len hat die­sen Begriff in sei­nem Haupt­werk Der Mensch (1940) auf Grund­la­ge der For­schung zur Umwelt der Tie­re, ins­be­son­de­re von Jakob von Uex­küll, ent­wi­ckelt. Der hat­te aus­ge­rech­net am Bei­spiel der Zecke gezeigt, daß jede Tier­art ihre eige­ne art­spe­zi­fi­sche Umwelt hat, auf deren Bewäl­ti­gung sie spe­zia­li­siert ist. Schon die­ses Bei­spiel bewei­se, so ­Geh­len, »die Har­mo­nie zwi­schen dem orga­ni­schen Bau des Tie­res […], zwi­schen sei­ner Umwelt […] und sei­ner Lebens­wei­se, sei­nen Lebensumständen«.

Im Gegen­satz zu ­Uex­küll, der die­sen Umwelt­begriff auf den Men­schen über­trug, ohne dabei des­sen erwor­be­ne Eigen­schaf­ten zu berück­sich­ti­gen, betont Geh­len, daß der Mensch kei­ne Umwelt, son­dern eine »zwei­te Natur«, die Kul­tur, habe. Sie ist das Ergeb­nis der man­gel­haf­ten Aus­stat­tung des Men­schen, die ihn dazu zwingt, sei­ne Umwelt han­delnd zu bewäl­ti­gen und so die Kul­tur zu schaf­fen. Geh­len ver­weist dabei auf Johann Gott­fried Her­der als Vor­läu­fer sei­ner Theo­rie. Die­ser habe zum einen gese­hen, daß der Mensch den Tie­ren in der »ange­bo­re­nen Kunst­fä­hig­keit« nach­ste­he, und zum ande­ren die bio­lo­gi­sche Hilf­losigkeit bereits als Ursa­che des »Cha­rak­ters der Mensch­heit« erkannt. Des­sen wesent­li­chen Aus­druck, die Spra­che, beschreibt Her­der als einen »aus der Mit­te die­ser Män­gel« ent­ste­hen­den Ersatz.          (EL)

 

ENTFREMDUNG

Der Begriff der »Ent­frem­dung« ist der Kern­be­griff der Marx­schen Theo­rie­bil­dung schlecht­hin. Dar­un­ter ver­stand Karl Marx den Zwang des Men­schen, sei­ne Arbeits­kraft ver­kau­fen zu müs­sen und sich auf die­se Wei­se von den men­schen­ge­mä­ßen, natür­li­chen Bedin­gun­gen der Arbeit zu ent­frem­den. Der ent­frem­de­te Mensch erhält Lohn für Fron. Durch ent­frem­den­de Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se ver­liert er den unmit­tel­ba­ren Zugang sowohl zu den Pro­duk­ten sei­ner Arbeit als auch zu sei­nen Mitmenschen.

Arnold Geh­len stellt in sei­nem Essay mit dem pro­vo­ka­ti­ven Titel Über die Geburt der Frei­heit aus der Ent­frem­dung (1952) eine vehe­men­te Gegen­the­se zu Marx auf: Es ist just die­se Ent­frem­dung des Men­schen von der Arbeit und von sich selbst, die den Men­schen erst zum Men­schen macht. Nicht erst der aus­ge­beu­te­te Industrie­arbeiter der Moder­ne ist »ent­frem­det« von sei­ner Natur und von den von ihm her­ge­stell­ten Gegen­stän­den. Der Mensch als sol­cher ist immer schon ein Sich-selbst-Ent­frem­den­der, inso­fern er die Natur über­formt, sich von ihr eman­zi­piert und dadurch ein Kul­tur­we­sen wird.

Erst in der Ent­frem­dung, nicht etwa in einem von Marx und all sei­nen Schü­lern ima­gi­nier­ten Natur­zu­stand, kommt der Mensch zu sich selbst. Er ent­las­tet sich durch Werk­zeug­ge­brauch, durch Arbeits­tei­lung, durch sozia­le Rol­len, die zu Insti­tu­tio­nen gerin­nen, von der Müh­sal des »unmit­tel­ba­ren« Daseins. Erst dadurch wird der Mensch in einem exis­ten­ti­el­len Sin­ne frei, und das bedeu­tet imstan­de, über die Not­durft hin­aus­zu­bli­cken und kom­ple­xe sozia­le Sys­te­me zu erschaf­fen, imstan­de, über­haupt erst Kul­tur im Sin­ne von »Hoch­kul­tu­ren« und im Sin­ne von »Kunst« zu stif­ten. »So wer­den wenigs­tens die Men­schen von ihren eige­nen Schöp­fun­gen ver­brannt und kon­su­miert und nicht von der rohen Natur, wie Tie­re«, resü­miert Geh­len. Auf die Fra­ge, wel­che Per­so­nen denn sei­ner Ansicht nach von Insti­tu­tio­nen ver­brannt wer­den, ant­wor­te­te Geh­len ein­mal: Poli­ti­ker, Ärz­te und Hausfrauen.

Denn, dies blieb Geh­len nicht ver­bor­gen, die Ent­frem­dung kennt auch eine Kehr­sei­te. Sie liegt aller­dings nicht da, wo Marx sie ver­or­tet hat, näm­lich in der abs­trak­ten Deklas­sie­rung des Pro­le­ta­ri­ats oder dem anschau­li­chen Elend des Fließ­band­ar­bei­ters, son­dern gera­de in der Ent­las­tungs­funk­ti­on selbst. »Liegt es so, dann ist die zuneh­men­de Ent­las­tung von der Arbeit, weil der Druck der Not nach­läßt, aller­dings gefähr­lich: viel­leicht wie­der ein Schritt vor­wärts auf dem Weg der Ent­hem­mung einer fürch­ter­li­chen Natür­lich­keit« (Das Bild des Men­schen im Lich­te der moder­nen Anthro­po­lo­gie, 1952).

All­zu gro­ße Ent­frem­dung bringt all­zu gro­ße Ent­las­tung mit sich: Der Mensch wird, auf deutsch gesagt, faul. Geh­len hät­te einem »bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men«, das heu­ti­gen Mar­xis­ten fast als Vor­ge­schmack des Para­die­ses erscheint, eine radi­ka­le Absa­ge erteilt. Ent­frem­dung durch Arbeit muß sein, andern­falls fällt der Mensch auf den Stand des Tie­res zurück. Die spe­zi­fisch mensch­li­che Kul­tur ist frei­lich stets bedroht, in »Ent­hem­mung einer fürch­ter­li­chen Natür­lich­keit« umzukippen.

Wen die­se Denk­be­we­gun­gen an Hegel oder an die Dia­lek­tik der Auf­klä­rung der Mar­xis­ten Ador­no und Hork­hei­mer erin­nert, der liegt gold­rich­tig. Geh­lens Ent­frem­dungs­theo­rie hat mit ihnen das Umschlags­mo­ment gemein­sam, grund­ver­schie­den sind sie hin­sicht­lich der Bewer­tung des natür­li­chen, nicht­ent­frem­de­ten Daseins.          (CS)

 

PERSÖNLICHKEIT

»Eine Per­sön­lich­keit: das ist eine Insti­tu­ti­on in ­einem Fall.« Die­ser selt­sa­me Satz steht samt Kur­si­vie­rung am Schluß des erfolg­reichs­ten Buches aus der Feder Geh­lens: Die bereits erwähn­te Schrift Die See­le im tech­ni­schen Zeit­al­ter deu­tet damit zuletzt bei aller Nüch­tern­heit und Unbe­stech­lich­keit in Zugriff und Ton eine Ver­hal­tens­leh­re an. Denn gera­de weil ­Geh­len für Tech­nik­kri­tik an sich und für das enga­giert, pathe­tisch, aber fol­gen­los vor­ge­tra­ge­ne Lamen­to beson­ders wenig übrig hat­te, konn­te er sehr klar die Fol­gen der Mühe­lo­sig­keit und der über­bor­den­den Kon­sum­mög­lich­keit bei wach­sen­der Anspruchs­hal­tung für die Aus­ge­stal­tung der Per­sön­lich­keit wahr­neh­men und beschreiben.

Geh­len geht von einem Sub­ti­li­täts­ver­lust aus, von einer Ver­fla­chung und einer ange­paß­ten Sub­jek­ti­vie­rung. Schla­gend ist, wenn er die »bun­tes­te, par­ti­ku­la­re Viel­falt urwüch­si­ger Insti­tu­tio­nen« frü­he­rer Epo­chen dem gegen­über­stellt, was sich heu­te dar­bie­tet: »Von drei Men­schen, die in dem­sel­ben Volks­wa­gen fah­ren, die den­sel­ben Kon­fek­ti­ons­an­zug tra­gen, kann der eine Exis­ten­tia­list und Sart­re­an­hän­ger, der ande­re gläu­bi­ger Katho­lik sein und der drit­te nur Kri­mi­nal­ro­ma­ne lesen«, wäh­rend frü­her vie­le Men­schen »Bün­del kom­pli­zier­ter, wan­deln­der Pri­vi­le­gi­en« waren, »die Kasu­is­tik der Stan­des­un­ter­schie­de ins Unend­li­che ent­wi­ckelt« wirk­te, wäh­rend zugleich die Welt­an­schau­ung »sogar in gro­ßen Zügen völ­lig gleich« gewe­sen sei.

Geh­len lei­tet die Aus­for­mung von Per­sön­lich­keit aus sol­chen Fest­le­gun­gen und Bin­dun­gen ab und stellt, auf der Kul­tur­schwel­le ste­hend, natür­lich die Fra­ge, woher und auf wel­chem Boden heu­te eine Per­sön­lich­keit gedei­hen kön­ne. Denn stets sei­en Per­sön­lich­kei­ten Pro­duk­te der Insti­tu­tio­nen (und des Kamp­fes in und mit ihnen) gewe­sen. In sol­chen Über­le­gun­gen steckt die Über­zeu­gung, daß es ohne Bin­dung, Bän­di­gung, Gehor­sam, Pflicht­er­fül­lung und zuletzt selb­stän­di­ger Rah­me­n­er­wei­te­rung nicht zur vol­len Ent­wick­lung der Mög­lich­kei­ten in einer Per­son komme.

Weil aber die gro­ßen Ord­nun­gen abge­räumt sind, könn­ten der Per­sön­lich­keit zwei­er­lei Auf­ga­ben zuwach­sen: zum einen, die gro­ße Ord­nung selbst zu reprä­sen­tie­ren, also exem­pla­risch und sicht­bar zu ver­wirk­li­chen; zum ande­ren, stand­zu­hal­ten und das zu tra­die­ren, was unan­ge­paßt quer zur sub­jek­ti­ven Form­lo­sig­keit lie­ge. In bei­den Fäl­len, die sowie­so eine Schnitt­men­ge bil­den, ersetzt die Per­sön­lich­keit jene Insti­tu­ti­on, aus der sie eigent­lich erwach­sen soll­te – ein bewuß­ter Vor­gang, ein »Trotz alle­dem«, als Auf­ga­be viel­leicht erleich­tert durch einen Schuß Selbst­iro­nie.            (GK)

 

 

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