Arnold Gehlen (1904 – 1976) hat ein Gesamtwerk vorgelegt, das kaum ausgeschöpft werden kann. Seine Begriffsmobilisierung ist elektrisierend, sein Stil klar und unverwechselbar, und wer von rechts an ihn herantritt, findet rasch Zugang, sieht sich bestätigt und erkennt den großen Denker. Wir haben aus seinem Fundus einiges hervorgeklaubt und präsentieren Grundbegriffe und Anknüpfungspunkte.
ERFAHRUNGSWISSENSCHAFT
Gehlen gilt heute für gewöhnlich als Soziologe. Daran ist soviel richtig, daß er zuletzt einen Lehrstuhl für Soziologie in Aachen innehatte. Allerdings begann Gehlen seine akademische Karriere als Philosoph. Er promovierte in Philosophie bei Hans Driesch, der Zoologie studiert hatte, und muß dort bereits mit der zeitgenössischen Naturphilosophie in Berührung gekommen sein.
In seiner Habilitation zeigt sich Gehlen noch den Themen des Deutschen Idealismus verpflichtet, was in den 1930er Jahren zunehmend durch sein Interesse an der anthropologischen Forschung aufgehoben wurde. Gehlen hat die Lektüre der Schriften des amerikanischen Pragmatismus, insbesondere deren Handlungslehre, als wichtigsten Anstoß beschrieben, die Philosophie nicht mehr als Metaphysik, sondern als Erfahrungswissenschaft zu betreiben. Er löste sich damit auch von einem seiner Lehrmeister, Max Scheler, dessen Philosophische Anthropologie noch ganz metaphysisch ausgerichtet war.
Gehlen wollte den Menschen zum eigentlichen, zentralen Thema der Philosophie erheben, was nur gelingen könne, wenn man dem »Zwang« entgehe, »über ihn hinauszufragen«. Die Fragestellung muß beim Menschen so ansetzen, daß unlösbare Probleme, wie das Leib-Seele-Problem, nicht das Zentrum bilden. Gehlen sah daher in der »Handlung« das menschliche Schlüsselphänomen, von dem aus sowohl die psychische als auch die physische Seite des Menschen erhellt werden könne.
Mit dieser »empirischen Philosophie« rehabilitiert Gehlen die Erfahrung, die bis dahin als Empirie der Metaphysik untergeordnet wurde. Gehlen faßt den Begriff der Erfahrung dazu ganz lebenspraktisch im Sinne der »Lebenserfahrung« auf, die dafür sorge, daß der erfahrene Mensch den Lebenssituationen nicht unterworfen, sondern gewachsen sei. (EL)
KULTURSCHWELLE
Wenn, so schreibt Gehlen in seiner Diagnose Die Seele im technischen Zeitalter (1949), die Menschheit eine »absolute Kulturschwelle« betrete, »werden die bisher gültigen geschichtlichen Rhythmen durch eine qualitativ einzigartige Ereignisreihe überlagert. Das heißt: kein Sektor der Kultur und kein Nerv im Menschen wird von dieser Transformation unergriffen bleiben.«
Nichts wird mehr so sein, wie es war, weil ein neues Ordnungsprinzip, eine nie dagewesene Zugriffsmöglichkeit Verhaltensweisen Raum zu bieten beginnt, die zuvor nicht denkbar waren. Nach Gehlen war dies bisher nur zweimal in der Geschichte der Menschheit der Fall: erstens im Übergang von der Jäger- zur Ackerbaugesellschaft, also vom nomadischen zum seßhaften Leben, das eine völlig andere Weise von Dauer, Pflege, Kultivierung, Inbesitznahme, Verteidigung und Ausdifferenzierung zur Folge hatte.
Zweitens im Übergang zum »Industrialismus«, den Gehlen durch den Zugriff auf anorganische Kräfte gekennzeichnet sieht, durch einen energetischen Zustrom in unser Leben und unser Verwirklichungspotential also, der erst seit gut 200 Jahren erfolgt und mit der Erschließung von Öl, Gas und Kernkraft einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Was früher an Mannstunden und Pferdekräften vorhanden war und aus dem Anbau von Nahrung in Form gehalten werden mußte, wird heute durch Energieträger ersetzt, die spielend Hunderttausende Tagwerke ersetzen.
Daß dies zunächst im Rahmen einer über Jahrhunderte erworbenen, kultivierenden Vorsicht und Vernunft eingesetzt wurde und zu einem aus der Seßhaftigkeit herrührenden kulturellen Sprung führte, beschreibt Gehlen ebenso wie die Fahrlässigkeit und die Vernutzung, die je länger, je stärker um sich griffen und greifen. Jedoch läßt er sich nicht auf eine rückwärtsgewandte und damit wirkungslos-rührselige Kulturkritik ein – er weist sie sogar spöttelnd zurück, denn sie habe nichts auszurichten gegen die entbindenden, aus-lösenden Kräfte, die sich selbst »als Freiheit, als Eröffnung neuer Horizonte, als Flug aus dem Käfig empfinden müssen«.
Aber natürlich teilt Gehlen auch den Optimismus der von allen Hemmungen und Bindungen Emanzipierten nicht. Vielmehr sei es unmöglich, »anzugeben, was in diesem Feuer verbrennen wird, was umgeschmolzen und was sich als widerstehend erweisen wird.«
Wir leben also in einer Übergangszeit. Zweierlei wollte man Gehlen aber doch fragen: Würde er den Sprung in die digitale Welt bereits als nächste Kulturschwelle bezeichnen oder gehört er als Ausformung noch in den »Industrialismus«? Und zweitens: Was kam mit Christus in die Welt? Für jeden Gläubigen ist doch durch ihn nichts mehr so, wie es zuvor war. Aber das ist wohl eine Kategorie, die nicht in die Erfahrungswissenschaften eingespeist werden kann. (GK)
INSTITUTIONEN
Bei Gehlens Beschreibung des Menschen als eines instinktunsicheren Wesens, das unter Antriebsüberschuß leidet, blieb zunächst die Frage unbeantwortet, wie der Mensch es schafft, nicht nur sein Leben zu führen, sondern auch seine objektive Kultur, die Sitten und die Traditionen, weiterzugeben. Die klassische Antwort der Religion, bei Gehlen zunächst als »oberste Führungssysteme« bezeichnet, konnte ihn schon bald selbst nicht mehr überzeugen, weil unklar blieb, wie die religiöse Vorstellungskraft in der Lage sein soll, die fehlenden Instinkte des Menschen zu ersetzen.
Die Antwort, die Gehlen schließlich 1956 in Urmensch und Spätkultur präsentierte, lautete: Es sind die Institutionen, die den Menschen wie eine zweite Natur umgeben und dafür sorgen, daß sein Verhalten in bestimmten Bahnen verläuft und sich nicht im Anarchismus verliert. Sie geben ihm die Sicherheit des Verhaltens, indem sie sich als gesellschaftlich sanktionierte Verhaltensmuster etablieren, die für alle Angehörigen einer Kultur verbindlich sind. Sie bedeuten für den weltoffenen Menschen zudem Entlastung von vielen Entscheidungen, die er jetzt nicht mehr selbst treffen muß, sondern die bereits für ihn getroffen wurden. Institutionen sind »die Formen, die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affektüberlastetes Wesen findet, um sich gegenseitig und sich selbst zu ertragen, etwas, worauf man in sich und den anderen zählen und sich verlassen kann«.
Sie üben dabei natürlich Macht über den Menschen aus und schematisieren ihn, was immer wieder zur Infragestellung und Sprengung von Institutionen führte. Gehlen weist aber darauf hin, daß die Entlastungsfunktion der Institutionen dafür sorgt, daß beim Menschen Energiereserven freigesetzt werden, um innerhalb der institutionell vorgegebenen Umstände seine Persönlichkeit unter Beweis zu stellen. Die Alternative ist der »Subjektivismus«, der dazu führt, daß der Mensch mangels verbindlicher Institutionen sein »noch vorhandenes Inneres« zur allgemeinen Gültigkeit erhöht.
»Nie waren die Menschen entschiedener als heute auf die geringen Reserven ihrer zufälligen Voreigenschaften zurückgeworfen, nie waren diese Reserven stärker beansprucht und folglich in eben diesem Zustande verletzbarer.« (EL)
GEWOHNHEIT
Arnold Gehlen beginnt seinen frühen lebensphilosophischen Essay Reflexionen über die Gewohnheit (1927) mit der Beschreibung eines Wimpertierchens, das bei einem Berührungsreiz zunächst Rückzugsverhalten zeigt, bei Wiederholung des Reizes allerdings darin nachläßt. Belästigt man diesen Stentor notorisch, zum Beispiel durch stetes Einrieseln von Fremdkörpern in den Heuaufguß, in dem das Tierchen lebt, zeigt es erst den üblichen kurzen Rückzug, dann Selbstschutz durch Einstülpung und schließlich hektische Flucht.
Mit diesem Beispiel aus der Tierverhaltensforschung will Gehlen darauf hinweisen, daß Wiederholung sowohl in ihrer primitivsten Anlage beim Tier als auch in den höchsten Formen menschlicher Geistigkeit eine Doppelgestalt trägt: »Im Wiederholten gewahre ich zwei Absichten: das Beharrende, das Identisch-sein-Wollende, das Selbst-sein-Wollende, das, was sich durchsetzt –; dagegen das Vorwärtstreibende, In-Eins-Setzende, Verwandelnde, Umwechselnde und Bezaubernde: die große Kategorie ἀλλοίωσις, Übergang.« (Reflexionen über die Gewohnheit, S. 101)
In gewisser Weise kann man die Gewohnheit (das Wiederholungsverhalten aller Wesen) als diejenige Kategorie der Gehlenschen Anthropologie verstehen, auf der alles Spätere beruht: sein Freiheitsbegriff, seine Institutionenlehre, seine Moralkritik. Immer geht es ihm einerseits um die Beharrungstendenz (der Institutionen, der Kreatürlichkeit des Menschen, der notwendig konservativ-stabilisierenden Strukturen der Existenz), andererseits um die Fortschrittstendenz, die diese nicht erhalten, sondern überformen will.
Es existiert mithin nichts den Menschen Bestimmendes, dem nicht diese Doppelfigur der Wiederholung innewohnt. Insofern hebt sich Gehlen sowohl von denjenigen seiner philosophischen Vorgänger ab, die das große Lob der Gewohnheit anstimmten (von Aristoteles und Descartes über Bacon bis zu Kant in seiner Anthropologie), als auch von denjenigen, die unter menschlicher Freiheit die Überschreitung des alten Satzes »Der Mensch ist ein Gewohnheitstier« verstanden (Platon, Thomas von Aquin, die deutschen Idealisten, Kant in seiner Vernunftethik).
Gehlens Anthropologie läßt sich mit Hilfe seiner frühen Gewohnheitstheorie als existentielle Aufgespanntheit des Menschen zwischen den Polen Stabilität und Wandel verstehen. (CS)
ASKESE
Ließ sich oben anhand des Begriffs der »Gewohnheit« das Zwiegespann aus Beharrungs- und Fortschrittstendenz in allem Menschlichen zeigen, so ergibt sich für den Gehlen-Leser irgendwann die Frage, was für eine Existenzweise dem Anthropologen eigentlich vorschwebt, in der die Entfremdung (Fortschrittstendenz) den Menschen nicht wieder so weit entlastet, daß er zurückfällt ins Tierische (Beharrungstendenz). Gesamtgesellschaftlich liegt Gehlens Antwort in seiner Institutionenlehre vor. Doch auch Institutionen können zu starren Gehäusen kristallisieren und die Freiheit des Menschen ab einem gewissen Grad der Übergriffigkeit empfindlich einschränken oder sogar unmöglich machen. Solche Zustände hat jeder Kritiker des »Corona-Maßnahmenstaats« unlängst am eigenen Leibe und an der eigenen Seele erfahren können.
Worin liegt die Freiheit des Menschen, der sich nicht von Institutionen »verbrennen lassen« will? Gehlens geniale Antwort lautet, im selben sprachlichen Bild bleibend: Die Freiheit eines solchen Menschen liegt darin, sich selbst zu verbrennen. Diesem Gedanken liegt eine drei Jahrtausende alte Tradition der antiken und christlichen Askese-Vorstellungen zugrunde. Unter »Askese« versteht Gehlen an einer Stelle lapidar, »daß man sich zunächst einmal mindestens von dem ausschließt, was Bergson den allgemeinen Wettlauf nach dem Wohlleben nannte.«
Die oben zitierte »zunehmende Entlastung von der Arbeit, weil der Druck der Not nachläßt«, führt nämlich notwendig zu allgemeinem Wettlauf nach dem Wohlleben. An einem linken Kultur (!)zentrum las ich vor ein paar Jahren ein Plakat mit der Aufschrift: »Privilegien für alle«. Der Asket verordnet sich selbst – aus freien Stücken, eben: weil er Mensch ist und nicht Tier, weil er kann und nicht muß – einen Selbstausschluß vom Wohlleben.
Die asketische Lebensform ist für Gehlen schließlich die (einzige?) wirklich widerständige Lebensform: »Schon in dieser Form nämlich, als disciplina und stimulans, als Konzentration geistiger und willentlicher Selbstkontrolle, wäre die Askese gefährlich zu leben und der gemeinsamen Gegnerschaft des Kapitalismus und des Kommunismus sicher, die ja in dem einen Punkte: Wettlauf nach dem Wohlleben oder, um es vornehmer auszudrücken, Hebung des Lebensstandards, völlig übereinstimmen.« (CS)
MÄNGELWESEN
Die Beschreibung des Menschen als »Mängelwesen« gehört zu den bekanntesten Begriffen, die Gehlen geprägt hat. Das hat zum einen mit dem vordergründigen Paradoxon zu tun, das darin liegt, die Krone der Schöpfung nicht im Hinblick auf Gott, sondern auf die Tierwelt als Mängelwesen zu charakterisieren. Zum anderen bildet dieser Begriff wie kaum ein zweiter den Anspruch des Menschen ab, sich immer weiter selbst zu vervollkommnen. Wäre er kein Mängelwesen, gäbe es auch nichts zu verbessern, zu trainieren, zu erlernen.
Gehlen hat diesen Begriff in seinem Hauptwerk Der Mensch (1940) auf Grundlage der Forschung zur Umwelt der Tiere, insbesondere von Jakob von Uexküll, entwickelt. Der hatte ausgerechnet am Beispiel der Zecke gezeigt, daß jede Tierart ihre eigene artspezifische Umwelt hat, auf deren Bewältigung sie spezialisiert ist. Schon dieses Beispiel beweise, so Gehlen, »die Harmonie zwischen dem organischen Bau des Tieres […], zwischen seiner Umwelt […] und seiner Lebensweise, seinen Lebensumständen«.
Im Gegensatz zu Uexküll, der diesen Umweltbegriff auf den Menschen übertrug, ohne dabei dessen erworbene Eigenschaften zu berücksichtigen, betont Gehlen, daß der Mensch keine Umwelt, sondern eine »zweite Natur«, die Kultur, habe. Sie ist das Ergebnis der mangelhaften Ausstattung des Menschen, die ihn dazu zwingt, seine Umwelt handelnd zu bewältigen und so die Kultur zu schaffen. Gehlen verweist dabei auf Johann Gottfried Herder als Vorläufer seiner Theorie. Dieser habe zum einen gesehen, daß der Mensch den Tieren in der »angeborenen Kunstfähigkeit« nachstehe, und zum anderen die biologische Hilflosigkeit bereits als Ursache des »Charakters der Menschheit« erkannt. Dessen wesentlichen Ausdruck, die Sprache, beschreibt Herder als einen »aus der Mitte dieser Mängel« entstehenden Ersatz. (EL)
ENTFREMDUNG
Der Begriff der »Entfremdung« ist der Kernbegriff der Marxschen Theoriebildung schlechthin. Darunter verstand Karl Marx den Zwang des Menschen, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen und sich auf diese Weise von den menschengemäßen, natürlichen Bedingungen der Arbeit zu entfremden. Der entfremdete Mensch erhält Lohn für Fron. Durch entfremdende Produktionsverhältnisse verliert er den unmittelbaren Zugang sowohl zu den Produkten seiner Arbeit als auch zu seinen Mitmenschen.
Arnold Gehlen stellt in seinem Essay mit dem provokativen Titel Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung (1952) eine vehemente Gegenthese zu Marx auf: Es ist just diese Entfremdung des Menschen von der Arbeit und von sich selbst, die den Menschen erst zum Menschen macht. Nicht erst der ausgebeutete Industriearbeiter der Moderne ist »entfremdet« von seiner Natur und von den von ihm hergestellten Gegenständen. Der Mensch als solcher ist immer schon ein Sich-selbst-Entfremdender, insofern er die Natur überformt, sich von ihr emanzipiert und dadurch ein Kulturwesen wird.
Erst in der Entfremdung, nicht etwa in einem von Marx und all seinen Schülern imaginierten Naturzustand, kommt der Mensch zu sich selbst. Er entlastet sich durch Werkzeuggebrauch, durch Arbeitsteilung, durch soziale Rollen, die zu Institutionen gerinnen, von der Mühsal des »unmittelbaren« Daseins. Erst dadurch wird der Mensch in einem existentiellen Sinne frei, und das bedeutet imstande, über die Notdurft hinauszublicken und komplexe soziale Systeme zu erschaffen, imstande, überhaupt erst Kultur im Sinne von »Hochkulturen« und im Sinne von »Kunst« zu stiften. »So werden wenigstens die Menschen von ihren eigenen Schöpfungen verbrannt und konsumiert und nicht von der rohen Natur, wie Tiere«, resümiert Gehlen. Auf die Frage, welche Personen denn seiner Ansicht nach von Institutionen verbrannt werden, antwortete Gehlen einmal: Politiker, Ärzte und Hausfrauen.
Denn, dies blieb Gehlen nicht verborgen, die Entfremdung kennt auch eine Kehrseite. Sie liegt allerdings nicht da, wo Marx sie verortet hat, nämlich in der abstrakten Deklassierung des Proletariats oder dem anschaulichen Elend des Fließbandarbeiters, sondern gerade in der Entlastungsfunktion selbst. »Liegt es so, dann ist die zunehmende Entlastung von der Arbeit, weil der Druck der Not nachläßt, allerdings gefährlich: vielleicht wieder ein Schritt vorwärts auf dem Weg der Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit« (Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie, 1952).
Allzu große Entfremdung bringt allzu große Entlastung mit sich: Der Mensch wird, auf deutsch gesagt, faul. Gehlen hätte einem »bedingungslosen Grundeinkommen«, das heutigen Marxisten fast als Vorgeschmack des Paradieses erscheint, eine radikale Absage erteilt. Entfremdung durch Arbeit muß sein, andernfalls fällt der Mensch auf den Stand des Tieres zurück. Die spezifisch menschliche Kultur ist freilich stets bedroht, in »Enthemmung einer fürchterlichen Natürlichkeit« umzukippen.
Wen diese Denkbewegungen an Hegel oder an die Dialektik der Aufklärung der Marxisten Adorno und Horkheimer erinnert, der liegt goldrichtig. Gehlens Entfremdungstheorie hat mit ihnen das Umschlagsmoment gemeinsam, grundverschieden sind sie hinsichtlich der Bewertung des natürlichen, nichtentfremdeten Daseins. (CS)
PERSÖNLICHKEIT
»Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.« Dieser seltsame Satz steht samt Kursivierung am Schluß des erfolgreichsten Buches aus der Feder Gehlens: Die bereits erwähnte Schrift Die Seele im technischen Zeitalter deutet damit zuletzt bei aller Nüchternheit und Unbestechlichkeit in Zugriff und Ton eine Verhaltenslehre an. Denn gerade weil Gehlen für Technikkritik an sich und für das engagiert, pathetisch, aber folgenlos vorgetragene Lamento besonders wenig übrig hatte, konnte er sehr klar die Folgen der Mühelosigkeit und der überbordenden Konsummöglichkeit bei wachsender Anspruchshaltung für die Ausgestaltung der Persönlichkeit wahrnehmen und beschreiben.
Gehlen geht von einem Subtilitätsverlust aus, von einer Verflachung und einer angepaßten Subjektivierung. Schlagend ist, wenn er die »bunteste, partikulare Vielfalt urwüchsiger Institutionen« früherer Epochen dem gegenüberstellt, was sich heute darbietet: »Von drei Menschen, die in demselben Volkswagen fahren, die denselben Konfektionsanzug tragen, kann der eine Existentialist und Sartreanhänger, der andere gläubiger Katholik sein und der dritte nur Kriminalromane lesen«, während früher viele Menschen »Bündel komplizierter, wandelnder Privilegien« waren, »die Kasuistik der Standesunterschiede ins Unendliche entwickelt« wirkte, während zugleich die Weltanschauung »sogar in großen Zügen völlig gleich« gewesen sei.
Gehlen leitet die Ausformung von Persönlichkeit aus solchen Festlegungen und Bindungen ab und stellt, auf der Kulturschwelle stehend, natürlich die Frage, woher und auf welchem Boden heute eine Persönlichkeit gedeihen könne. Denn stets seien Persönlichkeiten Produkte der Institutionen (und des Kampfes in und mit ihnen) gewesen. In solchen Überlegungen steckt die Überzeugung, daß es ohne Bindung, Bändigung, Gehorsam, Pflichterfüllung und zuletzt selbständiger Rahmenerweiterung nicht zur vollen Entwicklung der Möglichkeiten in einer Person komme.
Weil aber die großen Ordnungen abgeräumt sind, könnten der Persönlichkeit zweierlei Aufgaben zuwachsen: zum einen, die große Ordnung selbst zu repräsentieren, also exemplarisch und sichtbar zu verwirklichen; zum anderen, standzuhalten und das zu tradieren, was unangepaßt quer zur subjektiven Formlosigkeit liege. In beiden Fällen, die sowieso eine Schnittmenge bilden, ersetzt die Persönlichkeit jene Institution, aus der sie eigentlich erwachsen sollte – ein bewußter Vorgang, ein »Trotz alledem«, als Aufgabe vielleicht erleichtert durch einen Schuß Selbstironie. (GK)