Ebenbild Gottes

von Moritz Scholtysik -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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In der Moder­ne hat sich als bestim­men­des Prin­zip die Auto­no­mie durch­ge­setzt. Pro­por­tio­nal zur zuneh­men­den tech­no­lo­gi­schen Mach­bar­keit wer­den immer mehr Bin­dun­gen des Men­schen in Fra­ge gestellt und gekappt. Der Pro­zeß die­ser ver­meint­li­chen Selbst­be­frei­ung und ‑bestim­mung hat sei­nen vor­läu­fi­gen Höhe­punkt damit erreicht, zu glau­ben, man kön­ne über Gene, Geschlecht, Eth­nie und sogar über das Mensch-Sein an sich entscheiden.

Im radi­ka­len Gegen­satz zum auto­no­men Men­schen steht der Mensch als Eben­bild Got­tes (ima­go Dei): »Las­set uns den Men­schen machen nach unse­rem Bil­de und unse­rer Ähn­lich­keit, und er herr­sche über die Fische des Mee­res, und über die Vögel des Him­mels, und über alles krie­chen­de Getier, das sich auf Erden regt. Und Gott schuf den Men­schen nach sei­nem Bil­de; nach dem Bil­de Got­tes schuf er ihn, als Mann und Weib erschuf er sie« (Gene­sis 1,26 f.). Die­se bekann­ten Ver­se aus dem bibli­schen Schöp­fungs­be­richt ist die grund­le­gen­de Aus­sa­ge der christ­li­chen Anthro­po­lo­gie, die auch Theo­lo­gie, Sozio­lo­gie und Ethik ist.

Es ist offen­kun­dig, daß der Mensch als Eben­bild Got­tes mehr sein muß als bio­lo­gi­sche Ver­fü­gungs­mas­se oder Mit­tel zur hedo­nis­ti­schen Lust­ma­xi­mie­rung. Im Gegen­teil: Der Mensch nimmt in dem von Gott geschaf­fe­nen, hier­ar­chisch geglie­der­ten Kos­mos eine ein­zig­ar­ti­ge Stel­lung ein, da er eine Ein­heit aus sterb­li­chem Leib und unsterb­li­cher See­le bil­det, die nach Tho­mas von Aquin in einer Wech­sel­be­zie­hung zuein­an­der stehen.

Wäh­rend der mate­ri­el­le Leib den Men­schen mit den Tie­ren ver­bin­det, besteht die Gemein­sam­keit mit den Engeln, gar mit Gott selbst, in der imma­te­ri­el­len See­le, erklärt Augus­ti­nus. Am letz­ten Schöp­fungs­tag formt Gott den Leib aus dem Staub der Erde und bläst ihm mit der See­le den Atem des Lebens ein (Gene­sis 2,7). Gott, der in sei­ner Drei­fal­tig­keit ein per­sön­li­cher Gott ist, schafft mit der Ein­heit von Leib und See­le den Men­schen als Per­son und stellt von Beginn an eine wesen­haf­te Bezie­hung zwi­schen Schöp­fer und Geschöpf her. In Gott fin­det daher die inhä­ren­te Wür­de einer Per­son ihre Begründung.

Das Per­son-Sein des Men­schen »kün­det von einem Adel, der in Got­tes sicht­ba­rer Schöp­fung schlech­ter­dings ein­ma­lig ist, und von einer inne­ren Kraft des Han­delns, die sich in all unse­rem Tun und Las­sen aus­wir­ken soll« (Eber­hard Wel­ty). Aus die­sem Adel des Men­schen inner­halb der Schöp­fungs­ord­nung lei­ten sich nicht nur natür­li­che Rech­te ab, son­dern zual­ler­erst natür­li­che Pflich­ten. Es ver­bie­tet sich, das Per­son-Sein des Men­schen anzu­grei­fen, indem man ihn etwa im Zuge einer Abtrei­bung auf einen wert­lo­sen »Zell­hau­fen« redu­ziert oder ihm in einem tota­li­tä­ren Staat Eigen­ver­ant­wor­tung und Selb­stän­dig­keit nimmt.

Indem sei­ne See­le mit den Ver­mö­gen von Ver­nunft und Wil­len aus­ge­stat­tet ist, erhält der Mensch Frei­heit – nicht, um das Böse zu wäh­len, son­dern um »geeig­ne­te Mit­tel den gott­ge­setz­ten Zie­len zuzu­ord­nen« (Wel­ty), das heißt, um Got­tes Wil­len zu erfül­len, der gut ist (Lukas 18,19). Durch die Ver­nunft kann der Mensch das Gute erken­nen, durch den Wil­len kann er das Gute ver­wirk­li­chen. Dar­in, daß also die wah­re Frei­heit in der Umset­zung des Guten besteht, besteht die gleich­zei­ti­ge Unver­ein­bar­keit mit deter­mi­nis­ti­schen und vol­un­t­a­ris­ti­schen Menschenbildern.

Es wird deut­lich, daß der Mensch Ver­ant­wor­tung gegen­über Gott, dem Nächs­ten sowie der gesam­ten Schöp­fung trägt. So wie die drei gött­li­chen Per­so­nen, Vater, Sohn und Hei­li­ger Geist, in Lie­be auf­ein­an­der hin­ge­ord­net sind, so ist auch der Mensch zur Lie­be beru­fen. Die Per­so­na­li­tät des Men­schen umfaßt somit Indi­vi­dua­li­tät und Sozia­li­tät. Der Mensch ent­wi­ckelt sich weder »evo­lu­tio­när« auf eine Gemein­schaft hin, noch ent­schei­det er sich mit­tels eines Gesell­schafts­ver­tra­ges dazu, son­dern er ist im meta­phy­si­schen Sin­ne ein sozia­les Wesen (ani­mal natu­ra­li­ter socia­le). Er strebt danach, sich hin­ge­ben und emp­fan­gen zu können.

Dies gilt sowohl hin­sicht­lich des Schöp­fers als auch des Nächs­ten in Freund­schaft, Ehe, Fami­lie, Volk etc. Mehr noch, der Mensch kann ohne die­se Bezo­gen­heit nicht voll­stän­dig ver­stan­den wer­den. Zwar ist er (nicht im zeit­li­chen Sin­ne) bereits »Per­son« vor der mensch­li­chen Gemein­schaft, jedoch reift er erst in und durch die Gemein­schaft zur »Per­sön­lich­keit«, also zur sitt­lich guten Per­son. Das bedeu­tet, der Mensch ist »kein Wesen, das geschlos­sen in sich stün­de. Er exis­tiert viel­mehr so, daß er über sich hin­aus­geht. Die­ser Hin­aus­gang geschieht schon immer­fort inner­halb der Welt, in den ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu Din­gen, Ideen und Men­schen […]; eigent­li­cher­wei­se geschieht er über die Welt hin­aus auf Gott zu« (Roma­no Guardini).

Aus der christ­li­chen Per­spek­ti­ve kön­nen der indi­vi­du­el­le und der sozia­le Aspekt des Men­schen zwar von­ein­an­der unter­schie­den, aber nicht von­ein­an­der getrennt und gegen­ein­an­der aus­ge­spielt wer­den. Die Ent­schei­dun­gen und die Hand­lun­gen des ein­zel­nen neh­men Ein­fluß auf das Gan­ze und umge­kehrt. Dadurch wird die Dis­kre­panz zu indi­vi­dua­lis­ti­schen und kol­lek­ti­vis­ti­schen Gesell­schafts­ord­nun­gen ver­ständ­lich, die ihrer­seits einen inne­ren Zusam­men­hang besit­zen: Der Indi­vi­dua­lis­mus zer­stört nicht nur Gemein­schaft in ihrem Sein, son­dern iso­liert auch die Per­son und ver­hin­dert somit, daß sie natur­ge­mäß in der Gemein­schaft aufgeht.

Der Kol­lek­ti­vis­mus zer­stört nicht nur die Per­son in ihrer Wür­de, son­dern kann auch kei­ne ech­te Gemein­schaft auf­bau­en, da die­se aus Per­so­nen besteht. Bei­de fin­den vor allem in der Mas­se zuein­an­der: Dabei wer­den ato­mi­sier­te Indi­vi­du­en zur ego­is­ti­schen Befrie­di­gung ihrer Trie­be ver­führt und in der Illu­si­on gehal­ten, soli­da­risch und ver­ant­wor­tungs­voll zu han­deln, was man bei­spiels­wei­se im Zuge der Coro­na-Kri­se beob­ach­ten konnte.

Im Gegen­satz dazu steht eine Gemein­schaft aus frei­en, rei­fen Per­so­nen, die ein gemein­sa­mes, über­ge­ord­ne­tes Ziel ver­fol­gen. Wor­auf auch immer sich das kon­kre­te Ziel bezieht, letzt­lich geht es dar­um, das Gute zu tun. Die treue Übung des Guten ist die Tugend, die zugleich dem ein­zel­nen wie der Ganz­heit zugu­te kommt. Die Tugend ist »Erfül­lung mensch­li­chen Sein­kön­nens – im natür­li­chen und im über­na­tür­li­chen Bereich. Der tugend­haf­te Mensch ›ist‹ so, daß er, aus inners­ter Wesens­nei­gung, durch sein Tun das Gute ver­wirk­licht« (Josef Pie­per). Aris­to­te­les und ­Tho­mas von Aquin ord­nen alle natür­li­chen Tugen­den einer der vier Kar­di­nal­tu­gen­den – Klug­heit, Gerech­tig­keit, Tap­fer­keit und Maß – zu. Die Klug­heit steht dabei an ers­ter Stel­le, da sie als sach­li­che, ver­nunft­ge­mä­ße Betrach­tung und Erkennt­nis der Wirk­lich­keit als Maß­stab für unser Han­deln und damit für die Übung der wei­te­ren Tugen­den dient.

In der Gerech­tig­keit wird das Gute am stärks­ten ver­wirk­licht, da sie unmit­tel­bar unse­re Bezie­hung zu Gott, zum Nächs­ten und zur Gemein­schaft betrifft: »Gerech­tig­keit ist die Hal­tung, kraft derer einer stand­haf­ten und bestän­di­gen Wil­lens einem jeden sein Recht zuer­kennt« (Tho­mas von Aquin: Sum­ma Theo­lo­giae). Durch die Bezie­hungs­haf­tig­keit der Gerech­tig­keit wird ihre Übung zu einer sozia­len Ver­pflich­tung, in der sich das Gemein­wohl ver­wirk­licht, so daß die­se Tugend eine »Seins­voll­endung des Wir« (Pie­per) bewirkt. Die Tap­fer­keit besteht in der Bereit­schaft, sich schüt­zend vor das Gute zu stel­len und dafür zu lei­den oder gar zu ster­ben. Das Maß bedeu­tet die Ord­nung der sinn­li­chen Nei­gun­gen und Lei­den­schaf­ten, die in sich gut sind, jedoch nicht las­ter­haft sein dür­fen, da dies zur Selbst­zer­stö­rung und zum Ver­lust des Rea­li­täts­sin­nes füh­ren würde.

Das christ­li­che Men­schen­bild wäre jedoch kein rea­lis­ti­sches, son­dern ein uto­pi­sches, wenn es nicht berück­sich­ti­gen wür­de, daß die Übung der Tugend allei­ne nicht aus­reicht, um das Gute beharr­lich und kon­ti­nu­ier­lich zu tun. Denn die Natur des Men­schen ist durch den Sün­den­fall (Gene­sis 3) geschwächt und neigt des­halb zum Bösen. Zwar kön­nen etwa Erzie­hung und Kul­tur ent­spre­chen­de Vor­aus­set­zun­gen schaf­fen, um den Men­schen im Guten zu erhal­ten. Zur Hei­lung sei­ner gefal­le­nen Natur und der Gemein­schaft, in die er hin­ein­ge­stellt wur­de, bedarf er jedoch der Gna­de, die ihm der Gott­mensch Jesus Chris­tus durch sei­nen Erlö­ser­tod erwor­ben hat und die ihm durch das Gebet und die Sakra­men­te der Kir­che zuteil wird.

Durch die Gna­de wird der Mensch von der Sün­de befreit und schließ­lich in den mys­ti­schen Leib Chris­ti ein­ge­glie­dert, des­sen Gemein­schaft über den Tod hin­aus besteht. Chris­tus ist dem Men­schen nicht nur zur Errei­chung sei­nes natür­li­chen Ziels not­wen­dig, son­dern viel­mehr selbst das Ziel. In die­ser Hin­sicht ist christ­li­che Anthro­po­lo­gie auch Chris­to­lo­gie. »Jede ande­re Art von Anthro­po­lo­gie ist ledig­lich eine vor­läu­fi­ge Beschrei­bung des Men­schen in sei­nem gefal­le­nen Zustand, das bedeu­tet, daß so eine Anthro­po­lo­gie radi­kal unge­nü­gend ist« (Rémi Brague).

Durch die Über­win­dung der Sün­de in Chris­tus wird die Natur des Men­schen ver­edelt, fin­det die­ser wie­der zu sich selbst und damit zu sei­ner wesen­haf­ten Bezie­hung zu Gott zurück. Die­se über­na­tür­li­che Bezug­nah­me bedeu­tet kei­ne Welt­flucht oder Welt­fremd­heit, son­dern ist letzt­lich die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung für die Wie­der­errich­tung eines Gemein­we­sens, das dem Men­schen gerecht wird.

 

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